Dialektik der Aufklärung

These: Keith Jarrett ist gut.
Vielen, wenn nicht den meisten, gilt er als der Jazzpianist schlechthin.
Kritik an Jarrett gilt selten seinen künstlerischen Hervorbringungen, sondern seinem eigenwilligen Bühnenverhalten, vulgo: seiner nicht selten geäußerten Publikumsverachtung.

Antithese: Keith Jarrett ist schlecht.
MatthewShipp 315 313auto s c1Na, so holzschnittartig argumentiert Matthew Ship nicht, Jazzpianist mit einem auch nicht andeutungsweise so großen Ruf wie Jarrett. Auf einer Webseite, wo Künstler Künstler rezensieren, nimmt er sich Jarrett´s jüngstes Album vor, „Somewhere“.

Er habe, leitet Ship seine Rezension ein, hart daran gearbeitet, die Position nachzuvollziehen, „die Keith Jarrett´s Musik in der Hierarchie der Jazzindustrie einnimmt“ (er sagt tatsachlich „Jazzindustrie“).
Weiter: „Mir ist immer schon das riesige Ausmass an Prätention aufgefallen, das sein ganzes Universum umgibt. Natürlich kann er was, und manchmal klingt er auch inspiriert. Aber ich kann einfach nicht diese vielen Schichten des Prätentiösen überwinden.
Ich hab´s versucht. Und vielleicht geht es nur mir so.“

Matthew Ship ist Afro-Amerikaner, das leitet seine Argumentation ganz wesentlich, z.B. wenn er den „unglaublichen Status“ beklagt, der dem Jarrett Trio von „weissen Jazzkritikern mittleren Alters“ zugeschrieben worden sei: „Ich kann einfach nicht nachvollziehen, warum dieses Trio, wenn es Standards spielt, moderner und dynamischer sein soll als eine Vielzahl von afro-amerikanischen Pianisten, die mir einfallen.“ Und als ersten von etlichen führt Ship Joe Sample an.
„Somewhere“ repräsentiert für ihn ein „altmodisches Trio Konzept“. Schlimmer noch, es sei nicht mal auf dem Niveau seiner Vorgänger, etwa Bill Evans/Scott LaFaro/Paul Motian Anfang der 60er oder Paul Bley 1963 bei Sonny Rollins und Coleman Hawkins auf „Sonny meets Hawk“ - Bleys Arbeit dort sei eine Schablone für vieles an Jarrett´s Jazz-Technik heute (hier verlässt Ship das afro-amerikanische Fundament seiner Kritik).
Aber klar, uptempo könne Jarrett ganz schön loslegen und z.B. Harmonien aus ziemlich schrägen Perspektiven angehen. Aber mit seiner Phrasierung könne er nun mal nichts anfangen, im Gegensatz zu den Phrasierungen von Bud Powell, Thelonious Monk, Hampton Hawes oder Phineas Newborn jr, und in pucto vamps geht für ihn gar nichts über Mal Waldron (wiederum sehr afro-amerikanisch bewertet).
Kurzum: es gebe ein paar schöne Stellen auf „Somewhere“, obwohl in seinen Ohren manches als „verwaschenes Muzak“ ankommt (Muzak = historische Firma für Hintergrundmusik).

Synthese: Keith Jarrett ist gut - sollte aber die Finger von Benny Golson lassen!
Ethan IversonWas für ein Riesenspass, Matthew Ship auf The Talkhouse zu lesen, entgegnet Ethan Iverson. Er ist Pianist bei The Bad Plus und betreibt den famosen Blog Do The Math. Keith Jarrett sei einfach ein solcher Fels in der Landschaft, dass Kritik daran unumgänglich sei (und er erinnert daran, dass Matthew Ship sich vor geraumer Zeit Wayne Shorter und Herbie Hancock ähnlich vorgeknüpft habe).
Zunächst betont Iverson das Offenkundige, nämlich dass Keith Jarrett eine eigene Sprache habe: „Man kann irgendwo eine Platte von ihm hören (wo er improvisiert) und weiss sofort, das ist Keith“.
Dann stellt er heraus, dass Jarrett bei der genannten Kritiker-Kaste keineswegs so gute Karten habe, andererseits: „Angenommen alle diese Kritiker hätten kein einziges Wort über Keith geschrieben - seine Konzerte wären gleichwohl ausverkauft.“ Wann immer er seine Schwiegermutter besuche - das „Köln Concert“ liefe: „Hey, das ist mir nicht das liebste von Keith, aber es hat was, was die Leute berührt.“
Am überzeugendsten findet er Ship dort, wo er Jarrett mit der alten Garde vergleicht: „Ich stimme zu: wenn Keith sich Bebop aneignet, fehlt etwas, insbesondere in den letzten Jahren. Vielleicht sollte sich Keith von Komponisten wie Benny Golson komplett fernhalten. Ganz ähnlich, wenn er heute einen einfachen Boogie Woogie Blues spielt - das passt meines Erachtens auch nicht. Was ich von Keith hören will, sind diese sphärischen, atonalen Rhapsodien“.
Schreibt´s und verspricht, jetzt aber wirklich mal genauer Joe Sample zu hören.

erstellt: 07.08.13
©Michael Rüsenberg, 2013. Alle Rechte vorbehalten