Heiner Goebbels "A House of Call"

Im Mai 1985 ist Heiner Goebbels zum dritten Male auf dem Moers Festival:
„Materialausgabe“.
Lakonisch wie die Abteilung in einer Auto-Werkstatt ist das Projekt tituliert. Auf der Bühne steht John Zorn neben einem Norbert Umsonst, Chris Cutler neben Kurt Dahlke aka Pyrolator. Ein bunter Haufen aus an die fünfzig Mitwirkenden, deren improvisierte Performance als Ausweis großer Schwarmintelligenz so recht nicht in Erinnerung geblieben ist.
36 Jahre später, für die Aufführungen seines jüngsten Orchesterwerkes „A House of Call“, bevölkern an die 70, ausschließlich hoch-versierte MusikerInnen die Bühnen, beispielsweise die der Kölner Philharmonie. Es sind die Ausführenden des Ensemble Modern Orchestra.
Nichts nun ist improvisiert. Ordnung hält der Dirigent Vimbayi Kaziboni, die Anweisungen dazu bezieht er aus einer umfangreichen Partitur.
Auch jetzt gibt es wieder eine „Materialausgabe“.
Sie bezeichnet nun eine unmittelbare Nutzanwendung: ein 140 Seiten starkes Buch (Neofelis Verlag, 9 Euro).
Die Lektüre führt sehr nahe an die zahlreichen, teils 100 Jahre alten akustischen Quellen des Werkes. Denn „A House of Call“ ist „ein Liederbuch für Orchester“. Die „Melodie“-Stimmen sind allesamt akusmatisch, also nicht klang-körperlich sichtbar.
Darunter die Stimme der Mutter des Komponisten, Margret Goebbels, die aus Eichendorff´s „Wünschelrute“ rezitiert, und selbstverständlich der Schriftsteller Heiner Müller (aus "Traktor"). Zu den Samples gehört die Aufzeichnungen des von rassistischen Motiven geleiteten deutschen Stimmforscher Hans Lichtenecker 1931 in Südwestafrika (heute Namibia) bis zu den Stimmen zweier Frauen in Grönland, 1906. Aber auch Baugeräusche aus Berlin 2017 und Seattle 2019 dringen durch.
Das Verfahren ist bei Goebbels wohlvertraut, zuletzt noch in „Stifters Dinge“ (2007); den Wechselgesang kolumbianischer Indianer daraus meint man auch jetzt wieder zu erkennen.
Gemessen an der Unterstützung gewichtigster Institutionen sowie am Medien-Vorecho (u.a. eine halbe Seite in der Zeit) ist das Auditorium in Köln erstaunlich spärlich besetzt; rechnisch dürfte der Faktor „zwei“ des Bühnenpersonals wohl ausreichen.
Und es geht los - erster Bruch mit der philharmonischen Praxis - bevor alle Mitwirkenden überhaupt Platz genommen haben.
Das Einstimmen der Instrumente kommt einem eigentümlich melodisch vor; aus den Lautsprechern an der Decke hängt minutenlang und leise der Rhythmus der billigen Orgel aus „O cure me“ von Cassiber (1982) über dem Ganzen (der Pianist Ueli Wiget wird wenig später auch die typischen Akkorde dieses Stückes anschlagen), der Dirigent rudert mit dem Armen - wir sind schon mitten drin!
Mitten im „Prélude“, das auch deshalb französisch heißt, weil das Orchester Motive aus „Répons“ von Pierre Boulez verarbeitet. (Warum? Auch darüber kann man sich in der „Materialausgabe“ kluglesen).
Nach und nach füllt sich das Podium. Ganze Sektionen verlassen es aber auch wieder, wenn die Partitur vorübergehend keine Verwendung für sie vorsieht. Wie in einem „House of Call“ eben, der historischen englischen Institution, wo Tagelöhner sich einfinden und auf Jobs warten.
Weitere philharmonische Brüche: man sieht einen Akkordeonspieler (Filip Erakovic, er hat auch ein Solo), einen Mann am Sampler (Hermann Kretzschmar) und einen E-Gitarristen (Steffen Ahrens). Von den vier Kontrabassisten wechselt einer (Paul Cannon) später, in einer delikat afrikanisch grundierten Passage, zur Baßgitarre. Und obwohl die Percussion-Abteilung fünf Mitglieder aufbietet (plus einen am Cymbalon), kommt eine der dramaturgisch prominent platzierten rhythmischen Passagen von der Harfenistin (Eva Debonne) - die auf das Holz ihres Instrumentes schlägt.

