CHRISTIAN SCOTT Christian aTunde Abjuah *********

CD 1
01. Fatima Aisha rokero 400 (Christian Scott), 02. New Orleans, King Adjuah Stomp, 03. Kuro Shinobi, Interlude (Lawrence Fields, Jamire Williams), 04. Who they wish I was (Funn, Scott), 05. Pyrrhic Victory of aTunde Adjuah (Scott), 06. Spy Boy/Flag Boy, 07. Vs. The kleptocratic Union, Ms. Mc Dowell´s Crime, 08. Kiel, 09. Of Fire, Les Filles de la nouvelle New Orleans, 10. Dred Scott,  11.Danziger
CD 2
01. The Berlin Patient, CCR5 (Scott), 02. Jihad Joe,  03. Van Gogh, Interlude (Fields, Scott),  04. Liar Liar (Scott),  05. I do,  06. Alkebu Land,  07. Bartlett (Matthew Stevens),  08. Wen Marissa stands her Ground (Scott),  09. Cumulonimbus, Interlude (Fields),  10. Away, Anuradha & The Maiti Nepal, 11. The red Rooster (Funn), 13. Cara (Scott)

Christian Scott - tp, flh, Matthew Stevens - g, Lawrence Fields - p, ep, Kris Funn - b, Jamire Williams - dr, Kenneth Whalum III - ts (CD2/5), Corey King - tb (CD1/9, CD2/4,8,10), Louis Fouche - as (CD1/9, CD2/8)

rec. 20. - 22, 25. - 27.07.2011

Universal/Concord Jazz0888072332379, LC 15025


Labels haben keine Lektoren. Gäbe es einen solchen z.B. bei Concord, so hätte er den erneut sprudelnden Mitteilungsdrang von Christian Scott sicher frühzeitig zum Stoppen gebracht oder dem Trompete spielenden Autor das Manuskript für seine liner notes zum gründlichen Überdenken zurück gereicht. Halbsätze wie den, es gäbe einen „fundamentalen Unterschied zwischen einer Definition und einer Beschreibung“ dürften darin nicht mehr auftauchen.
In einem „Letter to a Future Artist“ setzt Scott erneut an, seine Musik zu erklären. Als er dabei auf den Jazzbegriff zusteuert, ahnt man Fürchterliches - aber gottlob verfängt er sich nicht in den Fallstricken eines benachbarten Instrumentalkollegen aus New Orleans, Nicholas Payton. Im Gegenteil, er bleibt ziemlich entspannt. Dass man seine Musik als „Jazz“ bezeichne...“is fine with me“. Er besteht lediglich darauf, dass seine Musik, obwohl „an sich Jazz“, nicht ausschließlich daraus bestehe.
Das geht in Ordung (insoweit man ihm bei diesem, insbesondere von Afro-Amerikanern gepflegten, engen Jazz-Verständnis folgen mag). Denn Christian Scott, der sich jüngst mit einer afrikanisierten Version seines Namens schmückt, tut einiges, um klingend dem auch von ihm gepflegten traditionellen Jazz-Verständnis zu entkommen. Ob für das, was er tut, der Begriff Stretch Music, den er irgendwo aufgeschnappt hat, zielführend ist, darf man bezweifeln.
Aber, wie gesagt, in der Sache hat der Mann recht, wenn er ausführt: „Wir versuchen die rhythmischen, melodischen und harmonischen Konventionen des Jazz zu erweitern (to stretch), nicht zu ersetzen.“
christian atunde adjuah - cms sourceWie schon beim Vorgänger-AlbumYesterday you said tomorrow führt dieser Weg in eine Neu-Definition von Fusion, Jazzrock oder Pop Jazz, wie immer man das bezeichnen mag. Den Kern macht dabei eine ziemlich einmalige strukturell/klangliche Balance zwischen akustischem Piano und elektrischer Gitarre aus (wobei Matthew Stevens nur selten solistischer Ehrgeiz treibt), im wesentlichen sind das verfeinerte Kombinationen, wie man sie auch aus der Popmusik kennt, beispielsweise von Radiohead.
Plus - und jetzt heben wir die Stimme deutlich - eine Rhythmusgruppe, die es in sich hat. Denn was auch immer hier aus der Popmusik anverwandelt wird, Kris Funn und Jamire Williams heben es auf eine Jazz-Ebene. An den Einfällen von Williams kann man sich gar nicht satt hören. Wenn man seine Trickkiste überhaupt irgendwo andocken will, dann am ehesten noch bei Brian Blade.
Was besticht, ja geradezu blendet, ist, wie sie das Vertraute zu ihrem Eigenen machen: den Pop-Upbeat in „When Marissa...“, den 6/4-Takt in „Of Fire...“, das rubato in „Dred Scott“, den Afro-Beat in „Alkebu Lan“, das drum´n´bass pattern in „Liar Liar“ oder die Wahnsinnscoda von „Kleptokratic....“.
Dabei sind ihre eigenen kleinen Spielwiesen noch gar nicht benannt: zwei der drei Interludes. In „Kuro Shinobi“ reiten sie mit dem Pianisten zwei Minuten lang auf einem 4/4 vamp und feixen lautstark darüber, was ihnen - sicher spontan - da gelungen ist. Das „Van Gogh Interlude“ ist noch kürzer - und doller! Ein poly-rhythmischer HipHop-Groove, wie er auch einem Robert Glasper Tränen in die Augen treiben dürfte.
Haben wir einen Höhepunkt überhört? Das 10-Minuten-Drama „Danziger“ gehört dazu, allein schon wegen des vamp am Schluss, der über 6 1/2 Takte läuft, auf Deutsch in 26/4.
Nicht zuletzt „When Marissa stands her Ground“; wenn im B-Teil des Themas der Posaunist Corey King hinzutritt, meint man eine 1:1 Umsetzung einer früheren Etikettierung der Jazz Times zu hören, nämlich den „Architekten einer neuen kommerziell tragfähigen Fusion“. Es geht ab wie weiland bei Raul de Souza´s „Sweet Lucy“ und gehaltvoller als beim Krakeeler Trombone Shorty.
Noch ist wenig über die instrumentalen Künste des Bandleaders gesagt; in Kürze - es dürfte derzeit wenige Trompeter geben, die dem Dreißigjährigen handwerklich und konzeptionell ebenbürtig sind. Dass er gelegentlich mit Dämpfer spielt und (fast zwangsläufig) an Miles Davis erinnert - geschenkt. Die Kraft, mit der er auch höchste Höhen anspielt - und trifft und hält, sein breiter Flügelhorn-Sound, die weitgehend vibrato-losen Linien - eine beinahe durchgehende Delikatesse.
23 Stücke auf 2 CDs, das ist „good value for money“, aber sicher auch das Guten zuviel. Aber, wer will entscheiden, was hätte gekürzt oder geschnitten werden können? CD 1 enthält jedenfalls tendenziell mehr Höhepunkte als CD 2 - trotz „Van Gogh, Interlude“.
Wollen wir wirklich wissen, wo die Titel hergeleitet sind?

erstellt: 21.07.12
©Michael Rüsenberg, 2012. Alle Rechte vorbehalten