Minstrel Show 2022?

Jetzt ist das Virus - oder ist es ein Bazillus? - auch im deutschsprachigen Sektor unserer kleinen Welt angekommen:
Jazz als schwarze Musik.
Ja, sicher, falsch ist das nicht - aber ist es mehr als 100 Jahre nach dem ersten Aufflammen dieser Gattung auch wirklich richtig?
Wenn in der Jurybegründung zum Ehrenpreis des Preises der Deutschen Schallplattenkritik 2022 ganz leis´ von „dieser großen Musik des schwarzen Amerika“ gesprochen wird, ahnt man, was gemeint ist. Und nimmt es erst mal hin.
Der Ehrenpreis geht diesmal u.a. an den Produzenten und Label-Betreiber Manfred Eicher (ECM).
Aber wenn man den Kontext des Zitates voll aufzieht, dann bekommt die Aussage mehr als nur ein Geschmäckle. Dann erweist sich vor allem der zweite Teil als falsch:
„Es gibt nicht viele Europäer, die von sich behaupten können, den Gang des Jazz mitgestaltet zu haben – dieser großen Musik des schwarzen Amerika. Vielleicht ist Manfred Eicher sogar der einzige“.
Ja, vielleicht wäre er der einzige - hätten nicht vor ihm Alfred Wladislaus Lion (1908-1987) und wohl auch Frank Wolff (1907-1971) gewirkt. Beide geboren in Berlin; als Alfred Lion und Francis Wolff - das sollten Jazz-Jurymitglieder im Schlaf singen können - haben sie in New York mit dem Label Blue Note einen wirklichen Gang für „diese große Musik des schwarzen Amerika“ eingelegt.
Zweifellos ist ihnen, wie Eicher heute, gelungen: „eine eigene Ästhetik und Haltung zu prägen“.
„Ein kammermusikalischer Sound“? (wie es weiter heißt) - nein, eher nicht, aber „eine bestimmte Art der Covergestaltung“ - unbedingt.
Bevor die Jurybegründung dann zur Erwähnung von Steve Reich und Arvo Pärt überblendet, die abseits das Jazz ebenfalls für Eichers Werk stehen, benennt sie einige wenige Beispiele aus seinem Wirken für „diese große Musik des schwarzen Amerika“:
„Das Art Ensemble of Chicago, Keith Jarrett, Jan Garbarek, Tomasz Stańko“.
Mhm, abgesehen von den Proportionen im riesigen ECM-Katalog (wo das AEOC keinen vorderen Platz markiert), blicken wir hier nicht auf eine Art neuer Minstrel Show?
Neumodisch ein Beispiel von blackfacing?
Spricht nicht aus dem Euvre von Manfred Eicher vor allem das Verdienst, dass aus der anfänglich fast exklusiven „großen Musik des schwarzen Amerika“ eine multi-perspektivische Angelegenheit geworden ist?

erstellt: 05.02.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten