R+R=NOW Collagically Speaking *****

01. Change of tone (Glasper, Hodge, Tyson, Scott, McKinney, Martin, McFerrin), 02. Awake to you , 03. By Design, 04. Resting Warrior Glasper, Hodge, Tyson, Scott, McKinney, Martin), 05. Needed you still (Glasper, Hodge, Tyson, Scott, McKinney, Martin, McFerrin, Hardwick, Neil)), 06. Colors in the Dark (Glasper, Hodge, Tyson, Scott, McKinney, Marin, Ray), 07. The Night in Question (Glasper, Hodge, Tyson, Scott, McKinney, Martin, McFerrin, Crews),  08. Reflect Reprise (Glasper, Hodge, Tyson, Scott, McKinney, Martin, McFerrin),  09. Her=Now, 10. Respond (Hodge, McFerrin, Seales), 11. Been on my Mind (Glasper, Hodge, Tyson, Scott, Nawran, Lake, Smith)

Robert Glasper - keyb, Terrace Martin - synth, vocoder, sax (4), Christian Scott Stunde ad Juah - tp, Derrick Hodge - bg, Taylor McFerrin - synth., Justin Tyson - dr, Terry Crews - spoken word (7), Amanda Seales - spoken word (9), Amber Navran - voc (11)

rec. 2017 (?)
Blue Note 00602567554318

Eine jede Veröffentlichung von Robert Glasper, daran haben wir uns gewöhnt, wird von einem gewissen Maß an Maulheldentum begleitet. Im Zentrum der Aussagen stets jeweils der Anspruch auf Gegenwart, die Jazz-Vergangenheit kriegt einen Tritt in den Hintern.
Nie zuvor aber war der ideologische Überschuß so groß wie bei „Collagically Speaking“ (der Titel könnte ein schönes Wortspiel sein, wenn er denn hinsichtlich Collagenhaftigkeit zuträfe).
Zunächst der Projektname: R+R (der Computer will partout das zweite R nicht spiegelbildlich darstellen) steht für „Reflect and Respond“ und leitet sich ab aus einer Antwort von Nina Simone (1933-2003) „Meines Erachtens ist es die Pflicht eines Künstlers, die Zeit zu reflektieren“. 
Ergänzt von Glasper um den Satz „Wenn du darüber nachdenkst, was in deiner Zeit vor sich geht und darauf reagierst, kannst du nicht irrelevant sein. Also ist „R plus R gleich JETZT“.
Nun ist Robert Glasper ein Groovemeister und kein Denker; man sollte seinen Satz als die übliche Selbst-Promotion versenken.
Anderen Kalibers aber ist dieser Absichtstext auf dem Cover:
„Wir wollen Kunst machen, die von Bedeutung ist. Und was bewegt. Ein Sound, der uns und unsere Welt spiegelt. Der auf alles reagiert, was wir gesehen haben und sehen wollen. Wir sind hier, um Kunst und Wandel zu machen. Wir tragen der Fackel für die Vorfahren und für die Zukunft. Das ist unsere Zeit, um unsere Wahrheit zu vorzutragen.“
Es ist dies kein Satz für amerikanische, schon gar nicht europäische Philosophie-Seminare, sondern für bestimmte Segmente der afro-amerikanischen community. Die meisten darin werden irgendetwas in der Art von „yeah, man!“ murmeln und ansonsten zur Hauptsache übergehen: die Gliedmaßen in den Grooves dieses Albums zu wiegen.
Mag sein, dass man dort die spoken words der Schauspielerin Amanda Seales aufregend findet, die in track 9 Binsen über starke Frauen vorträgt („strong women are not for everyone“). Wenn es in den lyrics sonst noch was Wichtiges über das NOW gäbe, hätte man es gerne nachgelesen, doch außer den discographischen Angaben schweigt sich das Cover aus.
cover Glasper collagicallyDas Album sei „ein mehr als würdiger Nachfolger für die ´Black Radio´-Alben, jubelt Blue Note, das Label.
Die Bewertung erscheint überzogen, zumal keine starken Songs dabei sind, die stilistische Beschreibung aber ist richtig: wie jene beiden Alben enthalt auch „Collagically Speaking“ den Glasper´schen Rhythm & Blues mit allerlei Jazz-Obertönen, hauptsächlich von Herbie Hancock.
Erstmals ist der Trompeter Christian Scott dabei; sein sonst exzellentes Trompetenspiel kommt nicht recht zur Entfaltung, weil es sich auf meist zweitaktige Schaukelharmonien stützt und im wesentlichen aus Melodie-Variationen besteht; es fehlt ein echter Widerpart.
Dagegen sind die Grooves sowas von phat aufgenommen, dass man sich nur wundern kann. Und die Hauptursache liegt im Drummer.

Justin Tyson
ist neu. Und Justin Tyson ist ein Ereignis. Nichts weniger. Chris Dave an der Seite von Glasper war super, Mark Colenburg gut, Tyson ist sehr gut.
Außer dass er bei Matthew Garrison und Esperanza Spalding mitgewirkt und am Berklee College of Music studiert hat, lässt sich nur wenig über ihn herausfinden. Aber dass bereits 2015 ein Drummer-Blog systematisch der Frage nachgeht „What the hack is Justin Tyson doing?“, lässt erahnen, wen wir hier vor uns haben, nämlich das jüngste Talent aus dem Lager des new gospel drumming.
Tyson gibt in track 4, „Resting Warrior“, eine Visitenkarte ab: beat displacement und Akzentverschiebungen ohne Ende, alles auf der der Basis eines schnellen Shuffle-Beats.
Der Einfluss von Herbie Hancock ist überwältigend: „Resting Warrior“ ist zwar melodisch anders gestrickt, aber klingt stellenweise so tight wie Herbie Hancock anno 1975 in Japan auf „Actual Proof“.
Man kommt nicht umhin, wieder und wieder das unfassbare Kombinationsspiel von Tyson auf snare, bassdrum und hi-hat zu bewundern, insbesondere wenn nach den Soli von Christian Scott und Robert Glasper Taylor McFerrin, einer der Söhne von Bobby McFerrin, ein Synthesizer-Heulen aufsteigt lässt, während im Vordergrund Tyson über den vamp sich austobt.
Was er in der Soul-Ballade „Colors in the Dark“ veranstaltet, lässt an die drum concertos von Tony Williams bei Miles Davis denken. In „The Night in Question“, einen track später, hat Christian Scott seine besten Momente; das Stück klingt, bevor Terry Crews das Wort erhebt, wie eine Hommage an Miles Davis´ „Tutu“-Periode.
Warum bei soviel Lob nur ***** für diese Produktion?
Es ist ein Lob fürs Detail, ein Lob für die genannten Details. „Collagically Speaking“ erreicht sicher nicht das Niveau des Vorgängers „Art Science“
Formal betrachtet ist es ja auch gar kein Robert Glasper-Album.

erstellt: 10.06.18
©Michael Rüsenberg, 2018. Alle Rechte vorbehalten