MARCUS MILLER Tutu Revisited *****

CD 1
01. Tomaas (Miles Davis, Marcus Miller), 02. Backyard Ritual (G. Duke), 03. Splatch (M. Miller), 04. Portia, 05. Jean-Pierre (M. Davis), 06. Aida, 07. In a sentimental Mood (Ellington, Mills, Kurtz)
CD 2
01. Hannibal (M. Miller), 02. Don´t loose your Mind, 03.Tutu, 04. Full Nelson/Perfect Way (Miller/Gramson, Strohmeyer), 05. Human Nature/So What (Bettis, Porcaro/M. Davis)
plus DVD gleichen Inhaltes

Marcus Miller - bg, bcl, Christian Scott - tp, Alex Han - ss, ts, Federico Gonzalez Peña - keyb, Ronald Bruner jr - dr

rec 22.12.2009
Dreyfus JazzFDM 4605036972-2; LC 09803

Was man halt so sagt bei einer solchen Gelegenheit ... als er die Musik zu „Tutu“ 1986 geschriebe habe, sagt Marcus Miller, habe er keine Ahnung gehabt, dass er zu diesem Konzept mehr als 20 Jahre später noch einmal zurückkehren werde. Es sei damals die Musik der Zeit gewesen, mit drum-machines, viel Studiotechnik und der Elektronik jener Tage.
Es war obendrein das erste einer ganzen Reihe von Miles-Davis-Alben, bei denen der Namensgeber eher wie ein Gast seinern selbst auftrat. Und Miller wundert sich in dem Doku-Track auf der DVD, welche Freiheiten Miles ihm gelassen habe.
Für ihn selbst ist die Wiederbegegnung mit diesem Material nicht ohne biografischen Charme: ihm waren seine Stücke nur aus der Studioarbeit daran vertraut, er gehörte damals nicht zu Miles´ touring band und macht also über 20 Jahre später erstmals Bühnenerfahrung damit, bei diesem Mitschnitt eines Konzertes in Lyon.
Ob er freilich dem Anspruch gerecht wird, die Musik so anzulegen, dass sie „die Gegenwart spiegelt“, „in so turbulenten Zeiten gibt es vieles, worauf man sich beziehen kann und wir hatten eine erstaunliche Zeit bei der Vorbereitung“ - was man halt so äußert bei einer solchen Gelegenheit.
cover-tutu-reviMiller hat sein Team komplett ausgewechselt: über die Wahl des Trompeters erübrigt sich jede weitere Erörterung - ein bessserer ließe sich kaum finden. Der Rest entspricht dem konformistischen Personal, den Funktionsmusikern, die auch früher lediglich die Vorgaben des Bandleaders ausmalen durften: Federico Gonzalez Peña zieht die großen keyboard-Vorhänge auf, solistische Profil ist ihm nicht gegönnt; der Saxophonist Alex Han ist nun wirklich kein Gestalter, vor allem im Vergleich zu den Soli von Christian Scott fällt er deutlich ab (und man wundert sich, warum ein Mann wie MM aus dem großen Gehege junger Jazz-Löwen nicht einen profilierteren herangezogen hat) - einzig Ronald Bruner jr ist wirklich ein Lichtblick.
Endlich eine Ablösung für den treuherzigen Poogie Bell. 2004, auf „Silver Rain“ hat Miller Bruner schon einmal eingesetzt; wir kennen ihn ansonsten von Michael Landau und Scott Kinsey. Ronald Bruner fällt hier früh auf durch beat displacement, rhythmische Akzentverschiebungen. Seine große Stunde kommt mit dem zweiten Set, mit „Hannibal“ und vor allem einer ausgedehnten Baß/Schlagzeug-Passage von „Don´t loose your mind“. Auch der Bandleder hat hier ganz starke Momente, er demonstriert eine slap-Technik extraordinaire sowie Blues-Phrasierungen, und - weil wir in einem Reggae sind - tippt er kurz „Get up, stand up“ von Bob Marley an.
Ähnlich hoch-energetisch sind Miller & Bruner auch schon im ersten set zu hören, in „Jean-Pierre“ - ja, das Programm ist umfangreicher als das Original-“Tutu“, es greift vor und zurück, und auch schwache Nummern von einst, beispielsweise George Duke´s „Backyard Ritual“, sind dabei - und gewinnen nichts hinzu.
Den Anspruch, das alte Material „in der Gegenwart zu spiegeln“, wie soll man den überprüfen? Marcus Miller hat damals ein paar Schlachtrösser komponiert, sie sind unverwüstlich, sie werden im Sinne guter Unterhaltung vorgeführt. Für wirklich alternative Lesarten ist der Komponist auch fast 25 Jahre später noch viel zu nahe dran.

erstellt: 17.08.11
©Michael Rüsenberg, 2011. Alle Rechte vorbehalten