BIPOC! Who?

In der Woche, in der in Mainz ein alter weißer Mann stirbt (Manfred Miller, 1943-2021), der, seit er ein junger weißer Mann war, der Aufgabe nachging, uns die Musik der Afro-Amerikaner zu erklären, insbesondere im Hinblick auf deren Blues-Texte und ihren Bezug zur Lebenswirklichkeit, in dieser Woche also tritt eine Gruppierung um den - renommierten - österreichischen Jazzpianisten Elias Stemeseder mit einer Forderung an die Öffentlichkeit, die die Tätigkeit des Manfred Miller zu einer Aufgabe für jederman erhebt, pardon für alle, die sich mit der Chiffre m/w/d gemeint fühlen könnten.
Ausweislich der Webseite musiciansfor ist es demnach nicht nur Aufgabe, sondern „Pflicht weißer Menschen, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen, Jazz zu spielen, zu präsentieren und darüber zu schreiben, sich über strukturellen Rassismus und Diskriminierung in unserer Gesellschaft zu bilden und alles daran zu setzen Strukturen abzubauen, welche Rassismus aufrechterhalten“.
Die Abgebrühten unter den so Aufgeforderten werden entgegnen: „Das ist doch Teil meiner Job-Beschreibung“.
Die Empfindsameren werden fragen, wofür sie sich diese Sisyphus-Arbeit aufbürden sollen - blieben doch ihre Kunden, die Jazz-Rezipienten (wunderbar so ein gender-neutrales Wort), von dieser Pflicht offenkundig befreit. Die dürfen also einfach weiter hören, ohne was dafür zu tun.
Dies ist der erste Stolperstein in einem Konstrukt, für dessen Dümmlichkeit, ja Dumm-Dreistigkeit der Jazzpolizei keine Parallele einfallen will.
Aber, fasten seatbelts, es geht weiter.
Wir sprechen den obigen Satz („die Pflicht weißer Menschen…“) noch einmal nach - und kommen mit dem nächstfolgenden Satz nicht zurecht:
„Dazu gehört der Ausschluss von BIPOC-Jazz-Musiker*innen von Fördermitteln, Preisen und Jurys“.

Ist es demnach „Pflicht weißer Menschen…“, „BIPOC-Jazz-Musiker*innen“ gezielt auszuschließen?
Oder müssen weiße Menschen gezielt für BIPOCs eintreten?
Sprachlich ist beides möglich.
Aber, waitaminute: wer sind BIPOC-Jazz-Musiker*innen? Auf welchem Label finden wir sie?

Die Erklärung von Stemeseder & Co. erklärt nichts dazu - für ein Pamphlet ein Totalausfall.
Der Anlass ihrer Wortmeldung - der Deutsche Jazzpreis 2021 - gibt uns einen Wink:
„Die Unterrepräsentation von Vorstands- und Jurymitgliedern sowie von BIPOC-Nominierten auf nationaler Ebene zeigt einen Mangel an Beachtung, Solidarität und darüber hinaus an Anerkennung für diese Menschen. Dies verstärkt das Narrativ, dass man weiß sein muss, um im Jahr 2021 in der deutschen Jazzszene zu arbeiten und wahrgenommen zu werden“.
Der letzte Satz erweist sich mit Blick auf die Nominierten und Ausgezeichneten als falsch.
Beunruhigend ist etwas anderes: die langsame Abkehr des deutschen (man kann durchaus sagen des transatlantischen) Jazzdiskurses von ästhetischen Fragen in Richtung Identitätspolitik. Es ist ein Prozess unter-
schiedlicher Geschwindigkeiten.
So wundert sich Sebastian Scotney in London Jazz News, dass trotz „wiederholter Hinweise auf die Qualität und das (unübliche) Niveau der Transparenz der Jury-Entscheidungen“ die Show zum Deutschen Jazzpreis 2021 der Gruppe Stemeseder eine Plattform bot, um das Gegenteil zu behaupten (in der Aufzeichnung der Feier fehlt die entsprechende Passage).
Im Grunde formulieren Stemeseder & Co. die Vulgärversion von Forderungen, die auch in der Deutschen Jazz Union angelegt sind. Ausweislich der Studie „Gender.Macht.Musik“ gibt man sich dort auch nicht mit der „Förderung von Frauen* im Jazz“ zufrieden, sondern hat „die Solidarität mit anderen marginalisierten Menschen in der Jazzszene“ im Blick. Dazu gehört „ein Hinterfragen von Stereotypen und Diskriminierungsmechanismen aller Art, sei es Queer- oder Transfeindlichkeit, Rassismus, Ableism oder Klassismus“ -
just den gleichen ismus-Salat finden wir auch bei Stemeseder & Co!
Ein Berufsverband, der tönt wie eine NGO, verfehlt seine Aufgabe. Im Gegensatz zu einer NGO muss er sein Hantieren mit Großbegriffen nicht nachweisen, sie dienen einzig dem guten Gewissen seiner Mitglieder.
Wer hat je Belege gesehen für Queer- und Transfeindlichkeit, Ableismus, Klassismus in der Jazzszene? (Rassismus ist ein anderes Thema). Wer weiß überhaupt, worum es sich handelt? Wer kennt einen solchermaßen Marginalisierten?
Kann es Aufgabe eines repräsentativen Musikpreises sein, über künstlerische Qualität hinaus die soziale Herkunft der Auszuzeichnenden ins Kalkül zu ziehen?
(Dass Insider in der Kategorie „Bass“ die Entscheidung für Eva Kruse vor Robert Landfermann und Petter Eldh kritisieren, hat nichts mit dem Geschlecht der Preisträgerin zu tun).
Stemeseder & Co; die Jazzpolizei findet erstaunlich, dass unter den dreißig UnterzeichnerInnen des Aufrufes zwei Albert Mangelsdorff-PreisträgerInnnen sich befinden (Achim Kaufmann, Angelika Niescier). Pikant auch, dass eine Mitunterzeichnerin erst kürzlich in einer regionalen Jury votiert hat.
Nun gilt zwar, auch im Jazz, die Trennung von KünstlerIn und Werk. Aber setzen die Dreißig mit der grotesken Einschätzung ihrer eigenen Gattung, wie sie sie hier äußern, nicht gleichwohl ihr künstlerisches Renomee aufs Spiel?
Können wir in Zukunft noch einfach so ihre Musik hören - ohne Prüfung, ob sie jeweils auch ihrer Selbstverpflichtung nachkommen, „Strukturen abzubauen, welche Rassismus aufrechterhalten“?
Die Jazzpolizei ist nicht bereit zu diesem Mehraufwand.

erstellt: 10.06.21
©Michael Rüsenberg, 2021. Alle Rechte vorbehalten