JULIA HÜLSMANN QUARTET Not far from here *******

01. The Art of Failing (Hülsmann), 02. Le Mistral (Muellbauer), 03. This is not America (Bowie, Metheny, Mays), 04. Weit weg, 05. Streiflicht, 06. Not far from here, 07. No Game (Hülsmann), 08. Einschub (Kempendorff), 09. If I had a heart (Köbberling), 10. Colibri 65, 11. You don't have to win over me (Kempendorff), 12. Wrong Song (Muellbauer), 13. This is not America, var. (Bowie, Metheny, Mays)

Julia Hülsmann - p, Uli Kempendorff - ts, Marc Muellbauer - b, Heinrich Köbberling - dr

rec. 03/2019

ECM 2664

Julia Hülsmann hat, wie ihre Discographie opulent ausweist, ein Händchen für Songs. Auch wenn gar kein Gesang erklingt.
Wer damit nicht vertraut ist, wer mit „Not far from here“ möglicherweise zum ersten Mal ein Album von ihr hört, der wird im letzten track zweifelsfrei auf diese Qualität stoßen.
Da bleibt sie allein zurück im Studio, die anderen haben es schon verlassen und trinken vielleicht einen Espresso zur Entspannung (das muss nicht so gewesen sein, die Platzierung am Schluss drängt dieses Bild aber geradezu auf).
Nun probiert sie am Flügel noch eine andere Interpretation eines Songs, der in der Quartett-Fassung längst „im Kasten“ ist.
Als notturno, als Nachtstück (auch dieses Bild drängt sich auf), erklingt nun „This is not America“, 1985 eine Kooperation von Pat Metheny und Lyle Mays mit David Bowie.
Die halbe Welt kennt dieses Stück, Hülsmann muss sich (ähnlich wie 2016 beim Deutschen Jazzfestival in Frankfurt in ihren Beatles-covers) nicht an die Form halten, ihre Interpretation lebt aus der Abweichung.
Sie stellt durch Wiederholung den kitschigsten Moment heraus, die fünf Noten dieses „sha-la-la-la-la“ - die bei ihr eine völlig andere Anmutung bekomen. Ja, sie verleiht dem Song geradezu eine „Würde“, die dem Original fehlt.
Plausibel, aber falsch - nicht was die Rezeption, wohl aber was die Produktion betrifft.
Das ist Rezensentenprosa. Der Produktionsvorgang, wie ihn Julia Hülsmann in einem Interview mit London Jazz News beschreibt, vollzog sich vor Ort, in einem Studio nahe Avignon (wo jetzt bevorzugt der „nordische“ ECM-Sound entsteht) entschieden unromantischer.
cover hulsmann not far
Die Soloversion von „This is not America“ entstand demnach auf Vorschlag von ECM-Produzent Thomas Herr.
Sie war dessen Lösung des Problems, nachdem die Band der Wahl des Bowie/Metheny-Klassikers - ein langjähriger Hülsmann-Favorit - anfangs nicht so recht folgen mochte.
Hülsmann überarbeitete die Harmonien des Originals für die Quartett-Version.
Uli Kempendorff, über den sie sagt, er sei eine „sehr politische Person“, hält ihn „für einen politischen Song, gerade heute. Also lässt er sein Solo in einem großen, schreienden Free-Jazz Finale auslaufen. Ich habe das das Gegenteil versucht und das Ganze in wenigen Noten auszudrücken“ (Hülsmann in LJN).

„Das ist nicht Amerika“ - einfacher ist eine politische Assoziation nicht zu erzeugen.
„Gerade heute“; Julia Hülsmann braucht bei der Ansage des Stückes auf der aktuellen Tournee kaum mehr Worte als diese - und schon meint man, ein Raunen in den Zuhörerreihen zu vernehmen, ja förmlich den Gedanken aufsteigen zu sehen…sie muss gar nicht das dazugehörige Five-Letter-Word aussprechen.
Alle scheinen wohlig vereint in einer spezifisch europäischen Perspektive (die schon Hillary Clinton 2016 in einem falschen Licht hat erscheinen lassen), denn auch das Gegenteil ist eine politische Assoziation, und möglicherweise auch die politisch realistischere: „This is America, indeed!“)
Anyway, es ist - vor allem in diesen beiden instrumentalen Fassungen - ein attraktiver Song. Und Julia Hülsmann hat ihn klug arrangiert.
Sie beginnt die Quartett-Version (wie später auch ihre Solo-Einspielung) mit einem sachte perkussiven Vorspiel, geht die Harmonien durch und überlasst dann dem Baß die Vorstellung des sieben-tönigen Themas.
Uli Kempendorff übernimmt. Er entfaltet ein sehr schönes Panorama von Stan Getz-artiger Kühle bis zu schreiendem Überblasen, dem „Free-Jazz Finale“ - das freilich von der Bandleaderin, wiederum geschickt, gelöscht wird.
Der Tenorist Kempendorff, das muss man sagen, ist ein echter Gewinn für das Ensemble. Sein nuanciertes Spiel kommt im Studio besser zum Tragen als live auf der Bühne.
Überhaupt scheint der eher kühle Gestus der Band dort besser aufgehoben. Möglicherweise verführt die zusätzliche visuelle Komponente den Konzertbesucher zu der Erwartung nach einem expressiven Überschuß - den die Band eben nicht einlöst.
Hier, in den Studios La Buissone in Pernes-les-Fontaines, scheint alles mehr im Lot, hier kann man vier „Feinmechaniker“ (wie Volker Kriegel sie vielleicht genannt hätte) bei der Arbeit erleben.
Im lässigen Reggae von Hülsmanns „No Game“, im swing von Heinrich Köbberling in „Colibri 65“, in dem spielerischen „Einschub“ von Kempendorff, in dem cool-binären „Le Mistral“ von Marc Muellbauer. (Die eigentlichen Subtilitäten des Stückes erfährt man erst hier.)
Auch das zeichnet diese Band aus; sie hat zwar eine dominante Repräsentantin, aber vier Köpfe, die in einer erstaunlich homogenen Weise den konzeptionellen Rahmen ausfüllen.
Apropos Song; das Album schließt nicht nur mit einem wortlosen Song (s.o.), es beginnt auch damit. Man überhört leicht, dass Frau Hülsmann ihren früheren Schüler Kempendorff im opener „The Art of Failing“ in einem Duo vorstellt, während die anderen schweigen.
„Not far from here“ vollzieht also einen Bogen. Voller Anmut.

erstellt: 19.11.19
©Michael Rüsenberg, 2019. Alle Rechte vorbehalten