ORCHESTRE NATIONAL DE JAZZ Europa Paris *********

CD 1
01. Paris I (Benoit), 02. - 11. Paris II, parts 1-10

CD 2
01. - 02. Paris III, parts 1+2 (Benoit), 03. - 10. Paris IV parts 1-8,
Bonus Tracks
11. Paris V, 12. Paris VI

Olivier Benoit - g, Jean Dousteyssier - cl, Alexandra Grimal - ss, ts, Hugues Mayot - as, Fidel Fourneyron - tb, tuba, Fabrice Martinez - tp, flh, Theo Ceccaldi - v, va, Sophie Agnel - p, Paul Brousseau -  ep, b-synth, Bruno Chevillon - b, bg, Eric Echampard - dr

rec. 03/2014
ON Jazz Records/424444

Ein neuer Chef beim Orchestre National de Jazz bedeutet: nur noch der Name bleibt, alles andere wird ausgetauscht - Personal & Programm.
Während Daniel Yvinec die Band überwiegend in der Rolle eines Kurators führte, steht mit dem Gitarristen und Komponisten Olivier Benoit, 45, wieder ein ausführender Musiker an der Spitze, zudem einer, der das ONJ auch als einfaches Mitglied kennt (2000-2002, unter Paolo Damiani).
Unter den neuen sind Benoit´s Piano-Partnerin Sophie Agnel sowie zwei Routiniers aus den Bands von Andy Emler, Louis Sclavis und nicht zuletzt ihrem eigenen Quartett Carvaggio, nämlich Bruno Chevillon, 55, und Eric Echampard - eine bessere Rhythmusgruppe dürfte es derzeit im französischen Jazz kaum geben.
Und die braucht´s auch, um in diesem Programm die Ankerung nicht aufzugeben. Es ist komplex, komplex, komplex, wie man es von diesem Ensemble zumeist gewohnt ist.
Der Einfluss der Minimal Music, wie ihn John Hollenbeck dem Ensemble eingebracht hat, zieht sich wiederum durch, mit einer Schwerpunktverlagerung von Steve Reich und Philip Glass eher zu den melodisch-gestischen Formen eines Michael Nyman („Paris I“).
cover-onj-parisMit „Paris II, part 1“ führt Benoit eine Neuerung in den Jazz ein,  einen drone wie in der Elektro-Akustischen Musik. Diese viereinhalb Minuten imponieren eher als Klangstück; es gibt keinen ausgesprochenen Beat, wohl eine E-Piano-staccato, das kurze Klangabwürfe trägt wie bei Heiner Goebbels.
Das E-Piano-pattern wächst herüber in „Paris II, part 2“, erweitert um die Rhythmusgruppe mit einer drum´n´bass-verwandten Figur.
Die Bläser schließen sich mit einem kurzen Thema an. Unvermittelt sind wir in „Paris II, part 3“: Piano und E-Piano geben ein leicht dissonantes, schaukelndes Motiv vor, das das ganze Ensemble zu einem krachenden Rock-Riff ausbaut.
Damit nicht genug, es folgt ein weiteres Riff Marke „Alarmistisch“, das sich später als Verschmelzung von Minimal-Figur der Bläser mit Rock-Groove im Basement entpuppt.
Bis hier sind knapp 20 Minuten vergangen, und Olivier Benoit hat in nuce aufgeblättert, was die gut eineinhalb Stunden dieser Dopppel-CD ausmacht: eine Knalltüte rhythmisch-melodischer Einfälle, herausgeschleudert mit einer Resolutheit, wie man sie seit den Tagen der legendären Band Magma um Christian Vander, Mitte der 70er Jahre, aus Frankreich nicht mehr gehört hat. Der rhythmisch-thematische Rockhammer von „Paris IV, part 3“ scheint direkt dort anzuschließen.
Nur ist Olivier Benoit viel zu sehr Architekt und kühler Kopf, um sich vom Pathos a la Vander aus der Kurve tragen zu lassen - der nächste Schachzug, die Reduzierung der Mittel, folgt sogleich.
Was all das mit der französischen Hauptstadt als Titelgeberin zu tun hat, bleibt rätselhaft, die sechssätzige Suite enthält nicht eine Sekunde Material, das man mit „Paris“ assoziieren könnte.
Vielleicht verstehen wir später mehr, wenn der Fokus des Obertitels „Europa“ weiter aufgezogen ist.
Das nächste Projekt von ONJ unter Leitung von Olivier Benoit heißt, wird konzipiert und produziert in - Berlin.
Mit anderen Worten: nach dieser Produktion bleiben unsere Erwartungen auf Höhenflug.

erstellt: 30.07.14
©Michael Rüsenberg, 2014. Alle Rechte vorbehalten