STRÖER BROS. + HOWARD FINE Nomaden *********
Departure: 01. Waiting to be carried out (Ströer, Fine), 02. Arecibo Rag, 03. Are we really going?, 04.Shaman Dances, 05.Same River Twice, 06. Triptych
Arrival: 07. Running for my Life, 08. Nomad Song, 09. When you stopped sleeping, 10. A Point in Motion, 11. Safe Distance
Departure: 12. Fred Wohain´s Whafo Diner, 13.Danger Zone, 14. Death don´t jive, 15. Celebration, 16. Three Worlds

Hans Peter Ströer - keyb, g, bg, vocoder; Howard Fine - voc; Ernst Ströer - dr, perc, comp; Frank Loef - as, ts, melodica; Ruth Geiersberger, Torita Quick - voc (12), Nadine Holloway, Victoria Miles, Claudia Schwarz - voc (13-16)

rec. 1985, 1986
Illusion Records ILU 500.200; LC 08750


STRÖER BROS. & FINE Voodoo Travel ****
01. Day by Day we drift away (H.P. Ströer, E. Ströer, Fine), 02. Inbreath Outbreath (Ernst Ströer, Fine), 03. The Oracle has answered (H.P. Ströer, Fine), 04. Stay on Course toward the Source (Ernst Ströer, Fine), 05. On the Shores (H.P. Ströer, E. Ströer), 06. News from Nowhere, 07. Wordless Love (Ernst Ströer, Fine), 08. Ghost Town Square Dance (H.P. Ströer, E. Ströer, Fine), 09. The Goal of Soul (H.P. Ströer, Fine), 10. Speech Surrenders, 11. Merger with the Void (Ernst Ströer, Fine), 12. Darwin´s masterful Stunt (H.P. Ströer, E. Ströer, Fine), 13. Pipedream´s Puff (Ernst Ströer, Fine), 14. Fruitfly, Multiply! (H.P. Ströer, Fine), 15. I was down on Earth

Hans Peter Ströer - all instruments, Ernst Ströer - all instruments, Howard Fine - voc, Walter Weh - sax, fl (2,4.5,7,13), Roberto di Gioia - p (2,5,11), Claus Reichstaller - tp (3,10), Almuth Siegel - v (7), Jan Baruschke - v (8), Stefan Schwerdtfeger - lead voc (6,9,11,13,15), Anders Holte - lead voc (7)

