Die "Corona Show"...mit Jazz

Die Jazzpolizei kann so recht nicht die Begeisterung für das Magazin Kulturzeit auf 3SAT teilen.
Wer´s genau und verlässlich wissen will, kommt dort zuverlässig zu kurz. Insbesondere wenn´s um Jazz geht - selbstverständlich selten - wird die Luft dünn.
Filmautoren und Moderatorinnen stecken mal kurz ihre Nasen in Lexika - und rutschen dann auch noch auf den Klischees aus, die sie rasch inhaliert haben.
Ein treffendes Beispiel dafür ist die von der Moderatorin Vivian Perkovic als Corona Show titulierte Ausgabe vom 17.03.20.
Man möchte die Gutste in ihrer Überforderung zwischen Thomas Piketty, Philipp Hübl und ihrer Erklärung der Jazzentstehung glatt in den Arm nehmen und sanft wieder in die Kulisse begleiten.
Nach einem Beitrag, der von kaum mehr spricht als von der Begeisterung des Filmautors über die Jazzrausch Big Band hören wir dankbar die schöne fake news, Jazz sei „immer noch eine Jugendmusik“, dann erscheint Nikolaus Neuser in einer Schalte, der Vorsitzende der Deutsche Jazz Union.
Nikolaus Neuser 1Neuser beklagt zurecht „die große Krise für Jazzmusikerinnen und Jazzmusiker,
und es ist sehr nötig, da jetzt sehr schnell zu helfen.“
Dann kommt Frau Perkovic aufs Grundsätzliche:
„Die Politik möchte ja vor allem Systemrelevantes retten und dem helfen. Wieso ist Jazzmusik systemrelevant?“
Was soll der Repräsentant der deutschen Jazzaktiven da anderes sagen, als dass seine Gattung bei der „Durchökonomisierung“ der Gesellschaft sich nicht „in einem Quartal oder im Haushaltsjahr bemerkbar (macht), sondern erst in viel längeren Perioden“?
Und mit dem üblichen Glöckchen anläuten gegen „die Gefahr, dass wir Kunst und Kultur als so ’ne Art gesellschaftliches Accessoire einer bürgerlichen Zivilgesellschaft verstehen“?
Sie sei „viel mehr“.
Und dann knüpft Neuser eine seltsame Begriffskette:
„Denn ohne Kunst gibt es keine Kultur, und ohne Kultur gibt’s keine Identität, und ohne Identität gibt es keine Werte.“
Umgekehrt ist es richtig.
Denn dass die Kunst der Kultur voranginge, das wäre im abendländischen Diskurs neu.
Es trifft auch im Weltmaßstab nicht zu.
Bleiben wir beim Beispiel Musik. Alle Ethnien haben sie, aber einige haben gar keinen eigenen Begriff dafür, und erst recht verstehen sie diese nicht, wie wir, als eine Form von Kunst.
Unlängst ist der Jazzpolizei bei einem anderen, weitaus prominenteren Vertreter der Gattung, ebenfalls eine solche 180 Grad-Verdrehung aufgefallen.
Es ist Chick Corea, der in einem Improvisation Piano Exercises genannten YouTube Video zu dem Schluss kommt:
Improvising is Living.
Das sitzt. Ist aber falsch.
Man müsste den Mann, der bekanntlich den einen oder anderen Jazz-„Ohrwurm“ geschrieben hat, fragen, ob Komponieren nicht auch „living“ sei.
Also, umgekehrt ist´s richtig:
Living is Improvising.
Die Jazzpolizei könnte hier zahllose Philosophen, Soziologen, Evolutionsbiologen anführen, um diesen Satz zu belegen. Aber warum in die Ferne schweifen, wenn es doch auch in unserer kleinen Welt jemanden gibt, der dies bestätigt?

Der Jazzpianist und Harvard-Professor Vijay Iyer:
„Der Bereich improvisatorischen Verhaltens ist so riesig, dass es leichter sein mag, Verhalten anzuführen, das nicht improvisiert ist (…) Es scheint, als sei dieser Bereich nicht-improvisierten Verhaltens die große Ausnahme, eine relativ kleine (aber wichtige) Teilmenge des menschlichen Verhaltens.“
Der angebliche Primat der Improvisation beim Jazz, nie zuvor ist er ihm so entrissen worden wie in diesen Tagen und Wochen der Corona-Krise:
„Eine Pandemie ist eine zeitweise auftretende Ausnahmesituation, in der alle zusammen arbeiten und improvisieren müssen. Es geht nicht ohne Improvisation. (…) Es wird schlimm werden. Und wir werden alle auf eine gewisse Art und Weise hieran improvisieren müssen.“ (Christian Drosten, bei Maybritt Illner, ZDF, 27.02.20).
Christian Drosten Maybritt 1

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Wir alle befinden uns mittendrin.
Und im Gegensatz zu Jazzimprovisatoren können wir uns wenig auf Geübtes verlassen und haben einstweilen keine Kriterien zu überprüfen, ob das Improvisieren uns auch gelingt.
Es ist der Ernstfall.
Er vollzieht sich in der Kultur des demokratischen Rechtsstates.
Das andere ist Kunst.

erstellt: 19.03.20
©Michael Rüsenberg, 2020. Alle Rechte vorbehalten