e.s.t. Leucocyte *****

01. Decade (Svensson, Berglund, Öström), 02. Premonition, I. Earth, II. Contorted, 04. Jazz, 05. Still, 06. Ajar, 07. Leucocyte I. Ab Initio, II. Ad Interim, III. Ad Mortem, IV. Ad Infinitum


Esbjörn Svensson - p, Dan Berglund - b, Magnus Öström - dr

rec ?.2008

ACT 9018-2; LC-Nr 07644

"Man kann", schreibt Hans-Jürgen Linke in der FR, "nach dem tragischen Tod des Pianisten Esbjörn Svensson, diese CD nicht unbefangen hören. Zu sehr hat die Musik Vermächtnis-Charakter bekommen." Nachdem der Svensson am 14.06.08 in den Schären vor Stockholm bei einem Tauchunfall ums Leben kam.
Das Album, so beschwört uns nun ACT, war zu diesem Zeitpunkt fix & fertig, es soll dem Label am 16.05.08 ausgeliefert worden sein.
Und also bricht sich nun - in der ohnehin leicht infizierbaren - Jazzpublizistik der "
naive Biographismus" Bahn, der in Jahrhunderten an Schubert, Schumann et alii zu wohlbeleibter Gestalt aufgedunsen ist: in Kenntnis der Lebensumstände eines Komponisten nach Entsprechungen im Werk suchen - und finden! Und darüber schwadronieren. Davon leben Generationen von Klassik-Astrologen.
Vielleicht kein Zufall, dass jemand aus der Klassik-Fraktion als erster weit aus dem Fenster sich legt und die Titel der Produktion mit biografischen Details und Wasser-Assoziationen abgleicht: "Geht es zu weit, einen Zusammenhang zwischen dem realen Tod und dieser Platte zu sehen?...Was bedeutet der Titel genau? Litt Svensson an einer bösartigen Veränderung der weißen Blutkörperchen? Fest steht, dass die CD Prophezeiung und Realität fast suggestiv synchronisiert." Das klingt geübt, und doch schreibt hier einer, der als einer der wenigen aus der Klassik-Fraktion sehr kenntnisreich auch über Jazz zu urteilen vermag, Wolfram Goertz von der
Rheinischen Post.
Er schließt seine - positive - Rezension stilgerecht: "Fragen über Fragen. Nur einer könnte sie beantworten. Doch der ist verstummt, und die genauen Ergebnisse der Obduktion (sic! Anm JNE) werden geheim gehalten. So bleibt "Leucocyte" eine schwer zu ergründende Botschaft - und ein Mysterium!"
Aber nur für den, der feste daran glaubt und meint, irgendeine Bedeutung daraus schlagen zu können.
Bei nüchternem, eher distanzierten Hören kann man zunächst feststellen, dass
e.s.t. wie früher auch schon einem Faible für TripHop & Ambient folgt - diesmal viel intensiver und expressiver. Mit anderen Worten: im Studio entstandene Improvisationen werden elektro-akustisch bearbeitet und erst später dramaturgisch in Stücke geordnet. D.h. die Improvisationsspuren, also die "akustischen" Aufnahmen, stellen gewissermaßen den "Master" für die nachträglichen Verfremdungen (meist jedenfalls). Ein Verfahren, das ähnlich im Dub angewandt wird; hier aber geht der Toningenieur Ake Linton weit über Dub hinaus, es interessieren ihn nicht dessen metrische Echos, sondern ein ganzes Netz von "freien" Effektformen. Manchmal generiert er aus einer Piano-Winzigkeit ein feedback, das sich über den unverfremdeten Klang des Pianotrios legt.
Das ist kenntnisreich gemacht, das funktioniert insbesondere da bestens, wo die Band große dynamische Verläufe anbietet, z. B. über den auf- und abschwellenden Rock-Riffs von "Premonition - Earth" und "Leucocyte - Ab Initio".
Das funktioniert gar nicht, wo die Band zu balladenhaft-statischem Ausdruck tendiert, wie in "Still". Hier hat sie einfach nichts drauf, beherrscht nicht das zeigenössische Vokabular, und deshalb staksen sie zerbeulten Klänge wie Fremkörper einher. Sowas können richtige TripHop-Bands einfach viel besser.
Apropos Vokabular, seit langem versucht sich das Trio, das viele bekanntlich als das Nonplusultra der Jazzpiano-Geschichte begreifen, am Grundbesteck der Gattung, am
swing ("jazz"). Darauf haben wir ja immer gewartet, mit der bangen Frage: können die das überhaupt, oder können sie sich nur auf binären patterns ausruhen? Zumindest der Herr Esbjörn, das muß unsereins einräumen, kann swingen. Was die Herren Berglund und Öström dazu liefern, ist weiterhin sub-Standard. Nach 4:17 ist der Spuk auch schon vorbei.
Es mag durchaus sein, dass e.s.t. für sich - d.h. für ihre Fähigkeiten - mit "Leucocyte" Neuland betreten haben, es mag insofern ihr "wagemutigstes und innovativstes" Album sein, wie das Label ACT propagiert. Ein großer Schritt für e.s.t. - aber nur ein kleiner Schritt für den Jazz.

erstellt: 04.09.08

©Michael Rüsenberg, 2008 Alle Rechte vorbehalten