AVISHAI COHEN Big Vicious **

01. Honey Fountain (Big Vicious, Rejoicer), 02. Hidden Chamber (Avishai Cohen), 03. King Kutner, 04. Moonlight Sonata (Beethoven), 05. Fractals (Big Vicious, Rejoicer), 06. Teardrop (Massive Attack), 07. The Things you tell me (Avishai Cohen), 08. This Time it´s different (Big Vicious),  09. Tenno Neo (Big Vicious, Rejoicer), 10. The Cow & The Calf (Big Vicious), 11. Intent (Avishai Cohen)



Avishai Cohen - tp, synth, Uzi Ramirez - g, Yonatan Albalak - g, bg, Aviv Cohen - dr, Ziv Ravitz - dr, live-sampling

rec. 08.2019
ECM 2680



Der Mensch hört auch mit den Augen. Robert Schumann wusste das vor der empirischen Musikpsychologie.
Die Jazzkritik führt uns diesen Umstand jüngst wieder vor, als sie unter der Überschrift „Das große Böse“ („Big Vicious“) auf ein Plattencover blickt und nicht etwa vor Lachen sich schüttelt, nachdem sie ein paar Töne gehört hat, sondern andächtig von „düsteren Gesellen“ spricht, die „düstere Zeiten (erhellen)“, SZ vom 20.04.20.
Zu sehen sind in der Tat fünf finster anmutende Gestalten, quasi in der Ruhe vor dem Sturm, den man sich bei zwei Schlagzeugern durchaus vorstellen kann.
Dass sie später, in track 4, windelweich vor der „Mondscheinsonate“ in die Knie gehen, ahnt man noch nicht. Zunächst hielte man es mit der SZ durchaus für möglich, dass sie in wenigen Sekunden ein Spektakel veranstalten, „als würden Zahnärzte in einen Steinbruch geschickt, damit sie lernen, wie man in Granit bohrt“.
Wer sich aber selbst dorthin begibt, furchtsam eingestimmt auf die 11 tracks des „Großen Bösen“, der wird mit einer Erinnerung an den schönsten Werbespot seiner Kindheit zurückkehren:
„Mutti, Mutti, er hat gar nicht gebohrt!“
Cover cohen Big viciousSelten ist ein Album so großspurig dahergekommen und hat sich als ein Produkt von Leichtmatrosen entpuppt.
„Texturen aus Electronica, Ambient-Musik und Psychedelia sind Teil der Mischung, ebenso wie Grooves und Beats aus Rock, Pop, Trip-Hop und mehr“ verspricht der Bandleader.
Die drei ersten Charakteristika sind unter den Bedingungen der Homöopathie erkennbar, also verdünnt bis zur Nachweisgrenze; die „Grooves und Beats“ teilen sich schon eher mit.
Es taucht sogar die Hymne des TripHop auf, „Teardrop“ von Massive Attack.
Sie wird eher nachgebetet (mit einem Trompetenton, als empfehle man sich für die Compilation „Die schönsten Popmelodien, von Jazzmusikern handgemacht“) als aus einer Jazzperspektive neu bewertet.
("Wir kommen alle vom Jazz, einige haben ihn aber schon früher verlassen", sagt Cohen; also gehören sie gar nicht mehr dazu?)
Die Widerborstigkeiten des TripHop jedenfalls, von denen Jazzmusiker sich reichlich haben anstecken lassen, von Ambitronix über e.s.t. bis Kurt Rosenwinkel, vor allem Splice ja sogar Jan Garbarek und Joni Mitchell - nüscht vorhanden.
Was die Beats betrifft, so kann man - freundlich gestimmt - Anklänge an Can (Jaki Liebezeit, Holger Czukay) identifizieren, vielleicht auch an Talking Heads und ein wenig Grunge.
Das allermeiste aber ist Pop 08/15, und man wundert sich, dass nicht mehr dabei herauskommt, wenn man erfährt, dass diese Band seit sechs Jahren zusammen arbeitet.
Der Vergleich mit dem - nicht verwandten - gleichfalls israelischen Namensvetter liegt schon deshalb immer wieder nahe, der Vergleich mit Avishai Cohen, dem Bassisten, der zwar auch das Poppige nicht verschmäht, aber selbst darin niemals verschwinden lässt, was Groove genannt werden kann.
Allerdings, wer die visuell-verbale Roßtäuscherei dieser Produktion durchdringt, findet denn doch zumindest ein Körnchen korrekter (Selbst)Beschreibung von Ziv Ravitz, einem der beiden Schlagzeuger.
„In der Kombination von allem ist dies eine magische Gruppe. Sie ist etwas ganz Besonderes, denn man würde erwarten, dass sie explodiert, mit totalem Drama. Aber die Musik ist tief und sehr melodisch.“
Ein Spiel mit Erwartungen also; ein Spiel, dessen Quintessenz aber weder Enttäuschung noch Überraschung lautet, sondern Langeweile.

erstellt: 21.04.20
©Michael Rüsenberg, 2020. Alle Rechte vorbehalten