rec. 2001-2009
Illusion Records ILU 500.201; LC 08750

Das schönste Gegengift auf dem Weg zum „Echo Jazz“ in Bochum (yes, folks, diese Rezension ist schon ein paar Tage in der Mache), war das Eintreffen dieser Doppelpackung auf dem Postwege.
Die Ströer Brüder!
Am Abend sah man Ernst im Troß von Klaus Doldinger mitschwimmen, als Perkussionist in einem happy-go-lucky Jazz, ohne jede Ahnung davon, dass er einst, gleichfalls stehend, aber als stehender Schlagzeuger eine eigene Kunstfertigkeit erlangt hatte.
Mit „Nomaden“, dem ersten Teil des Doppelpacks, waren schlagartig wieder die 80er Jahre präsent: hier der große Befreiungsschlag von Hans Peter und Ernst Ströer nach Jahren in der Band von Volker Kriegel. Plötzlich standen zwei, die sich als treue Handwerker verdingt hatten, mit einem im wahrsten Sinne fantastischen Produkt da.
1985, das war mitten in einem kleinen deutschen Jazz-Aufbruch, der Neuen Deutschen Jazzmusik, die Zeit von Blue Box, Härte 10, Alfred Harth´s Gestalt et Jive, Alte Leidenschaften, vor allem: Lask, und ja am Rande auch Cassiber.
Begeisterung für ein ryhtmisches staccato einte diese disparaten Unternehmungen, eine Vorliebe für nicht von Hand gespielte Rhythmen (oft wurden sie damit kontrastiert), es war die Zeit der Zappelrhythmen aus drum machines, die Zeit des Vokoder, erster Sampling-Attacken, die Zeit der Sequenzer-Ästhetik; na klar, vieles davon aus der Popmusik jener Jahre, der New Wave, importiert.
So gaanz plötzlich freilich standen die Ströers seinerzeit nicht auf der Lichtung. 1982 hatten sie im Klangschatten von Brian Eno´s und David Byrne´s „My Life in the Bush of Ghosts“ mit ihrem ersten gemeinsamen Album „Fluchtweg Madagaskar“ einige der neuen Techniken ausprobiert. „Nomaden“ aber war denn doch ein Sprung in eine andere Liga: Konzentration der stilistischen Mittel bei Ausblendung sämtlicher Exotika. Und wenn schon Exotik, dann liegt sie in den Texten von Howard Fine, einem damals 28jährigen Tänzer, Choreographen, Schamanen aus Amerika russischer Abstammung. Fine hatte stets einen Notizblock auf dem Nachttisch, in seinen Lyrics baut er nicht selten zu Geschichten aus, was er sich nachts oder frühmorgens aus seinen Träumen notiert hatte.
Es sind keine Songtexte, Howard Fine ist kein Sänger, es sind Gedichte, Geschichten, Aphorismen, vorgetragen in einer hoch-energetischen Art, als quasi literarischer Rap.
Die Ströer Bros. und Howard Fine - wie sagt man so schön? - „nehmen keine Gefangenen“: die ersten 3 tracks von „Nomaden“ springen einen förmlich an, dieser „Departure“ überschriebene Teil ist ein Raketenstart. Hochtempo-Perkussion, Slap-Bässe, zappelige Sequencer-Figuren, Vokoder-Fetzen, Sample-Akkorde, obenauf der schreiende, stolz deklamierende Howard Fine.
Die „Shaman Dances“ mit ihren breiten keyboard-Flächen bedeuten kaum eine Ruhepause, bevor „Same River Twice“ mit einem schnellen Afro-Groove (Hi-Life) losrast. Nicht umsonst lautet hier der Refrain: „Everybody moves, everybody rocks.“ Fine´s Stimme ist nicht selten akustisch in eine Hallkammer eingesperrt, oft mit einem Vokoder-Schatten.
Diese enervierende Ästhetik kulminiert musikalisch und textlich in track 07, „Running for my Life“: die Tonspur  eines hechelnden Menschen, völlig außer Atem, durchzieht beide Tempi des Stückes. Ein zum Tode Verurteilter rast los, „ich weiß nicht, warum ich verurteilt bin, ich bin zu jung um zu sterben“. Es ist Winter, auf seiner Flucht kommt er an einen zugefrorenen See, läuft darauf weiter und fällt in ein Loch im Eis.
Hier bricht das Tempo ab, das Hecheln erklingt weiter, der Erzähler meint, an diesem unwirklichen Ort auf einen japanischen Schneeaffen zu treffen, der sich dann doch als ... Walt Whitman entpuppt, Walt Whitman (1819-1892), der Begründer der modernen amerikanischen Literatur. Whitman bietet sich zum Austausch an: „Du bist zu jung um zu sterben, ich werde mich an deiner Stelle der Jury stellen, man soll mich töten.“
Diesem Klartraum, musikalisch kongenial in Szene gesetzt, folgt als entspannender Kontrapunkt das Titelstück mit einem Shuffle Rhythmus über 6/8. Auch hier wieder eine Entsprechung von musikalischen und textlichen Mitteln, die ihresgleichen sucht. Mit „Safe Distances“, kleinen amerikanischen Szenen, Fine nimmt hier den Tonfall eines Erzählers ein, ist das Ziel („Nobody´s waiting. Nobody to miss. Nobody´s worried. Nobody to disappoint. No hurry anyway“) das Ziel der Reise, ein Schwebezustand, erreicht. Damit schließt die LP-Version von „Nomaden“.
Das hatte seine Ordnung. Die nachfolgenden tracks 12-16, in dieser CD-Fassung noch einmal „Departure“ genannt und im zeitlichen Umfeld von „Nomaden“ entstanden, sind keine „Abreise“, sondern eher Abfall. Sie sind eine Vulgarisierung des Konzeptes, das man in der Wiederveröffentlichung nur der Vollständigkeit halber ertragen kann.
Ernst Ströer, Howard Fine, Hans Peter Ströer 2010Ob man´s glaubt oder nicht:
„Nomaden“ ist von keiner der zahlreichen CD-Wiederveröffentlichungs-
wellen erfasst worden, dieses Meister-Album blieb über zwei Jahrzehnte vergriffen.
Und, ihre Schöpfer haben nie mehr an dieses Niveau anknüpfen können,
a) weil sie nicht mehr in dieser Formation antraten, und vor allem
b) weil sie wieder zu dem zurückkehrten, wo sie herkamen: zum Musikantentum.
Was die Ströers heute als „Initialzündung“ bezeichnen, war zugleich ihr schneller Abschied aus dem kreativen deutschen Jazz: von 1985-1998 haben sie Udo Lindenberg produziert, dazu Film- und Theatermusiken ohne Ende, immer wieder für Horst Königstein und Heinrich Breloer („Buddenbrooks“), aber auch Yasmina Reza. Ernst Ströer sah man noch auf der Bühne mit Klaus Doldinger oder Wolfgang Haffner oder Peter O´Mara.
Diesen Tätigkeiten haftet weder etwas Ehrenrühriges an, noch dürfte man sie generell als „schlecht“ bezeichnen, auch Zweckmusiken haben fraglos ihre eigene Würde und Qualität. Nicht zuletzt wollten die Musiker es wohl so. Aber aus all diesen Tätigkeiten ist halt auch nichts mehr an unsere Ohren gedrungen, das dem Standard von „Nomaden“ oder auch „Fluchtweg Madagaskar“ nahegekommen wäre.
Und der Re-Formation des Kerntrios, das, wie es heißt von 2001-2009 an dem Nachfolgeprojekt „Voodoo Travel“ gearbeit hat, merkt man deutlich an, dass die vielen Jahre als Funktionsmusiker die Ströers nicht optimal darauf vorbereitet haben. Man kann nicht pausenlos Filmmusik komponieren und zugleich in der Spitze der Jazzentwicklung mitmischen. (Klaus Doldinger ist das bekannteste Beispiel).
Mit anderen Worten: „Voodoo Travel“ ist eine einzige Enttäuschung. Bald ein jedes Stück wirkt wie eine Wiedervorlage eines alten, lediglich in besserer Aufnahmetechnik. Man findet keinen einzigen Funken, der so zündet wie die vielen 1985. Wenn man´s genau nimmt verwässert „Voodoo Travel“ lediglich den Annex von 1985, die tracks 12-16 von „Nomaden“.
Es ist Musik, deren Autorenschaft man vielen zutrauen mag - „Nomaden“ hingegen waren einzig Ströer Bros. + Howard Fine!

erstellt: 25.08.10

©Michael Rüsenberg, 2010, Alle Rechte vorbehalten