The "J..." Word

Orrin Evans ist ein respektierter Pianist. Wer seine Interpretation von "Autumn Leaves" nicht zu eigen hat, sondern auf seiner MySpace-Seite aufruft, erkennt, dass der Modern Mainstream bei ihm in guten Händen ist. Zum Zeitpunkt der Aufnahme, 2001, hatte Evans nichts dagegen, als "Jazz-"Künstler verstanden zu werden, so sah er sich selbst - heute verbittet er sich das. Heute ist er an einem Virus erkrankt, das immer mal wieder seinen Berufsstand heimsucht, und darin insbesondere diejenigen schwarzer Hautfarbe.
Das Virus ruft keine körperlichen Symptome, sondern ausschließlich geistige hervor, es heisst "J..."-Word.
Orrin Evans hat sich bei Nicolas Payton infiziert, und befindet sich in guter Gesellschaft. Schon der besten einer aus seinen Kreisen, Miles Davis, litt nicht nicht nur an mancherlei körperlichen Gebrechen, sondern gelegentlich auch am "J..."-Word: den Begriff "Jazz" für seine Kunst lehnte er ab, es sei ein Wort des weißen Mannes - was ihn freilich nicht davon abhielt, eine seiner erfolgreichsten Produktionen zumindest vom Titel her in der gleichen Region unterhalb des Gürtels anzusiedeln: "Bitches Brew".
Es ist wieder mal so weit, folks, dass der Ursprung des Begriffes für unsere kleine Welt entdeckt wird, allerdings weniger in seiner Erstverwendung als Entsprechung zu "ficken", sondern in seiner Zweitverwendung als rassistische Vokabel:
"So wie damals Schwarze von der Bezeichnung Nigger getroffen waren, glaube ich, dass der Begriff ´Jazz´ den Stil des Spielens betrifft. Ich bin kein Nigger, und ich bin kein Jazzmusiker. ´Jazz´ist ein repressiver, kolonialistischer Sklaven Begriff, und ich will nichts damit zu tun haben." (Orrin Evans gegenüber seiner Heimatzeitung, The Philly Post)
Stimmt. Und klingt, als habe Evans das neue Buch des Grazer Musikethnologen Maximilian Hendler ("Vorgeschichte des Jazz") gelesen, wo er auf Seite 261 betont:
"...daß der Begriff ´Jazz´von seinem Ursprung her weder musikalische noch stilistische, sondern soziale Konnotationen hatte. Er drückte ein abwertendes Urteil der Master-Gesellschaft - der Träger der Suprastruktur - gegenüber allen Erscheinungsformen von Musik aus, die nicht den von ihr gesetzten Normen entsprachen."
Bloss, wie lange ist das her? Gilt nicht seit bald 100 Jahren der Satz von Ludwig Wittgenstein, wonach die Bedeutung eines Begriffes nicht in seinem Ursprung, sondern in seinem Gebrauch liegt, hier also in der Kunstform Jazz?
Die Alternativen, die Orrin Evans ("Black American Music") und Nicolas Payton ("Postmodern New Orleans music") vorschlagen, sind kleinzellig, und geradezu albern die Begründung für die Ablehnung des alten Begriffes, wie sie der Reporter der Philly Post auf eine Konferenz in New York gehört hat, wonach "die schwarzen Zuhörer sich zu großen Teilen vom Genre abgewandt haben, wegen des Wortes selbst" - des Wortes "Jazz".
Vielleicht erübrigt das Goethe Institut New York ein paar Dollar, um für Evans, Payton & Co. einige wenige weitere Zeilen aus dem Buch des guten Hendler zu übersetzen. Sie würden freilich nicht froh damit, der schwarze Mutterboden würde sich auftun vor ihnen:
"In globaler Betrachtung ist keines der als jazzspezfisch geltenden Elemente wirklich jazzspezifisch."
Es kommt noch doller, Hendler sagt: "...daß entscheidende Definentia des Jazz westlicher Herkunft sind".
Auch der schöne Ersatzgedanke von der afro-amerikanischen Musik hat bei ihm wenig Bestand.

©Michael Rüsenberg, 2012. Alle Rechte vorbehalten