Deutscher Jazzpreis 2023

Wer die Kundgabe des Deutschen Jazzpreises verfolgt, tut gut daran, sich anzuschnallen und eine Sitzhaltung einzunehmen, als befände er sich auf einer Achterbahn.
Elias StemesederDie Fahrt (Achtung Metapher) schießt auf Höhen (wie zum Beispiel bei der Auszeichnung von Elias Stemeseder in der Kategorie „Piano/Keyboards“) - und stürzt so jäh in die Tiefe, dass man wieder aussteigen möchte.
Nämlich, als die deutsche „Band des Jahres“, die Insomnia Brass Band aus Berlin, aufgerufen wird.
Wer die Begründung der Jury dazu hört, vorgetragen auf großer Bühne bei der jazzahead in Bremen, der hätte bis vor kurzem gedacht: macht jetzt auch „Titanic“ irgendwas mit Jazz?
Im Jahr 2023 kann man nicht anders, als Chat GPT dahinter zu vermuten. Und diese Text KI-ist bekanntlich „nicht wahrheitsfähig“.
Nun ist bekannt, dass Jury-Prosa nicht von jedem Jurymitglied mitformuliert wird (in der 16-köpfigen Hauptjury saßen immerhin u.a. Jean-Paul Bourelly, Nate Chinen, Aaron Parks, Angelika Niescier).
Es ist aber ein Rätsel, warum sie das an Groove & Intonation scheiternde Insomnia Trio z.B. dem Julia Hülsmann Quartett vorgezogen haben. Und hoffentlich sind sie ordentlich zusammengezuckt, als dann auf der Bühne ein Sprecher ihnen ihr eigenes Votum vorliest:
„Die Jury konnte kaum glauben, dass sie es lediglich mit einem Trio zu tun hat, denn Schlichting, Lucks und Marien klingen wie eine komplette Brass Band - wenn sie deren Energielevel nicht sogar übertreffen“.
Das ist ungelenk, hier mag man noch lächeln. Aber nahezu schamlos tönte die Begründung der Jury für den Sonderpreis an die Queer Cheer – Community for “Jazz” and Improvised Music.
Die Berechtigung dieses Projektes steht nicht in Frage (obwohl man darüber selbst wenig erfuhr, und Max Mutzke als Moderator gerade hier überfordert war).
Im Metropoltheater Bremen aber schien in der gegenwärtigen geo-politischen Lage für einen Moment der Sinn für Proportionen abhanden gekommen zu sein:
„Die Preisträger:innen für den Sonderpreis der Jury lösen genau dieses Versprechen ein: Jazz als Freiheitsversprechen. Als revolutionäre Kraft, die bestehende Ordnung in Frage stellt und im Zweifelsfall hinwegfegt.“
Im Zweifelsfall müsste eine solche Aussage, wäre sie denn ernst zu nehmen, zu einer Einladung nächsten Donnerstag bei „Maybritt Illner“ führen und Queer Cheer dort den Platz der Letzten Generation einnehmen.
Nicht selten hatte man den Eindruck, als handele es sich bei diesem komischen Ding „Jazz“ nicht um eine Kunstform, die hierzulande z.B. an 18 Hochschulen gelehrt wird, sondern um ein sozial-pädagogisches Projekt.
