TED GIOIA
Jazz hören - Jazz verstehen
207 Seiten, 24.95 Euro
Leipzig, 2017: Henschel-Bärenreiter
ISBN 3-89487-948-3



Ted Gioia hat unter europäischen Jazz-Philosophen keine guten Karten.
Daniel Martin Feige und Alessandro Bertinetto halten wenig bis gar nichts von seiner 1988 entwickelten These, den Jazz als eine Ästhetik des Unvollkommenen zu verstehen. Feige räumt ein, dass er „Gioias historische Arbeiten insgesamt für außerordentlich verdienstvoll halte“, aber: „Seine theoretischen Überlegungen können damit nun leider nicht Schritt halten.“ (2014)
Ein solches Vorecho schafft besondere Voraussetzungen für die Lektüre des jüngsten Werkes des 1957 geborenen amerikanischen Pianisten und Musikwissenschaftlers, der Mitbegründer des Jazz-Studienprogrammes an der Universität Stanford sein und schon zehn Bücher veröffentlicht haben will, u.a. „The History of Jazz“.
Das Verdikt der beiden Philosophen kann das neue Buch noch nicht treffen, es ist 2016 bei Basic Books unter dem Titel „How to listen to Jazz“ erschienen.
Um es vorwegzunehmen: es ist schwer vorstellbar, dass DM Feige seinen zweiten Satz (Gioia´s theoretische Überlegungen betreffend) noch einmal so freundlich formulierte - nach Lektüre dieses Bandes wird er ihn vermutlich gar nicht mehr ernst nehmen.
cover gioiaEs gibt fast nichts auf den ersten 50 Seiten, was der Rostift unbeanstandet ließe, fast nichts, was nicht mit „widersprüchlich“, „falsch“, „grotesk“ oder sonstigen Fragezeichen markiert werden musste.
Von schrägen Übersetzungen ganz zu schweigen („Hören Sie, wie Billie Holiday hinter dem Schlag bleibt…“, gemeint „hinter dem Beat“). Mag sein, dass Gioia im amerikanischen Original von „Intentionalität“ faselt, weil ihm der Unterschied zu „Intention“ nicht geläufig ist, aber muss man das auch ins Deutsche übernehmen?
Ja, Gioia faselt, das Urteil ist nicht zu hart, denn sogleich oberhalb reinen Musikpädagogen-Handwerks, beispielweise Akkord- oder Rhythmus-Bezeichnungen, wird ihm die Luft dünn.
Seit Joachim-Ernst Berendt (1922-2000) - bevor Günther Huesmann sie ihm ausgetrieben hat - sind nicht mehr solche Jazz-Ideologismen aufgestiegen.
Hanns Eisler´s abgewandeltes Diktum („Wer nur von Jazz was versteht, versteht auch von Jazz nichts“), häufig ironisch verliehen, trifft auf Ted Gioia brutalstmöglich zu.

Der Mann hat wirklich überhaupt keine Ahnung von Musikästhetik & -rezeption, klimpert aber munter drauf los. So herrscht nach seiner Ansicht bei den „Expertenmeinungen über die Wurzeln unserer auditiven Freuden und Aversionen (…) ein heilloses Durcheinander.“ Einerseits sei der Geschmack „ein soziales Konstrukt“, andererseits verträten Neurowissenschaftler u.a. „die genau entgegengesetzte Position“, sie seien der „Meinung“ (interessanter Begriff in diesem Kontext), „dass unsere Reaktionen auf Musik (…) generell biologisch determiniert sind.“
Jetzt haut unser Pianör aber wirklich in die Tasten: „Sprechen diese Leute eigentlich jemals miteinander? Sie arbeiten oft an denselben Universitäten - vielleicht könnte ja irgendjemand einmal ein Treffen arrangieren.“
Auf Seite 47, anhand einer anderen Diskussion, die er nicht versteht - nämlich dass Kunstwerke wenig über ihre Schöpfer erzählen - „gegen die sich all meine Erfahrungen mit dem Jazz (…) sträuben“ - zieht er sich wieder in sein „Praktiker“-Schneckenhaus zurück:
„Theoretische Diskussionen wie diese liegen außerhalb des Aufgabenbereiches dieses Buches.“
Ted Gioia merkt einfach nicht, dass die Monstranz seiner großen Hörerfahrung, die er immer wieder ins Feld führt, hochgradig durchsetzt ist mit Ideologie, vulgo: Theorie (seiner Theorie des Jazz).
Seine Naivität enthüllt sich in unfreiwilliger Offenheit bei den zentralen Elementen des Jazz.
Auf Seite 14 ist der „wichtigste Bestandteil des Jazz“ noch seine rhythmische Natur (wofür vieles spricht). Auf Seite 44 wird dieses Element durch ein anderes, „das wesentlichste Merkmal des Jazz“ verdrängt - yes, folks, die Improvisation (was könnte man von einem solchen „Denker“ anderes erwarten?).
Und nun wird´s zum Schreien komisch; der Musikwissenschaftler Gioia dekretiert, Improvisation habe „nichts, aber auch gar nichts mit Musiktheorie zu tun - um im nächsten Satz zu behaupten:
„Der Kern dieses Genres - die Improvisation (für die sich die Musikwissenschaft viel zu wenig interessiert) - spiegelt vielmehr die Psyche oder Persönlichkeit des einzelnen Musikers wider.“

