BRAD MEHLDAU Finding Gabriel ****

01. The Garden (Mehldau), 02. Born to trouble, 03. Striving after Wind, 04. O Ephraim, 05. St. Mark is howling in the City of Night, 06. The Prophet is a Fool, 07. Make it all go away, 08. Deep Water, 09. Proverb of Ashes, 10. Finding Gabriel

Brad Mehldau - keyb, Mellotron (10), org (10), dr (2,4,10), voc (2,4,5,9,10), Becca Stevens, Gabriel Kahane - voc, Kurt Elling - voc (7,9), “Snorts" Malibu - voc (9), Ambrose Akinmusire - tp (1,6), Michael Thomas - as, fl, (1,6), Charles Pillow - ss, as, bcl, (1,6), Joel Frahm - ts (1,6), Chris Cheek - ts, bars (1,6), Mark Giuliana - dr, Sara Caswell - v, Lois Martin - va, Noah Hoffeld - vc, Aaron Nevezie - electr perc (9)


rec. 03/2017 - 10/2018

Nonesuch 7559-79263-5

Gut, dass Michael Naura (1934-2017), der sprachmächtige Jazzredakteur des NDR, diese Produktion nicht mehr auf den Schreibtisch bekommt. Er hätte seinen Vorwurf Pianör wieder aus dem Keller gehört.
Vielleicht aber wäre er, hätte man ihm in Hollbüllhuus die allerneuesten Trends zugeflüstert, auf einen anderen Gedanken gekommen.
Nämlich, Brad Mehldau, den großen Piano-Virtuosen des Jazz (nach Jarrett), nicht in dieser Rolle zu bewerten, sondern in seiner anderen, in der des Song-Liebhabers und Song-Schreibers. Mit gelegentlicher Neigung zu keyboards.
Das Begleitpapier zu dieser CD, das die normalen Käufer nicht bekommen, sondern im Netz suchen müssen, legt diese Les- bzw. Hörart rasch nahe.
Denn nachdem Mehldau den Titel „Finding Gabriel“ ausführlich als Frucht seines mehrjährigen Bibel-Studiums erklärt hat, folgt ein Loblied auf einen „neuen Synthesizer“, den Dave Smith/Tom Oberheim OB-6.
Zufällig hatten wir jüngst just dieses Gerät bei Dan Nicholls auf der Bühne im Stadtgarten Köln entdeckt. Im Gegensatz zu dem jungen Briten weiß der große Pianist Mehldau mit den Tasten & Knöpfen des Gerätes aber nur wenig anzufangen, er ist (wie auch Craig Taborn) einfach kein keyboard-Spieler.
Man nimmt es - gemessen an der sonstigen künstlerischen Präsenz Mehldau´s - geradezu schmerzhaft zur Kenntnis. Es fällt ihm klanglich nichts, aber auch gar nichts ein, was der Erwähnung wert wäre.
Die je Stück komplette Auflistung des keyboard-Arsenals ist Protzerei a la ProgRock.
Und damit kommen wir dem Kern des Unternehmens schon näher:
Das Instrumentarium des abschließenden Titelstückes „Finding Gabriel“, dem - wie den meisten anderen - ein Satz aus dem Alten Testament vorangestellt ist, könnte auch aus dem Fuhrpark von Rick Wakeman stammen. Oder von Patrick Moraz.
Es ist zudem - noch ein Kennzeichen des ProgRock - völlig solistisch eingespielt.
Yes, folks, Mehldau summt hier nicht nur eine Melodei und drückt die Tasten von Mellotron und Hammond B 3 Orgel, er schlagt auf den drums auch einen 4/4-Takt - und liest aus der Bibel.
Ist das schnuckelig! Vor allem, wenn er auf dem Yamaha CS-60 synth Töne in einer Art filtert, wie das die Altvorderen vor vier Jahrzenten schon getan haben.
Fehlt nur noch, dass Jon Anderson den Erzengel Gabriel gibt.
Darf der das? Ja, warum denn nicht? Ein Künstler darf, wie wir auch, künstlerisch alles.
Aber vielleicht hätte Brad Mehldau bei Klaus Doldinger Rat suchen sollen, der - ebenfalls vor Jahrzehnten - das Aufkommen halb-seidener Leidenschaften in sich nicht zu unterdrücken, mit dem Pseudonym Paul Nero aber halbwegs zu schützen vermochte.
cover mehldau gabrielDas Album beginnt mit einer anregenden Arrangier-Übung.
Eine a la Radiohead harmonisierte Figur wird in einem crescendo durch die Trompete von Ambrose Akinmusire auf Höhe gebracht, (zusammen mit Mark Giuliana in einem dr-solo gegen riff).

In der Coda führt Mehldau die drei Saxophonisten bzw. den Flötisten Charles Pillow kontrapunktisch mit seiner und den Stimmen von Becca Stevens und Gabriel Kahane zusammen. Vor langen Jahren wäre damit den Jazz-Gottesdiensten mit Inge Brandenburg (1929-1999) eine ernsthafte Konkurrenz erwachsen.
In „Born to trouble“, dem zweiten Stück, ist Brad Mehldau dann mit seinem keyboard-Fuhrpark allein zu Haus.
Den mehrstimmigen Gesang, Motetten-ähnlich, als wäre es von Pat Metheny komponiert, besorgt er allein. Das bißchen, das getrommelt werden muss, erledigt er (frei nach Karl Kraus) selbst.
Es ist die Progrock-Aufstellung der 70er; das Pathos, das hier noch fehlt, wird im Titelstück am Ende nachgeliefert.
Wie gesagt, die berüchtigten Filter-Effeke jener Jahre erspart er uns aber schon sehr viel früher nicht („St Mark is howling in the Night“). Ach ja, den „Sequencer-Wurm“ hat er auch nicht vergessen („Proverb of Ashes“).
Wie sagt noch Ljubisa Tojic im Wiener Standard?
„Wenn er nur aufhören könnt!“

erstellt: 02.05.19
©Michael Rüsenberg, 2019. Alle Rechte vorbehalten