DAVID BINNEY Welcome to Life ********

1. Soldifolier (Binney), 2. Welcome to Life, 3. Lisliel, 4. Frez, 5. Our time together, 6. Sintra, 7. Enchantress, 8. Ici, 9. California

David Binney
- as, Chris Potter - ts, Craig Taborn - p, Adam Rogers - g, Scott Colley - b, Brian Blade - dr

rec ?/2003
Mythology Records MR 0004

Für zwei seiner Alben hatte David Binney auch eine Anspielstation in Deutschland ("South", 2000; "Balance", 2001), da konnte er auf ACT publizieren. Dieser Deal ist offenkundig abgelaufen. Sein jüngstes Album kommt wieder von Mythology Records, aus dem heimischen
Kalifornien, produziert in seiner Wahlheimat New York.
Schon der Blick auf das line up lässt den Puls der Erwartungen hochschnellen: zum dritten Male ist die
Rhythusgruppe Colley/Blade dabei, zum zweiten Male Chris Potter.
Damit bestätigen sich bereits zwei Formalien der Binney´schen Musik; sie wird immer ausgeführt von hoch-flexiblen Rhytmusgruppen und (fast) immer von einem zweiten Saxophonisten in Tenorlage, meist Donny McCaslin. Auch in der Wahl der Pianisten zeigt David Binney wieder ein glückliches Händchen, nach
Edward Simon nun der kalt glühende Craig Taborn, das beste Pferd im "Thirsty Ear"-Stall.
Gleich im Eröffnungsstück kumulieren die personalen mit den musikalischen Elementen zu einer Visitenkarte des
Jazzrock a la Binney: ungerade Metren (7/4 und 6/4), die unter einem Piano-Solo (!) - nicht unähnlich der Wayne Shorter Group - interaktiv zerrieben werden. Die Melodik, in ihrem Kontrast aus langezogenen Linien und Hup-Signalen ist typisch Binney - ihr fehlt einzig sein grösstes Markenzeichen: die riff-Melodik.
Diese folgt in track 2, dem Titelstück...und höret dann nimmer auf. Dieser Mann hat ein Händchen für riffs (von ihm auch gerne "loops" genannt), dass einem ganz
blümerant werden kann. Den Höhepunkt dieser Kunst spart er sich auf für den Schlusstrack. Gemächliches Tempo, die Bläser stellen ein Bandwurm-Thema vor, keine Wiederholung nirgends...bis sie schliesslich in einer 4-Takte-Form hängenbleiben. Sie schälen damit ein ostinato heraus, das in der grösseren Form schon ein paar Mal enthalten war. Nun folgt ein grosser Auftritt von Adam Rogers, einem Binney-Gefährten seit 1989. Erst auf einer, dann auf mehreren Spuren umgarnt er das riff mit wunderbar silbrigen Gitarrenklängen.
Binney delegiert seine in Echtzeit gespielten "loops" nicht nur an die Rhythmusgruppe. Geradezu hypnotische Wirkung erzielt er, wenn er mit Potter diese Aufgabe übernimmt: z.B. in "Sintra", dem nichts Portugiesisches anhaftet, das vielmehr mit einem Hauch von "Giant Steps" startet. Ein afrikanisch verkettetes Motiv drücken sie dort zum Schluss
Brian Blade entgegen. "Ici" schliesst ebenfalls mit einer a capella Phrase der beiden Saxophonisten. Sie sind - bildlich gesprochen -, auf einer flachen Scholle gelandet, der man den ganzen Tiefgang abgesprengt hat, nämlich ein brutalo riff und sogar eine schöne FreeJazz-Raserei.
Ja, es wollen einem die Ohren übergehen bei diesem eleganten, offenen Jazzrock, der von grosser konzeptioneller und instrumentaler Meisterschaft gekennzeichnet ist.

©Michael Rüsenberg, 2004, Nachdruck verboten