A great Schwadroneur at Work

Wer will da noch weiterlesen? Auf der nach oben offenen Stuss-Skala der Jazzpublizistik, deren Schwellwerte gerade durch deutsche Autoren in letzter Zeit geliftet wurden, ist damit ein Spitzenplatz erreicht.
Der Rezensent muss weiterlesen - zumal Seite 44 ff als Fundgrube sich erweist: als einsamer Höhepunkt des gemeinen Jazz-Wunderglaubens.
Mag die Improvisation, nach Gioia, „gar nichts mit Musiktheorie zu tun haben“, für sein schlichtes Gemüt ist sie gleichwohl ein Erkenntnisinstrument:
„Eine Jazzimprovisation ist in einem sehr realen Sinne eine Charakterstudie oder ein Rorschach-Test“. Man möchte schreien über soviel Altbackenheit (Rorschachtest!), aber waitaminute, da geht noch was:
„Der Musiker lässt sein Herz sprechen, und das Publikum ist Zeuge! Ich habe soviel Vertrauen in diese existenzielle Transparenz in der Musik, dass ich den Songs mehr glaube als biografische Fakten.“
Was das bedeuten kann, im Falle Ted Gioia, macht er am Beispiel von Miles Davis deutlich. Der mochte „unhöflich und unverschämt  sein“ und „vielleicht sogar gewalttätig - Seine Musik erzählt aber eine ganz andere Geschichte über Davis…“
Soviel Widerspiegelungsglauben hat sich nicht einmal Joachim Ernst Berendt herausgenommen, und Goia ist keineswegs am Ziel. 
„Wir können uns mit Recht auf die Musik selbst als ein glaubwürdiges, manchmal sogar unwiderlegbares Zeugnis berufen. Sie fungiert als eine Art Lügendetektor und gewährt Einsichten über ihren Schöpfer, die keine Anekdote und keiene noch so farbenfrohe Rekonstruktion der Fakten entkräften kann.“
So wie Ted Gioia sie hört, so sind die abgelauschten Jazzgrößen - in der Tat a great Schwadroneur at work!
Komisch nur, dass ihm, der doch als Pianist kurzfristig auch Stan Getz gedient hat, die berühmte Anekdote von Wayne Shorter entgangen ist:
Wie kann ein solches Arschloch so schöne Melodien spielen?

Wo bleiben die Helden?

Wohlgemerkt, dies ist ein Buch für Jazz-Novizen, für solche, die durch „Jazz hören Jazz verstehen“ wollen, wie der Buchtitel propagiert.
Ab Seite 81 („Die Entwicklung der Jazzstile“) legt der Markerstift größere Pausen ein, mit sehr viel Wohlwollen kann man Gioia ohne fundamentale Kritik folgen - auch wenn er offenbar nie gehört hat, dass der Begriff „Jazz“ auch als „Scheiss“ oder „Beischlaf“ ein Vorleben hatte, auch wenn er mit „Synkope“ oft offbeat meint, wobei letzterer, ein zentraler Begriff der Jazz-Ästhetik, nicht vorkommt, auch Lennie Tristano nicht unter „Cool Jazz“… geschenkt.
Was Gioia über Ellington & Armstrong, über Miles & Coltrane schreibt, ist so falsch nicht; immer dann, wenn er - um DM Feige im weitesten zu zitieren - auf der Ebene des musikalischen Materials bleibt - fährt er weitgehend unfallfrei. Aber auf dieser Ebene allein, auf der Ebene des reinen Spielmaterials, ist eine Jazz-Ästhetik nicht zu schreiben. Sobald er das Köpfchen hebt, wird´s finster, verstrickt er sich in Widersprüche, windige Aussagen, eminente Fehleinschätzungen und Fehler.
Er stellt sogar eine ganz vernünftige Frage, nämlich „was passiert, wenn die Helden nicht mehr sind? Oder genauer gefragt: wenn lokale Helden überall auf der Welt zu finden sind?“
Die „Globalisierung“ des Jazz, genauer der Jazz-Ästhetik, ist ihm also nicht entgangen.
Antworten darauf würde man bei ihm am allerwenigsten suchen, auch wenn dieses Buch - wie er selig herumtwittert - derzeit offenbar in x-Sprachen übersetzt wird.
Auch die falsche Bescheidenheit, mit der er viel Egomanie verpackt, ist natürlich nicht zum Nennwert zu nehmen.
Einmal allerdings doch, auf Seite 184: „Verlassen Sie sich nicht allzu sehr auf mich. Gehen Sie lieber hinaus und hören Sie selbst.“

erstellt: 15.08.17
©Michael Rüsenberg, 2017. Alle Rechte vorbehalten