VIJAY IYER Mutations ********

01. Spellbound and Sacrosanct, Cowrie Shells and the Shimmering Sea (Iyer), 02. Vuln, Part 2, 03.-12. Mutations I-X, 13. When we´re gone

Vijay Iyer - p, electronics,  Miranda Cuckson - v, Michi Wiancko - v, Kyle Armbrust - va, Kivie Cahn-Lipman - vc

rec. 09/2013
ECM 2372, LC 02536

Dass ein Label einen Vertragskünstler an die potentere Konkurrenz verliert, mag schmerzen, ist in der Jazzhistorie aber alltäglich. Dass dabei der erste um die Früchte seiner Aufbauarbeit gebracht wird, stimmt nur partiell - der Abgewanderte erschließt in der Regel neue Abnehmerkreise, und die wollen durchaus wissen, was der Künstler X denn früher beim Label Y getrieben hat.
ACT hat für Vijay Iyer Aufbauarbeit in Europa geleistet (und dabei hoffentlich gut verdient), aber als der Polymath, als der Universalgelehrte, als den ihn die New York Times jetzt feiert, trat er aus den ACT-Produktionen nicht hervor. Sie zeigten einen Jazz-Pianisten solo, im Trio oder auch einem - weniger bedeutenden - indischen Projekt mit durchaus eigener Handschrift.
Aber das pfiffige Kerlchen, das jetzt in Harvard eine Professur innehat, so ziemlich der einzige Intellektuelle im Sinne von Wissenschaftler, über den der Jazz gegenwärtig verfügt (ausgenommen George Lewis), zeigte sich darin weniger als in seinen zahlreichen gescheiten Interviews.
„Mutations“, sein Einstand bei ECM, weist nun wirklich über den Jazz hinaus und legt ein Spielfeld frei, auf dem Vijay Iyer in Amerika seit Jahren unterwegs ist - ein Feld, in dem Jazz weniger als klingende Form in Erscheinung tritt, denn als Methode der Materialverarbeitung wirkt, vulgo: als Improvisation.
Und dieses Feld ist viel größer und viel älter als wir dachten: das zentrale, namengebende Werk dieses Albums hatte seine Premiere bereits 2005! Und es ist nicht das einzige auf diesem Feld, das man jazzseitig vielleicht immer noch als Thirdstream bezeichnen mag - wenn man den Begriff um vieles erweitert, was zu „historischen“ Thirdstream-Zeiten in den 50ern noch gar nicht existierte: Pop, Elektronik, von Außer-Europäischem ganz zu schweigen.
Möglicherweise wird man, wenn man aus diesen verschiedenen Perspektiven hört, den Begriff Thirdstream aber auch gar nicht verstehen.
cover-iyer-mutationsDabei beginnt und schließt „Mutations“ sehr, sehr jazz-like. Mit zwei Balladen für Solo-Piano, von denen die erste, „Spellbound...“ bereits 1995 auf dem ersten Trio-Album von Mr. Iyer zu finden war, eine Art Paraphrase über einen imaginären Jazz-Standard, mit reichlichen Monk´schen Verläufen, aber nichts, was diesen Pianisten aus seiner Klasse herausheben würde.
Nämliches gilt für das finale „When we´re gone“, das besser gefällt, vielleicht weil es weniger Vorbilder evoziert und mehr dem Klang des Instrumentes in den New Yorker Avatar Studios nachlauscht.
Das aber sagt next to nothing über die Qualität dieses Albums. Vijay Iyer gehört zu der wachsenden Zahl von Jazz-Künstlern, die von ein oder zwei Endpunkten ihres stilistischen Netzwerkes her nicht zu greifen sind.
Schon track 2, „Vuln Part 2“, wendet das Blatt vollständig: das bluesig-verlorene Piano a la Paul Bley mag einem noch vertraut erscheinen, aber der Elektronik-Part zeigt, dass Iyer die Botschaft der Elektro-Akustischen Musik als einer Welt sui generis verstanden hat - im Gegensatz zu vielen, insbesondere vielen deutschen Kollegen, die den Kleister von Jan Hammer und Herbie Hancock einfach nicht abstreifen können.
Iyer lässt zu Beginn ein sich filterndes Klangwölkchen a la Pierre Henry einfliegen, aus dessen Tiefst-Transposition möglicherweise der Puls gewonnen ist, der zunächst in langsamen 2/4 unterliegt. Und dann kommt ein zweiter dazu und ein dritter - willkommen in off beat land.
Das ist schon mal eine schöne Einstimmung für die polyrhythmischen Vexierspiele von „Mutations 1-X“. Wenn ich einen Kollegen richtig verstehe, war er dem Verzweifeln nahe, weil diese Suite für Streichquartett, Piano und Elektronik nun wirklich weit herausführt aus dem, was man unter dem offenen Jazz-Himmel noch als solchen zu hören geneigt ist.
Vijay Iyer lässt einen erstmal ausführlichst an seinen Steve Reich- und Philip Glass-Studien teilnehmen. Die Sirenen-artigen glissandi in „Mutation II“ hielten mich wach, auch der folklorististische Vordergrund von „Mutation III“ sowie die formale Abwechslung und der perkussive Untergrund in „Mutation IV“.
„Halte durch bis V“, riet ich ihm am Telefon, „das bringt die Wende!“
„Mutation V: Automata“, mit 6:31 der längste Satz der Suite, beginnt mit einer Deklination allerlei Satztechniken der Neuen Musik, bis nach einem Drittel Iyer erstmalig das volle Potenzial seiner Intentionen einlöst, eine Kombination aus „notierten Passagen, strukturierten Improvisationen und elektronischen Klängen, gewonnen aus Samples der Streicher“.
Aus einem Wald von Streichern steigt ein loop empor, nimmt Echo auf, ein Vocoder-bearbeitetes Cello (?) näselt über einer Streicherfläche, und unten, ganz unten grummeln piccicati wie bei Heiner Goebbels. Eine rasche Blende ruft zur nächsten Minimal-Übung, „Mutation VI“.
Das ist das Problem mit diesen 10 Sätzen, sie sind streng voneinander geschieden, man möchte in manchen länger verweilen, auch um die Mittel näher zu studieren.
Unüberbietbar aber der Abschluss: die Folk-Punk-Minimal Music von „Mutation IX“ in treibenden 6/8 und einem langen crescendo, wie man sie so noch nicht gehört hat, stürzt in den fast party-piano-ähnlichen Schlusssatz, der leise, sehr leise ein paar feine percussive Spielereien trägt, gewonnen aus Klopfen der Streichinstrumente.
Yes folks, hier ist Hör-Arbeit angesagt. Aber sie lohnt sich.
Wer wissen will, wo heute Komponisten stehen, die irjenswie noch im Jazz verwurzelt sind, muss „Mutations“ kennen.

erstellt: 12.03.14
©Michael Rüsenberg, 2014. Alle Rechte vorbehalten