JOHN HOLLENBECK/FRANKFURT RADIO BIG BAND Songs that I like ********

01. Wichita Lineman (Jimmy Webb), 02. Canvas (Imogen Heap), 03. The Moon´s a harsh Mistress (Webb), 04. Man of constant Sorrow (trad), 05. All my Life (Ornette Coleman), 06. Bicycle Race (Mercury), 07. Falls Lake (Takemura), 08.Chapel Flies (Hollenbeck)

John Hollenbeck - arr, cond, perc (6), Theo Bleckmann - voc, Kate McGarry - voc, Gary Versace - p, org, Heinz-Dieter Sauerborn - ss, as, fl, Oliver Leicht - as, cl, fl, Steffen Weber, Julian Argüelles - ss, ts, fl, Rainer Heute - bs, bcl, Frank Wellert, Thomas Vogel, Martin Auer, Axel Schlosser - tp, flh, Günter Bollmann, Peter Feil - tb, Christian Jaksjø - tb, th, Manfred Honetschläger - btb, Martin Scales - g, Thomas Heidepriem - b, Jean Paul Hochstädter - dr

rec. 11.-13.08.2010
Sunnyside SSC 1339

„Welcome to the first classic album of 2013!“, jubelt down beat. Und wenn man den Satz ein wenig hin- und herwendet...kann man ihn stehenlassen. Er bezeichnet ja nur das erste von x Alben, die in diesem Jahr dieses Status´ für wert erachtet werden können. Und schliesslich ist John Hollenbeck für sehr positive Urteile kein gänzlich unmöglicher Kandidat.
Eben weil die Begeisterung für sein Vorgängerwerk mit dem Orchestre National de Jazz noch anhält, hat JNE sich auf sein jüngstes opus gestürzt (das übrigens aus demselben Jahr stammt wie französische Produktion, nur sehr viel später veröffentlicht wird).
Bis auf ein Stück tritt Hollenbeck hier nicht als Komponist in Erscheinung, sondern ausschließlich als Arrangeur, in einer Auswahl seiner Lieblingsstücke. Was diese Selektion steuert, wird nicht ganz klar, wohl aber kann man der Webseite der Frankfurt Radio Big Band (innerdeutsch eher als hr Big Band bekannt) entnehmen, dass er an den „Wichita Lineman“ durch seinen Vater, einen Fan von Glen Campbell, geriet.
Dieser Bahnwärter in Kansas ist ein beliebter Topos unter Jazzmusikern; Cassandra Wilson (2001) und Joel Harrison (2004) haben sich seiner angenommen, und man ist überrascht, dass Pat Metheny es (noch) nicht getan hat. Der Song müsste ihm eigentlich liegen, komponiert übrigens im Geburtsjahr von John Hollenbeck, 1968, von Jimmy Webb.
Assoziationen an Pat Metheny werden bekäftigt durch Martin Scales´ Linien über weichen Minimal-Patterns im Intro von „Wichita Lineman“. Die Stimme von Kate McGarry kommt überraschend, in ihrer Mädchenhaftigkeit. Theo Bleckmann ist einem „amtlichen“ Jazz-Organ da schon viel näher. Aber was dann für diese cover version einnimmt, ist vor allem, wie Hollenbeck den großen Intervallsprung des Themas mit den Bläsern auffängt und weiter reicht.
cover-hollenbeck-songsWie er dann mit Minimal Patterns zwischen 3/4 und 4/4 Takten changiert, das ist prototypisch für seine Art des Arrangierens. Mit Prinzipien der Minimal Music, weniger mit denen seines einstigen Lehrmeisters Bob Brookmeyer, betreibt Hollenbeck seit Jahren eine Neujustierung des Big Band Jazz (Darcy James Argue und Mike Holober tun auf ihre Art ähnliches), nimmt jazz-fremde Genres in den Griff, ja fast könnte man von einer Big Band-isierung des Musikkataloges sprechen.
Hollenbeck verausgabt sich nicht, seine Mittel sind wohl-dosiert, bei aller Opulenz, mit der er kleine Geschichten in große Erzählungen verwandelt. Typisch hierfür der andere Jimmy Webb-Song, der wie eine komplette Suite anmutet. Und nur hier, in der Schlusspassage, treibt er das Spiel mit den Wiederholungen kurz so auf die Spitze, als hätte er ein pattern von Philip Glass 1:1 übernommen. Achtung, Konjunktiv! Hollenbeck ist viel zu intelligent abzukupfern, kurz vorher lässt er einen Afro-Shuffle aufscheinen - nein, hier ist ein jazz man am Werk!
Einer, dessen Gestaltungskraft offenbar vor nichts haltmacht, nicht vor einer Ballade der englischen Popsängerin Imogen Heap („Canvas“), nicht vor einem weniger bekannten Song von Ornette Coleman („All my Life“, von 1971), ja und den eigentlich düsteren Gehalt des Traditional „Man of constant Sorrow“ ((1913) schickt er dank der positiven Schlusszeile „I´ll meet you on God´s golden shore“ auf ein Hochplateau sondergleichen. Die beiden Tenoristen (Julian Argüelles, Steffen Weber) reissen mit; bis auf den Schluss, wo Jean Paul Hochstädter mithält, unterliegt dem Ganzen eine rasante Rhythmusgitarre ... a la Pat Metheny.
Opulenz aus Minimalismen - bei Ornette Coleman wechselt John Hollenbeck das Schreibwerkzeug; „All my Life“, eine Ballade und durchweg rubato ausgeführt, verträgt schon deshalb keine schnittigen Kleinmuster.
Aber, was bloß mag ihn an Queen fasziniert haben? Das operettenhafte Aufbäumen im Thema von „Bicycle Race“ (1978)? Jedenfalls übernimmt er es weitgehend ungeschoren und platziert einen schönen Klangeinfall, der weiter hätte tragen können, einfach so daneben: die Bewegung der Radspeichen, die er selbst auf einem Stabinstrument ausführt.
„Falls Lake“ des japanischen DJ-Produzenten Nobukazu Takemura befremdet nicht minder. Aus einer schillernden Bläserfläche schält sich Theo Bleckman am Megaphon heraus und spricht-singt eine simple Melodei, die nicht weiter entfernt sein könnte vom Charme und der Wärme der „amerikanischen“ Vorlagen, in den tracks 1 - 5.
(Hollenbeck hat offenkundig ein Faible für das Eckig-Einfache: ein Jahr nach dieser Produktion hat er ein sehr verwandtes Programm mit seinem eigenen Large Ensemble in Newport aufgeführt, darunter „The Model“ von Kraftwerk).
„Chapel Flies“ schließlich ist ein Song ohne Text, die beiden Sänger summen. Hollenbecks einzige Eigenkomposition webt behutsam Bläser und Vocal tutti um ein simples Klaviermotiv im 4/4 Takt - ein Ausklang, nichts mehr.
Die Frankfurt Radio Big Band spielt tadellos, man hätte ihr einen ähnlichen Hochplateu-Parcours gewünscht wie den Kollegen in Frankreich im selben Jahr - mit demselben Komponisten/Arrangeur.

erstellt: 19.02.13
©Michael Rüsenberg, 2013. Alle Rechte vorbehalten