MILES DAVIS The Bootleg Series Vol. 7 - That´s what happened 1982-1985  (**)-(******)

CD 1 (Star People, Decoy sessions)
01. Santana (Miles Davis) 2. Minor Ninths, Part 1, 03. Minor Ninths, Part 2, 04. Celestial Blues, Part 1, 05. Celestial Blues, Part 2, 06. Celestial Blues, Part 3, 07. Remake of OBX Ballad, 08. Remake of OBX Ballad Sessions, 09. Freaky Deaky, Part 1, 10. Freaky Deaky, Part 2

CD 2 (You're Under Arrest sessions)
01. Time After Time (alternate/Lauper-Hyman), 02. Time After Time (full session), 03. Theme From Jack Johnson (Right Off / Intro/ Miles Davis), 04. Never Loved Like This (studio session demo/David Irving III), 05. Hopscotch (slow/Miles Davis), 06. Hopscotch (fast) , 07. What's Love Got To Do With It (Britten, Lyle), 08. Human Nature (alternate/Porcaro, Bettis), 09. Katia (full session/Davis, Irving III)

CD 3 (Miles Davis Live in Montreal July 7, 1983)
01. Speak (That's What Happened/Miles Davis, John Scofield), 02. Star People (Miles Davis), 03. What It Is (Miles Davis, John Scofield), 04. It Gets Better (Davis), 05. Hopscotch (Miles Davis, John Scofield), 06. Star On Cicely (Davis), 07. Jean-Pierre, 08. Code 3, 09. Creepin' In
    
CD 1
Miles Davis - tp (1,4-10), keyb (1, 2-10), Bill Evans - ss (1), ts (4-6), Mike Stern - g (2, 4-8, John Scofield - g (9-10), Marcus Miller - bg (1,4-8), Al Foster - dr (1,4-8), Mino Cinelu - perc (1, 4-10), J.J. Johnson - tb (2-3), Darryl Jones - bg (9-10), Robert Irving III - dr-progr

CD 2
Miles Davis - tp, John Scofield - g (1-2,5-8) Robert Irving III - keyb, Darryl Jones - bg, Al Foster - dr (1-3), Steve Thornton - perc (1-2,5-9), Bob Berg - ss (3,5-8), Vince Wilburn - dr (4-9), John McLaughlin - g (9)

CD 3
Miles Davis - tp, keyb, John Scofield - g, Bill Evans - ss, ts, fl, Darryl Jones - bg, Mino Cinelu - perc, Al Foster - dr

