DAVID BINNEY Aliso *******

01. Aliso (Binney), 02. A Day in Music, 03. Toy Tune (Wayne Shorter), 04. Strata (Binney), 05. Teru (Shorter), 06. Fuchsia Swing Song (Sam Rivers), 07. Bar Life (Binney), 08. Think of One (Monk), 09. Africa (John Coltrane)


David Binney - as, Wayne Krantz - g, Jacob Sacks, John Escreet (1,7,9) - p,
Eivind Opsvik
- b, Dan Weiss - dr

rec. 02.11.2009
Criss Cross CRISS 1322 CD

Es lohnt sich immer wieder, auf die in der zweiten Reihe zu schauen: auf die, die nicht auf den Magazin-Covers auftauchen, die - vulgo - nicht von großen Labels vertreten werden, die die „kleinen“ Tourneen unternehmen.
Ihre Leistung ist mitunter groß, ihre Kontinuität beachtlich.
binneyDiese Aussage trifft insbesondere David Binney, 48, immer noch - vielleicht weil er so wirkt - als „junger Mann“ bezeichnet.
Seit seinem Debüt von 1989 („Point Game“), dosiert er in großer Kontinutität immer wieder anders seine drei großen Antriebe: Jazzrock, Postbop, Standards.
Wayne Shorter mag er besonders; gleich zwei seiner Stücke hat er hier untergebracht, dann Sam Rivers´ „Fuchsia Swing Song“, basierend auf den Akkorden von Cole Porters „Night and Day“, Monks „Think of One“ und als absolute Krönung, in einem langen eruptiven Schwall „Africa“ von John Coltrane, das mit rückwärts laufenden Gitarrenklängen ausatmet.

„Africa“ ist ein großer Auftritt für den zweiten Europäer in dieser Combo: John Escreet, 25, aus London (der andere ist Eivind Opsvik aus Oslo). Escreet spielte in kurzes, aber weitgehend klischee freies Solo mit leichten Reminiszenzen an McCoy Tyner und Cecil Taylor, bevor dann Wayne Krantz mit der ihm eigenen Technik übernimmt. Er fettet seinen Sound mit Oktavdoppler und Ringmodulaor, er lässt die Dynamik zunächst fast auf Null fallen und dreht dann bis zum Klimax auf, den der Bandleader mit seinem fiependen Alt fortspinnt. Krantz ist seit „Balance“ (2001) zum zweiten Male dabei.
Der größte Gewinn aber ist ein alter Bekannter aus der New Yorker Binney-Community - Dan Weiss.
Diejenigen, die bei „Jazzrock“-Alarm gerne auf ihren Ohren sitzen, hätten hier mehrfach Gelegenheit, ihre Vorurteile schmilzen zu lassen. Mr Weiss hilft ihnen dabei gerne.
Das Album öffnet mit einem typischen Binney vamp - ausnahmsweise in 4/4, dem man fast mißtraut, weil Dan Weiss darüber ein irrwitziges beat displacement veranstaltet. Auf gut Deutsch: er verschiebt die Akzente, und trotzdem groovt das Ganze wie Harry!
In „A Day in Music“ legt er noch eins drauf: das Stück ist ein einziger rhythmischer Verschiebebahnhof: es beginnt - wieder typisch Binney - balladesk mit einem seiner stop & Go ostinati, das unter dem Krantz-Solo ausgedünnt und bis an den Rand des Zerfallens geführt wird.
Einen noch größeren dynamischen Parcours verfolgt „Bar Life“, das dritte Jazzrock-Stück dieser Produktion. Zwar ist Binneys etatmässiger Pianist Jacob Sacks auch nicht ohne, aber hier brilliert erneut John Escreet. Herrlich unberechenbar führt er in seinem Solo aus dem Groove heraus und wieder herein, worauf dann Wayne Krantz ein kleines Elektrogewitter platzen lässt.
Ein solcher Reichtum rhythmischer Varianten kann nicht an einem Tag im Studio gedeihen (Criss Cross-Produktionen dauern nie länger), er kann nur aus jahrelanger Erfahrung abgerufen werden - aus Binneys gigs in der „55 Bar“ in Manhattan, worauf sich dieser Titel bezieht.

erstellt: 13.04.10

©Michael Rüsenberg, 2010, Alle Rechte vorbehalten