Den Ton setzte die Staatsministerin für Kultur, Claudia Roth, in einem Gruß-Video:
„Jazz ist bis heute eine Musik, die den Unterdrückten und Marginalisierten der Gesellschaft eine Stimme, einen unverwechselbaren Sound verleiht. Louis Armstrong, Billie Holiday, Nina Simone, Archie Shepp. Das sind nur einige der wirklich ganz großen Namen, die einem dabei einfallen, dabei einfallen müssen.“
(jazzahead-Rückkehrer berichten von einer weiteren KI-Leistung, die den Betrachtern im Internet verborgen blieb. Demnach hat im Saal eine Translation-app in der Rede von Roth nicht Louis, sondern Neil Armstrong gehört - und geschrieben. Die größte Gaudi hatten die Anwesenden mit dem Schriftzug, der "all die..." ins Englische übertragen sollte - und statt "all the" ... "ALDI" an die Wand warf.)
Der Deutsche Jazzpreis (nicht Roth hat ihn gegründet, wie Mutzke sagt, sondern deren Vorgängerin Monika Grütters) hat den Jazz Echo abgelöst, das ist nicht ganz schlecht. Jede Auszeichnung in den 31 Kategorien ist mit 10.000 Euro dotiert.
Für manche Kategorien kann man sich bewerben, für andere nicht. Man hört von renommierten Kandidaten, die dies nicht tun. Ihre Anzahl wird nach diesem Jahrgang zunehmen.
Manche Konkurrenzen waren diesmal hoch-karätig, insbesondere in der Kategorie 4 „Piano/Keyboards“: Elias Stemeseder, Marlies Debacker, Simon Nabatov), andere mäßig; z.B. Kategorie 5 „Gitarre“. Dass sich hier ein „Klassiker“ wie Kurt Rosenwinkel gegen Keisuke Matsuno und Peter Meyer durchsetzte, ist keine Überraschung.
In „Saiteninstrumente“, wie die Kategorie in ihrer internationalen Form heisst: Jeff Parker gegen Sam Gendel und Tomeika Reid, naja.
Kurios „Schlagzeug/Perkussion International“: ist hier das Feld mit Makaya McCraven, Sun-Mi Hong und Terri Lyne Carrington auch nur ansatzweise repräsentativ dargestellt?
Den größten Reibach machten die Kölner:
Loft (Spielstätte des Jahres - zum zweiten Mal. Und es wird die erste sein, die dichtmacht, sollten die Vorschläge des Deutschen Musikrates zu Honoraruntergrenzen „Gesetz“ werden), Matthias Schriefl (Blechblasinstrumente National), Heidi Bayer (Komposition des Jahres), Luah (Vocal Album des Jahres) sowie Cologne Jazzweek (Festival des Jahres).
Letzeres kann man als einen Wink für die Spielstätte der Verleihungen der Deutschen Jazzpreise 2024/25 lesen. Sie werden in Köln stattfinden.
Ob das die helle Freude wird, muss sich zeigen.
Kolner in Bremen   1                                                                                                                                Kölner (darunter 1 Düsseldorfer) in Bremen: Alle mal "Dooom" sagen!

