MIROSLAV VITOUS Music of Weather Report *******

01. Scarlet Woman Variations (Johnson, Shorter, Zawinul/Vitous), 02. Seventh Arrow (Vitous), 03. Multi Dimension Blues 2, 04. Birdland Variations (Zawinul, Vitous), 05. Multi Dimension Blues 1 (Virtuos), 06. Pinocchio (Wayne Shorter), 07. Acrobat Issues (Vitous), 08. Scarlet Reflections, 09. Multi Dimension Blues 3, 10. Morning Lake



Miroslav Vituos - b, keyb, Gary Campbell - ss, ts, Roberto Bonisolo - ss, ts, Aydin Esen - keyb, Gerald Cleaver - dr, Nasheet Waits - dr

rec. 03+05/2010, 02+03/2011

ECM Records 2364 3772956

Die Ära Weather Report lässt ihn nicht los.
Und man kann es dem 1947 in Prag geborenen Bassisten nicht verdenken. Er gehörte 1970 zu den Gründungsmitgliedern, 1973 erklagte er sich eine Ausstiegssumme.
Ihm folgte der erste „elektrische“ Bassist (Alphonso Johnson) der Bandgeschichte, und der oberste Wettermann, Josef Zawinul (1932-2007), begann, seinen elektronischen Fuhrpark aufzustocken. (Vorher hatte er, neben dem „akustischen“ Piano, lediglich elektro-akustisch in die Tasten gegriffen, in das Fender Rhodes Electro Piano.)
Die Musik wurde funky, richtig funky.
Sie war auch vorher schon binär, nämlich rockig, sie zehrte genau so aber von den Errungenschaft des Postbop, also swing in allen Formen bis zur Auflösung des Metrums, überwiegend in den Händen des großartigen Eric Gravatt (dessen Beitrag zur Jazzgeschichte absurd kurz ist, der nach über 20 Jahren als Gefängniswärter als Rentner in Philadelphia lebt; eine Eloge auf Gravatt durch den Bad Plus-Schlagzeuger Dave King hier)
Nach „Remembering Weather Report“ (2009) kehrt Miroslav Virtuos zum zweiten Male zu Weather Report zurück. Und man kann diese Musik nicht hören, ohne an Gravatt zu denken - nur sind es nunmehr zwei Drummer (der von Virtuos oft beschäftigte Gerald Cleaver sowie Nasheet Waits), die das schöne große Feld im Sinne ihres Vorgängers bestellen.
cover vitous wrDas geht hin bis zum „Specht“, die für die damalige Zeit typischen, auf dem Rand der snare drum mit wenig Aufwand geschlagenen rimshots („z.B. in „Birdland Variations“).
Dass er mit „Birdland“ (1977) den größten Hit von Weather Report aus der Zeit nach ihm aufgreift, zeigt, dass er zumindest inhaltlich dieser Periode nicht gram ist.
Auch der Einstieg „Scarlet Woman Variations“ bezieht sich auf eine post-Vitous-Ausgabe der Band. Vitous jongliert mit Versatzstücken der Komposition, es reichen Fragmente, um den Kontext zu beschreiben.
Das gilt umso mehr für „Birdland“; im Gegensatz zu „Scarlet…“, wo er sich auf rubato beschränkt, entfaltet er dort die ganze rhythmische Pracht seiner Band. Beat klingt an, aber auch viel nicht-Beat.

Vitous reisst die melodische Fragmente aus dem Zusammenhang (die viele ohnehin nachsingen können) und lasst sie in anderer Reihenfolge aufscheinen.
Keine Überraschung auch, dass sein Markenzeichen auf dem Kontrabass, ein gestrichener Ton, ein drahtiges arco, das das Original nicht kennt, vortrefflich passt. Die riffs und Vamps aus „Birdland“ würden auch den Zugriff einer singenden Säge überstehen.
Nicht unähnlich Wayne Shorters „Pinocchio“ (1967 für Miles Davis´ „Nefertiti“, 1978 auf Weather Reports „Mr. Gone“): Vitous´ arco, mit WhaWha-Filter modifiziert, leitet das Stück ein. Es orientiert sich sehr lose am Charakter des Originals als eines „drum concerto“ (seinerzeit für Tony Williams).
Hier und im folgenden „Acrobat Issues“ (das WR seinerzeit gespielt, aber nicht aufgenommen haben sollen) hat Aydin Esen, der türkische Keyboarder, seine großen Momente, auf dem E-Piano.
Die schwebenden, offenen Akkorde, der intervenierende Kontrabass, noch dazu eine Stimmung, die an „In a silent Way“ (1969) gemahnt, sie klingen auf herrliche Weise retro, sie verweisen auf die ersten großen Alben des tschechischen Bassisten in Amerika, „Infinite Search“ und „Purple“, an der Schwelle der 60er zu den 70er Jahren.
„Scarlet Reflections“ greift noch einmal, nun wieder Tempo rubato, das Sopran-Thema von Wayne Shorter auf, der Bass kommt dazu, als sei dieses Stück in den Jahren 1970-1973 entstanden.
Tatsächlich aus dieser Zeit, nämlich aus dem Debüt von Weather Report, stammt das Schlussstück „Morning Lake“; es ist eine sehr hall-verräumlichte Reminiszenz, die in einem Gewitter endet. Wortwörtlich.
Miroslav Vitous schreibt dazu, es wäre „wie gerufen“ in die Aufnahme hineingeplatzt. Jedenfalls haben er und seine Kollegen darauf reagiert und das Spiel sehr reduziert. Wobei wir nicht annehmen, dass sie das Gedonnere so gehört haben, wie es hier erklingt - sondern dass man ein Klangarchiv-Gewitter später hereingeschniten hat.
Ein stimmiger Abschluss für die Wiederaufnahme eines alten Wetterberichtes.

erstellt: 04.08.16
©Michael Rüsenberg, 2016. Alle Rechte vorbehalten