rec. 1982-1985

Columbia Legacy 9439863852


Alles.Muss.Raus!
Die editorische Praxis nun auch dieser Bootleg Series lässt sich in Form einer degressiven Linie darstellen.
Sie war mit den Volumes 1 bis 3 glänzend gestartet (mit dem legendären Quintet „Live in Europe 1967 und „1969“, sowie einem elektrisierenden „Live at The Fillmore“, 1970).
Damit waren, wenn auch nicht gänzlich neue Einsichten, so doch immerhin erregende Konzerte verbunden, am Rande (insbesondere im Falle "At the Fillmore") vielleicht auch aufschlußreiche Nuancen.
Mit diesem, dem Volume 7, hat die Reihe einen Tiefpunkt erreicht. Man hätte, wollte man den drängenden Fans einen Gefallen tun, sich auf den Live-Mitschnitt aus Montreal 1983 beschränken können - die ersten beiden CDs im Schuber sind weitgehend entbehrlich.
Die ersten acht der zehn tracks von CD 1 sind noch unter der Ägide von Teo Macero (1925-2008) entstanden, im Oktober 1982 und Januar 1983, während der Aufnahmen zum Album „Star People“.
Welchen Anteil der legendäre Miles-Produzent daran hat, bleibt unklar, die Formulierung in den liner notes („Original Session produced by Teo Macero“) hilft nicht weiter, denn zugleich lesen wir - mit Ausnahme von „Santana“ - über diese tracks „recorded by Don Pulse and Ken Robertson during the Star People sessions“, auch ein gewisser Jay Messina wird in dieser Funktion genannt.
War Macero in diesen Momenten vielleicht mal kurz die Beine vertreten und gar nicht im Studio? Haben die Genannten hinter seinem Rücken aufgenommen?
Früher, als Bob Belden noch die Miles-Archivware editorisch betreute, hätte man detaillierte Einlassungen dazu erhalten. Sie fehlen hier ebenso wie stilkritische Erörterungen a la Belden.
Ein Essay des verstorbenen afro-amerikanischen Autors Greg Tate (1957-2021) kann diesen Dienst bei weitem nicht leisten; noch weniger die Anekdoten einiger der beteiligten Musiker, die aus ihrer Arbeit mit Miles berichten. Und selbstverständlich nur Gutes, bestenfalls Kurioses.
Dabei stellen sich durchaus Fragen an das Material. Zum Beispiel wie es dazu kam, dass mit J.J. Johnson (1924-2001) ein fast Gleichaltriger aus der Miles-Generation aus Bebop- und Hardbop-Zeiten mit im Studio steht, eine Retro-Aktion, die Miles immer vermeiden wollte.
Johnson ist auf CD 1 an den beiden Fassungen von „Minor Ninths“ beteiligt, eine wohl weitgehend improvisierte Ballade; im ersten Teil spielt er gestopfte Posaune, im zweiten, lebendigeren Teil Posaune normal.
Miles gibt in beiden tracks den Begleiter - auf einem keyboard, mit Phrasen und einem Klangbild in Richtung Elektro-Piano.
Teo Macero hat an diesen beiden Stücken nichts verändert Das erste Stück von CD 1 hingegen („Santana“, das wenig mit dem Gemeinten verbindet), das wenig spanned so dahinfunkt, bringt er zwischen 6:05 und 6:39 mit einem Schnitt auf Trab: keyboard-Flächen von Miles. Danach geht es in höherem Tempo weiter.
Der „Himmels-Blues“ („celestial Blues“), klangtechnisch bestens, schleppt sich in drei Teilen dahin, den dritten eröffnet J.J. Johnson mit einem Solo.
In der zweiteiligen „OBX Ballad“, benannt nach dem damals populären polyphononen Synthesizer des Anbieters Oberheim, konzentriert sich Miles auf dieses Gerät. Beide Teile verlaufen spannungsarm; der zweite enthält ein Baßgitarren-Solo von Marcus Miller, das dieser sicher nicht zu seinen Heldentaten auf diesem Instrument rechnen wird.
Möglicherweise gehört eben dies zu den Gründen, warum der ursprüngliche Produzent Teo Macero diese Stücke aus den „Star People“-Sessions unter Verschluss gehalten hat.
„Decoy“, ein Dreiviertel Jahr später, ist das erste Album von Miles Davis, das nicht in der Verantwortung von Macero entstanden ist. Man kann es hören.
Die Montagetechnik erreicht einfach nicht seinen Standard. Sie liegt nun in den Händen seines Neffen Vince Wilburn sowie dessen Kumpel Robert Irving III.
Der zweiteilige Blues „Fready Deaky“ ist ein beredtes Beispiel dafür.
Beide lassen das Stück erstmal in einem Quintett starten, nach zwei Minuten steigt Darryl Jones als agierender Bassist aus und ist für den großen Rest dieses und des nächsten tracks mit einem zweitaktigen vamp in hohem Tempo zu hören. Das ist höchstwahrscheinlich ein loop. Es nervt wie eine aufdringliche Tapete, weil ihm keiner in dieses Tempo folgt.
Was die Sache halbwegs „rettet“, ist ein unglaublich „dreckiges“, bluesiges Gitarrensolo von John Scofield mit reichlich wha-wha-Effekten und Oktavtechnik a la Wes Montgomery.
Cover Miles Bootleg 7Auch an CD 2 ist Teo Macero nicht mehr beteiligt; alle Aufnahmen stammen unter Obhut von Miles und Irving III aus den „You´re under Arrest“-Sessions im Januar und Dezember 1984 sowie Januar 1985.
Völlig rätselhaft (und entbehrlich), warum die beiden nach 14 Jahren noch einmal „Theme from Jack Johnson“ anpacken. Nun gut, die Funk-Mode hat sich inzwischen geändert, aber sie kommt dermaßen clean, ja geradezu steril daher, dass sie gegen die Ersteinspielung von 1970 einfach nur verlieren kann.
Auch hier wieder das Angebot, Stücke mal schnell, mal langsam zu spielen („Time after Time“, „Hopscotch“).
Das Klangbild ist „transparent“, die keyboard-sounds (Robert Irving) einfallslos, die Orientierung an den black music charts (Tina Turner „What´s Love got to do with it?“, Michael Jackson „Human Nature“) deutlich.
Ein wilder Mann wie John McLaughlin („Katia“) fällt auf, ja er reißt sogar Miles mit: mit der rechten spielt er Trompete, mit der linken, unisono!, keyboard-Akkorde.
„Katia“ (eine Namenswidmung an McLaughlins damalige Lebensgefährtin, die Pianistin Katia Labeque) wird hier in vollständiger Länge zum ersten Male veröffentlicht; die Fassung auf „You´re under Arrest“ ist ein edit davon.
Vergleichbares finden wir in CD 3 „Miles Davis in Montreal“, dem mit Abstand erfreulichsten Teil dieser Box:
etwa dreieinhalb Minuten aus den uns gut 12 Minuten aus „Speak (That´s what happened)“ sind seinerzeit in der Fassung in „Decoy“ aufgegangen; die 4:32 aus „What it is“ dort sind aus 6:58 hier kompiliert.
Nicht wenig zum drive des Live-Mitschnittes trägt bei, dass Miles mehrfach die bei „Katia“ gezeigte Praxis hier um eineinhalb Jahre vorwegnimmt, nämlich parallel keyboard und Trompete zu spielen.
Ein keyboard-Akzent unter den Soli von Bill Evans und John Scofield in „Speak (That's What Happened)“ ist das eine, eine Dopplung mit Trompete ist noch mal etwas ganz anderes - insbesondere wenn sie auch noch abwechselnd eingesetzt werden, steigert sich die Dramatik.
Und noch ein weiteres Mittel erprobt Miles hier mit großem Effekt:
auf dem keyboard nicht den changes (den Akkordwechseln) eines Stückes zu folgen, sondern einen Akkord im klassischen Sinne wie einen Orgelpunkt Minutenlang mal liegenzulassen, auch unter dem eigenen Solo („Code 3“ und "Creepin' In").
Modischer (aber nicht ganz zutreffend) könnte man auch von einem drone sprechen.
Frappierend, welche Kraft dieses Sextet auf der Bühne in Montreal entfaltet, wo es doch im Studio wenige Monate zuvor in erster Linie um saubere Aufnahmen ging.
Miles ist richtig gut dabei, auch auf der Trompete; das Haus aber rockt John Scofield.
Er ist tonlich noch nicht da, wo wir ihn heute kennen, aber von der Phrasierung sehr wohl. Und er lässt sehr viel mehr Wes Montgomery durchscheinen (in „Star People“ sogar auch Sonny Sharrock) als heute.

erstellt: 04.10.22
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