Die vollständige Liste der Preisträger

erstellt: 28.04.23 (ergänzt 29.04.23)
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Rolf & Joachim und Queer Cheer

Nachdem die dpa vorgeprescht und der geplanten Promotion-Kutsche auf der jazzahead das Zugpferd ausgespannt hat, zieht die eigentliche Institution nun nach:
Rolf und Joachim Kuhnder Preis für das Lebenswerk innerhalb des Deutschen Jazzpreises 2023, so wurde inzwischen auch offiziell mitgeteilt, geht - kurzer snaredrum-Wirbel - an Rolf & Joachim Kühn.
Die Auszeichnung ist so einsichtig & nachvollziehbar wie selten was in unserer kleinen Welt.
Dass Rolf (1929-2022) geehrt wird, mag zudem wie ein kleiner Ausgleich dafür erscheinen, dass er die Anwartschaft auf den renommierteren Albert Mangelsdorff Preis nicht überlebt hat (ein Philip Roth des Deutschen Jazz, so to speak).
Die Begründung für die Wahl freilich, ergangen „nach regen und emotionalem Austausch“, ist einer gesonderten Betrachtung wert; sie belegt das Elend deutscher Jazz-Jury-Prosa in herausgehobener Weise.
Selbst ChatGPT hätte vermutlich starke Vektoren für den Gedanken ermittelt, was die jeweilige Qualität der Brüder Kühn vor allen anderen Eigenschaften ausmacht:
ihre instrumentale Meisterschaft.
Von „Handwerk“ ist in dem Jurytext nirgends die Rede, schon gar nicht von dessen Voraussetzungen, sondern von Tugenden, wie sie auf hunderte andere auch zutreffen, Tugenden zum Beispiel wie „musikalische Neugier und Lust, neue Wege zu gehen“.
Der Sonderpreis des Deutschen Jazzpreises 2023 gilt keiner bekannten, im Falle Kühn & Kühn sogar kanonischen Leistung, sondern vergibt Vorschußlorbeeren für Queer Cheer – Community for “Jazz” and Improvised Music.
„Auch wenn das Kollektiv noch am Anfang steht“, will die Hauptjury nach einem knappen Jahr schon „seine bisherige, bedeutende Arbeit mit dieser Auszeichnung feiern“.
Der Initiative gehört u.a. die Pianist Julia Kadel an. Sie hat sich viel vorgenommen, sie will sich mit „Themen wie Diversität, Intersektionalität, Multiperspektivität und Interdisziplinarität auseinandersetzen“.
Die aktivistische Agenda, die sie dabei leitet, findet sich am deutlichsten ausformuliert auf der Webseite der Pianistin.
Zu den Gegnern gehören die großen -ismen: Rassimus (düften die, die ihn nicht erfahren haben, am ehesten nachvollziehen; wo „auf nationalen (Jazz) Bühnen und generell im Musikbusiness“ wäre interessant zu wissen), dann Ableismus, Klassismus und Ageism.
Näheres dürfte ein Round Table am 27.04. um 15.15 Uhr auf der jazzahead vermitteln, zu der eine online-Anmeldung nötig ist.

erstellt: 18.04.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Ahmad Jamal, 1930-2023

Ahmad Jamal KKSein Name ging selten einher ohne lobende Erwähnung derer, die sich auf ihn beriefen.
Und das waren nicht die Geringsten: Herbie Hancock (der ihn allerdings in seiner Autobiografie unerwähnt lässt) oder Keith Jarrett:
„Ahmad Jamal war der avancierteste unter den frühen Leuten (Pianisten), die ich gehört habe“.
Allen voran Miles Davis: „Alle meine Inspiration kommt von Ahmad Jamal“.
Der Pianist Hal Galper konnte als noch toppen:
„Ahmad Jamal hat den Jazz ebenso stark beeinflusst wie Louis, Duke, Bird, Coltrane und Miles. Sicher, Miles hat ihn von Zeit zu Zeit gelobt, aber Ahmads wichtigste Beiträge müssen erst noch anerkannt werden.“
In einem Interview auf seiner Homepage (2000) liefert er, zumindest für Miles Davis und John Coltrane, eine Begründung.
In Jamals „Pavanne“ (1955) findet Galper einen ähnlich vamp über D und Es wie bei Miles Davis´ „So What“ dreineinhalb Jahr später. Mehrere Töne im Gitarrensolo von Ray Crawford im selben Stück sind die gleichen wie sechs Jahre später bei John Coltranes „Impressions“.
Jamal begann früh auf dem Piano - und nicht nur in einem Stil:
„Wir haben nicht zwischen den beiden Schulen getrennt. Wir haben Bach und Ellington, Mozart und Art Tatum studiert. Wenn du im Alter von 3 Jahren anfängst, spielst du das, was du hörst“.
Er hat kein Konservatorium besucht, er hatte eine Privatlehrerin.
Mit 20 zieht er von Pittsburgh nach Chicago, konvertiert dort zum Islam, ändert demzufolge seinen Namen. Und gründet mit The Three Strings ein Schlagzeug-loses Trio.
Sein berühmtestes Album jener Jahre wird „Live at the Pershing: But not for me“ (1958), nun aber in klassischer Triobesetzung.
Und man muss sich nur sein timing, sein Faible für Wiederholungen im Titelstück anhören, um deren Faszination sogleich zu erliegen.
In späteren Jahren spielte er auch Elektro-Piano, unterlegte seine Piano-Figuren mit funk Beats („Rossiter Road“, 1986), in Partikeln tauchten sie auf in Dutzenden Rap-Songs.
Clint Eastwood nahm zwei tracks aus dem „Pershing“-Album für den Soundtrack für „Die Brücken am Fluß“ (1995).
Er war dreimal verheiratet (das erste Mal mit 17).
1994 wurde er mit dem NEA Jazz Masters (25.000 Dollar) ausgezeichnet.
Ahmad Jamal, geboren als Frederick Russell Jones am 2. Juli 1930 in Pittsburgh, starb an Prostatakrebs am 16. April 2023 zu Hause in Ashley Falls/Mass. Er wurde 92 Jahre alt.