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Die Jazzpolizei kann nicht behaupten, alle Kompositionen von Heiner Goebbels für Orchester in seinem umfangreichen Euvre zu kennen (discografisch ist ohnehin nur ein kleiner Teil seines Gesamtkataloges erfasst), aber seit seinen diesbezüglichen Anfängen 1994 (z.B. die verschiedenen Ausprägungen von „Surrogate Cities“) ist sein Handwerk beträchtlich gewachsen.
Er traut sich nun 100 Minuten für diesen riesigen Klangkörper zu. In einem Stück ohne eigentlichen Klimax, in 15 Kapiteln, die nicht alle zu fesseln vermögen. Höhepunkte, so haben wir´s gehört, liegen häufig in piano-Momenenten, in dunklen, leisen loops mit akzentuierten Einwürfen obenauf (wie die Passage mit der Harfenistin). An solchen Stellen sieht man hier und da Kopfbewegungen im Publikum: es groovt. Ganz leis´ und vorsichtig.
Insgesamt aber ließe sich gegen „A House of Call“ mit dem Komponisten in seiner viel häufigeren Rolle als Musiktheater-Komponist, -Dramaturg und -Professor einwenden: es ist zu lang.
Das Ohr (vor allem sein dahinter verborgener Empfangsapparat) sucht nicht selten nach Ankern, nach Passagen, die aus dem Gleichfluß herausragen - es sucht nach „Stellen“. Die gibt es, und nicht selten. In summa machen diese Passagen den Reiz des Werkes aus.
Und sie lassen die Jazzpolizei wieder einmal nach einem Band des amerikanischen Musikphilosophen Jerrold Levinson greifen, „Music in the Moment“, 1997. Den Namen seiner Theorie („concatenationism“) kann man sogleich wieder vergessen, nicht aber ihren zentralen Gehalt:
„Das Verstehen von Musik ist in erster Linie eine Frage des Begreifens einzelner Partikel und der unmittelbaren Entwicklung von Teilstück zu Teilstück“.
Kurzum; Verstehen und Wertschätzen eines Werkes beziehen sich nicht auf dessen Architektur (die man bei einem ersten Hören sowieso nicht erfassen kann), sondern speisen sich aus einzelnen „Momenten“.
Pardon für den bildungsbürgerlichen Einschub, aber die „Materialausgabe“ drängt ihn geradezu auf. Die klugen Analysen von Ethnologinnen darin stehen mindestens in Reibung zu den auralen Reizen der Klänge, denen man ihren problematischen Ursprung nicht anmerkt. Sie stehen auch in Reibung zu der Bekundung des Komponisten:
„Die Arbeiten (gemeint: seine Kompositionen) müssen durch sich sprechen“ (Goebbels in der Zeit vom 2.9.21).
In der „Materialausgabe“ ergänzt er:
„´A House of Call´ ist kein wissenschaftliches Medienarchiv, sondern eine phonographische Sammlung aus meinem imaginären Notizbuch, das keiner Systematik folgt…“. Es kämen Stimmen zu Wort, „die mich berührt, verstört, begeistert, befremdet haben und die hier meist erstmals auf der Konzertbühne zu hören sind“.
Wir erleben also erneut den früheren (und heute wieder gelegentlichen) Jazz-nahen Musiker Heiner Goebbels in seiner überwiegenden Rolle als Komponist, als Schöpfer einer individuellen Ästhetik.
In einem Lager, dem der Neuen Musik, die das Subjektive, die ästhetische Gestalt mit einer „wissenschaftlichen“ Begleitmusik meint promovieren zu müssen.

Foto (aus der Philharmonie Berlin): Astrid Ackermann/Musikfest Berlin
erstellt: 07.09.21

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