JOHN MCLAUGHLIN AND THE 4TH DIMENSION To the One ***

01. Discovery (McLaughlin), 02. Special Beings, 03. The fine Line, 04. Lost and Found, 05. Recovery, 06. To the One


John McLaughlin - g, g-synth; Gary Husband - keyb, dr (1,3,5,6) Etienne M´Bappe - bg, Mark Mondesir - dr, perc

rec. 11/+12/2009
Abstract Logix ABLX 027

Bei Jürgen Kaube (FAS 25.04.10) lesen wir: „Ein ungeheueres Geschwätz umspült die Waren.“ In seiner Wissenschaftskolumne bezieht er sich auf eine Untersuchung des Kölner Wirtschaftssoziologen Jens Beckert und fährt fort: „Was über den unmittelbar instrumentellen Nutzen der Geräte, Parfüme, Weine, Möbel oder Urlaube hinausgeht, ist insofern vor allem ihre Eignung, zum Gegenstand unendlicher Erwägungen über ihren Preis, ihren Kauf, ihre Qualität und ihren Sinn zu werden.“
Ist damit nicht idealiter auch die Funktion des Kritikers beschrieben? Rezensenten potenzieren das Geschwätz - Künstler aber auch.
So sorgt John McLaughlin selbst für reichlich Gesprächsstoff (soziologisch gesprochen: für Rezeptionssteuerung), indem er in den liner notes zwei Inspirationsquellen für diese Produktion benennt: „Zunächst das Hören der Aufnahme ´A Love Supreme´ von John Coltrane in den 1960ern, zum zweiten meine eigenen Bemühungen im Hinblick auf „Das Wahre“ im Laufe der letzten 40 Jahre“.
Nun kann man „The One“ höchst unterschiedlich übersetzen; im weiteren Verlauf seines Textes läßt McLaughlin aber keinen Zweifel zu, dass dieses Ziel, diese Quelle unbedingt als eine metaphysische zu verstehen ist. Er schließt mit Segenswünschen („With Peace and Blessings to everyone“) über seine Käufer/Hörer hinaus.
Alle mit auch nur einem Funken Kenntnis der Jazzgeschichte setzt McLaughlin damit auf zwei Hör-Fährten: a) nach Einflüssen Coltranes zu suchen und b) nach Momenten der im Text deutlich benannten „Spiritualität“.
Dabei ist die Suche nach a) weitaus einfacher zu bewerkstelligen als nach b). Und hätten wir hier wenigstens eine Neu-Interpretation von „A Love Supreme“ vor uns, wäre die Suche auch deshalb einfach, weil beide Ziele ineins fielen (nach sehr landläufigem, also keineswegs von allen geteiltem Verständnis).
„To the One“ enthält aber nicht mal Spurenelemente Coltranes, auch nicht im Titelstück (das verweist mit seinen Akkord-Strukturen eher auf einen gänzlich un-spirituellen Geist, nämlich „There comes a Time“ von Tony Williams, 1971).
Selbstverständlich kann sich „Spiritualität“ auch völlig anders ausdrücken als in Coltrane-Anklängen - aber auch in dieser Hinsicht: Fehlanzeige, es sei denn, man hielte die an das Mahavishnu Orchestra erinnernden Akkordbrechungen von „To the One“ schon für einen Ausweis derselben.
Doch halt: in der Coda des Stückes kann man sich einbilden, ein Wortgemurmel zu vernehmen - möglicherweise fantasiert man es aber auch nur herbei, weil - siehe oben - Titel und Erklärung des Komponisten dies insinuieren. Das Cover tut ein übriges: „To the One - Master“ sieht man da handschriftlich auf einem CD-Rohling vermerkt; das kann man produktionstechnisch verstehen (als „Master“, also Vorlage zur Fabrikation dieser CD), aber eben auch als „Meister“ in einem „höheren“ Sinne.
JNE überlässt dieses Feld gerne der gemeinen Jazzkritik und läßt allenfalls die Jazzpolizei später in diesem Bereich auf Streife gehen...
Aber, was wir hören, ist geradezu erschreckend: eine Musik ohne jede „Dringlichkeit“, wie unser Schweizer Freund Urs Röllin den Mangel an dramaturgischen Notwendigkeiten zu bezeichnen pflegt.
In der Tat, ob John McLaughlin ein Solo spielt oder Gary Husband - es läßt sich bestenfalls aus der Papierform einer Komposition erklären, aber nicht aus einer Dramatik, aus dem Streben nach Höhepunkten, Kontrasten etc.
„Lost and Found“ z.B. bricht nach einem Klavier-Solo einfach ab, es wird nicht mal mehr das Mini-Thema des Stückes wiederholt. Die einzige Qualität, die man dem Stück überhaupt abgewinnen kann, sind die Akzentverschiebungen von Mark Mondesir. Er ist - auch live - mit Abstand der beste Mann der Combo. Ohne ihn, der technisch und musikalisch Einfälle am laufenden Band produziert, wüßte man gar nicht, worauf man sich in dieser Musik konzentrieren sollte.
Die Gitarrenlinien des Bandleaders sind Phrasen-Abfall aus vier Jahrzehnten, die sich kaum je zu einem „Thema“ qualifizieren; dass sie eine höchst eigene Handschrift verraten, kann nicht mehr genügen, weil sie dutzendfach an anderen Stellen besser dokumentiert sind. Die Doppelbegabung Gary Husbands sowohl als Schlagzeuger als auch als Pianist wird hier allenfalls formal demonstriert, ohne inhaltliches Gewicht. Nun sei eingeräumt, dass der Posten des Keyboarders neben einem Gitarrenhelden häufig ein prekäre Aufgabe war, und außer Don Grolnick an der Seite von John Scofield hat kam je ein sideman dieser Rolle Profil geben können.
Nein, „To the One“ ist in ganzer Linie enttäuschend; das ist genau der Jazzrock, vor dem uns die Ignoranten immer gewarnt haben!

erstellt: 02.05.10

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