Münchner G´schichten der Jazzgeschichtsphilosophie (14)

Die Urheber der ironischen Jazztheorie - sozusagen die Titanicer, nicht die Titanen!, des Gewerbes - hatten nun wirklich nicht geahnt, dass ihr Theorem sie so häufig einholen werde.
Es lautet:
„Der Jazz ist immer auch sein Gegenteil“.
Zugegeben, es verlangt schon nach titanenhafter Ambiguitätstoleranz, die Länge einer Fahnenstange im Blick zu halten, deren Enden einerseits von, sagen wir, Chris Barber, andererseits, sagen wir, von Cecil Taylor markiert werden.
Die sind so weit entfernt, dass der gemeine Berliner, befragt, was die beiden wohl verbindet, einleuchtenderweise antwortet: „nüscht“.
Ein quasi ewiger Quell der offenbar durch nichts zu bändigenden Widersprüche, es sei denn durch die Erfindung neuer Bocksprünge, ist die Jazzkolumne in der sonst so geliebten SZ.
Die Ausgabe vom 29.12.20 bietet frisches Anschauungsmaterial, auch wenn sie sich auf ein Ereignis der Vergangenheit bezieht: Ella Fitzgerald im März 1962 im Berliner Sportpalast, als „Lost Berlin Tapes“ dieser Tage erstmals veröffentlicht.
Der Gedanke „Jazz immer eine Musik der Zukunft“ wird drei Zeilen später ausgehebelt durch das heutige „Gefühl“, „…es handele sich da um eine musikalische Antiquität“.
Als vulgär-dialektischer Ausgang aus dieser verzwickten Eigenschaft bietet die sich anschließende Behauptung an, „dass Jazz immer auch der Soundtrack des Fortschritts war“.
Normalerweise wird dieser in ganz großer Münze, also recht wolkig, ausgegeben. Nicht hier; der SZ-Autor Andrian Kreye liefert einen präzisen Maßstab.
In den Genuss des Fortschrittes, den er mittels einer „Andekdote“ misst, gelangte nicht der Jazz allgemein, sondern eine seiner auch in den 50er Jahren schon berühmten Repräsentantinnen, Ella Fitzgerald.
Sieben Jahre vor Berlin gelang ihr durch Fürsprache eines großen Fans, Marilyn Monroe, ein Gastspiel im „Mocambo“ in Hollywood, was ihr bis dato verwehrt war. Nicht Diskriminierung wegen ihrer Hautfarbe sei die Ursache gewesen (andere schwarze Künstler traten vor ihr dort auf), sondern Diskriminierung wegen ihres Gewichtes.
Ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein großer für Ella Fitzgerald.
„Die Presse drehte durch“: schon am ersten Abend zeigten sich Frank Sinatra und Judy Garland, Marilyn Monroe alle zehn Abende. In der ersten Reihe.
Aber, wohin denn nun mit „Musik der Zukunft“, mit „Antiquität“ und „Fortschritt“?
Das alles ist Vergangenheit („Jazz-Moderne“). Wo bleibt die Gegenwart?
Hier kommt sie, und sie wird so beschrieben, dass man sie kaum wiedererkennt:
„Wobei die Jazz-Moderne in diesen Tagen gar kein so schlechter Eskapismus wäre, um sich auf die Zeit vorzubereiten, wenn die Welt nicht mehr stillsteht“.

erstellt: 29.12.20
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