WOLLNY, PARISIEN, LEFEBVRE, LILLINGER - XXXX ***

01 Somewhere Around Barstow (Wollny, Parisien, Lefebvre, Dillinger), 02. Dick Laurent Is Dead, 03. Too Bright in Here, 04. Grandmother’s Hammer, 05. The Haul, 06 Find the Fish, 07. Doppler FX, 08. Michael vs. Michael, 09. Nörvenich Lounge, 10. Nostalgia for the Light (Wollny)

Michael Wollny - synth, ep, p, Emile Parisien - ss, Tim Lefebvre - bg, electronics, Christian Lillinger - dr, perc

rec. 12/2019

ACT 9924-2

Wann hat je eine Produktion eine solche Bugwelle- pardon, wir sind in einem akustischen Medium - ein solches Vorecho erzeugt?
Viermal X, das ist der maximale Appell: jetzt kommen wir. Und wir sind wer.
 Stimmt.
Der Prominenzfaktor dieser Produktion ist erheblich. Und was die Rezeptionshaltung, vulgo die Erwartung, noch einmal steigert, ist, dass die ersten drei aus diesem Quartett schon einmal in je unterschiedlicher Verbindung standen. Der vierte aber nicht.
Und wo Christian Lillinger, das weiß ein jeder, der auch nur halbwegs in unserer kleinen Welt zu Hause ist, da ist was los. Rhythmisch.
Da kann man nicht spielen, als hätte man Eric Schaefer hinter sich oder (um nicht eine negative Wertung zu insinuieren) Julien Loutelier, den Schlagzeuger aus dem Emile Parisien Quartet.
Vier Abende hatten diese Glorreichen Vier im Dezember das „A-Trane“ in Berlin belegt; in acht sets improvisierten sie acht Stunden Tonmaterial, das schließlich im Februar 2020 in Atlanta auf die knappe dreiviertel Stunde von „XXXX“ eingedampft wurde.
Der Titel kürzt den nicht unbescheidenen Anspruch der Produktion ab, wie er sich aus diesen vier Verben ergibt: Explore/Expand/Exploit/Exterminate - erforschen, erweitern, ausbeuten, ausrotten. 

Geplant war offenkundig, dieses verwegene Vorhaben nicht auf die Stunden in Berlin zu beschränken, sondern „aus diesen Aufnahmen ein Album zu extrahieren, welches mehr ist als ein Dokument einer Serie von Live-Konzerten“.

Zum Zwecke der Post-Production also traf sich Michael Wollny mit Tim Lefebvre (auf dessen Vorschlag hin) und dem Toningenieur Jason Kingsland im Februar 2020 in einem Studio in Atlanta.

„100% Neuland“ sollten in Georgia bestellt werden - die Fanfare des Pressetextes ist hoch angesetzt. Wollny (der hier ausschließlich elektro-akustische - und nicht, wie es einen Satz später fälschlich heisst - „elektronische“ Tasteninstrumente bedient) erzeuge „eine eigene Welt aus retro-futuristischen Sounds“.
Cover wollny XXXXRetro-futuristische Sounds; nimmt man die stilistischen Referenzen hinzu, die herangezogen werden und die aus Jazzperspektive wenig überzeugend erscheinen (u.a. Irmin Schmidt, Jean-Michel Jarre, Klaus Schulze), so wird damit die Klangwelt beschrieben, die gerade en vogue (z.B. bei Brad Mehldau, Gerald Cleaver) zu sein scheint, aber wenig zeitgenössisches Bemühen erkennen lässt.

Es ist die alte Welt aus Blubbersounds, filter sweeps, Sequencerwürmern und vor allem und immer wieder: Ringmodulator. Bis zum Abwinken.

Ja, auch ein Simon Toldam setzt sie ein. Aber nicht ohne gewissermaßen ein Augenzwinkern, als Zitat in einer ansonsten hoch-modernen Struktur.

Eigentümlicherweise taucht der Name Joachim Kühn in den Referenzen nicht auf, dabei ist er auditiv deutlich manifest, beispielsweise in den rasdenden, verzerrten E-Piano-Läufen. Das sollte auch nicht weiter überraschen, Wollny hat seine Diplomarbeit über ihn geschrieben.
Ja, Wollny hat nun wirklich über Jahre an der Kultivierung seines Klanges auf dem Flügel gearbeitet, erfolgreich. Jetzt begibt er sich in ein fremdes Fach, und es bleibt nichts von alledem.
Wir wissen nicht, wie die Sessions in Berlin geklungen haben. In Atlanta hat man sie in einen elektro-akustischen Farbtopf geworfen; alles so schön wild hier.

Spannung ergibt sich selten strukturell. Am wenigsten geschadet hat das schrille Wechselbad dem Sopransaxophon von Emile Parisien. Ja, es erscheint auch multipliziert mit Harmonizer und rückwärts gestülpt oder nach unten gepitcht: Aber überall dort, wo sich die eminente Fabulierungskunst von Parisien, seine mitunter „klagende“ Haltung, weitgehend unbelastet von klangfärblerischem Gepäck entfalten kann, hat das Album, tja seine hinhörenswerten Momente.
Das sind insbesondere zwei Duo-Passagen mit Christian Lillinger. Der - das fällt auf, wenn man ihn mit anderen neuen Aufnahmen vergleicht - doch eher wie ein Lillinger-Darsteller agiert.
Es hilft wenig, ein frei-improvisiertes Event nachträglich aufzuzbrezeln, wenn eine strukturelle Qualität nicht im Ursprung vorliegt. Die Referenz auf diesem Sektor bleiben die Alben von Splice mit dem britischen Schlagzeuger Dave Smith.

erstellt: 15.04.21
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