JACKY TERRASSON Gouache ******

01. Try to catch me (Terrasson), 02. Baby (Justin Bieber), 03. Je Te Veux (Erik Satie, T: Henry Pacory), 04. Rehab (Amy Winehouse), 05.Gouache (Terrasson), 06. Oh My Love (John Lennon),  07. Mother (Terrasson),  08. Happiness, 09. Valse Hot (Sonny Rollins),  10. C´est si bon (Henri Betti)

Jacky Terrasson - p, ep, keyb, Burniss Earl Travis II - b, bg, Justin Faulkner - dr, Minino Garay - perc, Cécile McLorin Salvant - voc, Michel Portal - bcl, Stephane Belmondo - tp, flh

rec. 10. - 18.05.2012
Universal/Emarcy 0602537118069, LC 00699

Zumal bei einem Künstler, der zwischen Paris und New York pendelt, dürfte bei einem Titel wie „Gouache“ eine Referenz an die Bildende Kunst nahe liegen.
Die aber ist hier gar nicht gemeint, sondern das französisch Umgangssprachliche: „Wenn eine Person auf etwas wirklich heiß ist, dann sagt man, ´sie hat Gouache´“.
Schade, dass die nahe liegende Assoziation nicht zutrifft, dass mit anderen Worten Terrasson dieses Projekt nicht in den Dienst einer irjenswie „höheren“ Idee gestellt hat - denn es zerfällt in eine Serie von pianistischen Fingerübungen, von Taschenspieler-Tricks.
Dazu ist Jacky Terrasson wie kaum einer unter den gegenwärtigen Jazzpianisten prädestiniert: insbesondere sein rhythmisches Potential ist beinahe konkurrenzlos, sein timing sagenhaft. Dynamische Sprünge auf engstem Raum nimmt sich keiner so heraus wie er.
Was aber das Formbewußtsein betrifft, oder sagen wir lieber: das Denken in großen Bögen, umgangssprachlich „der lange Atem“, da ist Terrasson der absolute Anti-Jarrett. So einer wie er hätte ideal „den Mann am Klavier“ im Varieté gegeben, der auf Zuruf irgendwas in irgendwas verwandelt, pianistische Zirkusnummern.
In diesen Kontext passt der aktuelle Satz von ihm: „Mir macht es sehr viel mehr Spaß, solche Stücke zu spielen, die sozusagen von der Straße kommen, als normale Standards zu interpretieren.“ Nun befinden wir uns im Jazz, da hat eine solche Aussage eine Halbwertzeit von wenigen Sekunden. Denn natürlich hat Monsieur Terrasson Standards gespielt (unvergessen, wie er durch Cole Porters „Love for Sale“ Herbie Hancocks „Chameleon“ durchschimmern ließ),  und natürlich hat er auch diesmal einen Standard dabei, nämlich „Valse Hot“ von Sonny Rollins, den er selbstverständlich reichlich ent-walzert, ohne die 3/4 völlig aufzugeben.
cover-terrasson-gouacheNein, das Zitat ist vielmehr auf Justin Bibers „Baby“ und „Rehab“ von Amy Winehouse gemünzt. „Baby“ geht in er in einem Zirkus-swing-Tempo an, drosselt dann das Tempo auf Latin a la Burt Bacharach und spielt das Thema, als wäre es eine Nummer aus dem Motown-Stall, ab durch die Mitte wieder im Affenzahn-swing.
„Rehab“ von der ohnehin jazz-affinen Amy Winehouse, ist natürlich eine Steilvorlage sondergleichen: Jacky Terrasson walkt und knetet das Thema wie in dem imaginären Volkshochschul-Kurs „Heute verteilen wir mal so viele blue notes wie nur irgend möglich!“ Das timing, die Auslassungen, die Betonungen, die perlenden Ausschmückungen, die Kontraste sind sagenhaft, auch das Wechselspiel zwischen Flügel, Wurlitzer-E-Piano und keyboard.
In einem Varieté könnte man sich auch vorstellen, dass die Band unter Leitung des Tausendsassas Terrasson - wie hier - auf Befehl eine heitere Gospelnummer anschließt, wie das Titelstück „Gouache“. Und nur die wenigen in dem Schuppen, die noch nicht den Animierdamen erlegen sind, werden heraushören, welch verschrobene Patterns der Schlagzeuger darunter legt. Es ist Justin Faulkner, 21, den Branford Marsalis mit den Worten entdeckt hat: „he is a terror“ (wobei der gewiss nicht an Al Kaida dachte).
Aber, Faulkner zeichnet mit Sicherheit viel, viel mehr aus, als er hier zeigen kann. Ähnliches gilt für das Alttalent Michel Portal, 76, das hier mit Einwürfen vertreten ist, die in Frankreich Dutzende andere auch spielen könnten.
Über die Sängerin Cécile McLorin Salvant, die mit mit extrem gedehnten Vokalpassagen u.a. „Oh my Love“ von John Lennon verunstaltet, hört man mit Erstaunen, dass sie 2010 die Thelonious Monk International Jazz Competition gewonnen habe - wie 17 Jahre zuvor Jacky Terrasson.
„Gouache“ beginnt und endet mit poly-rhythmischen Fingerübungen in hohem Tempo. Der opener „Try to catch me“ löst ein Bandwurm-Riff in einem Calypso auf; der französische Nachkriegs-Gassenhauer „C´est si bon“ wird über einem 5/8-Minimal Pattern versteckt, noch dazu in verschiedenen Tempi. Yves Montand und Hildegard Knef, die beide den Song gesungen haben, werden auf Wolke 7 ihr film-erprobtes ungläubiges Staunen aufsetzen.
Das Unbehagen über Studioalben von Jacky Terrasson bleibt bestehen. Und damit der Wunsch, dass er endlich mal wieder den Charakter seiner Konzerte auf Tonträgern anbietet.

erstellt: 07.09.12
©Michael Rüsenberg, 2012. Alle Rechte vorbehalten