PS (26.04.23) Für alle, die Näheres wissen wollen, bietet Ethan Iverson in seinem blog Transitional Technology zwei bemerkenswerte Handreichungen:
- eine eigene Analyse. Demnach wird in den ersten Sekunden von "But not for me" die Geschichte des Jazzpiano-Trios neu geschrieben.
- einen link zu einer Dissertation von Michael Paul Mackey, University of Pittsburgh, 2017


Foto: Brian McMillen (1980), Wikipedia
erstellt: 17.04.23
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Karl Berger, 1935-2023

Als die Nachricht kam, als erstes mal „Where Fortune smiles“ aufgelegt.
Wo John Surman, John McLaughlin, Dave Holland, Stu Martin die Tür zum FreeJazz aus den Angeln hebeln.
Mitten in diesem Sturm: ein Vibraphonist namens Karl Berger, ein deutscher Musiker zumal, uns Jazzrock-Fans damals kaum vertraut. Wie er da mithält, mit lediglich zwei Klöppeln, wo doch Gary Burton die Viererkette schon etabliert hatte - es lag nicht nur am durchdringenden Charakter des Obertonreichtums des Instrumentes, das Berger später gerne betont hat.
Das war im Mai 1970, in den Apostologic Studios zu NYC. Noch unveröffentlicht war parallel sein Mitwirken an „Escalator over the Hill“, 1968-71.
Immerhin lebte er schon ein fast ein halbes Dutzend Jahre in den USA, bestens vernetzt von Don Cherry bis Lee Konitz.
Karl Berger   1Er kommt aber - und hier werden amerikanische Augen & Ohren hellwach - aus Heidelberg, zumindest in den 50er/60ern nur vermeintlich deutsche Jazz-Provinz.
Berger begann als Hauspianist im „Cave 54“ (ein gewisser Fritz Rau debütierte dort als Kassenwart), auf diesem Posten gefolgt von Jutta Hipp.
Der „Verein zur Förderung und Pflege studentischer Geselligkeit“ war Katalysator verschiedener US-Kulturen: etliche GIs waren im Umland stationiert, sie trafen hier auf durchreisende Landsleute wie Louis Armstrong, Dizzy Gillespie, Oscar Peterson etc., örtliche Jazzkräfte begleiteten sie; es sollen aber auch Autoren wie James Baldwin und Thorton Wilder dort gelesen haben.
Berger hat nicht in seiner Heimatstadt studiert, sondern Musikwissenschaft und Soziologie an der FU Berlin. Dort wurde er 1963 promoviert mit der Arbeit „Die Funktionsbestimmung der Musik in der Sowjetideologie“.
Ein berühmter Jazz-Gegner namens Theodor W. Adorno soll Gefallen daran gefunden und ihn als PostDoc nach Frankfurt geholt haben; er erhoffte sich eine Fortsetzung der Arbeit in Richtung „Unterhaltungsmusik“. Vergeblich. In ihrem Nachruf trauert die FAZ der entgangenen Auseinandersetzung der beiden auseinanderstrebenden Kräfte nach.
Denn Berger war - trotz gegenteiliger Eindrücke - kein Freund der Theorie(n), sondern ein Mann der Tat. Ihn zog es geradezu magisch zu Don Cherry,  zunächst 1964 in Paris. 1966 folgte er ihm nach New York.
Noch früher als Gunter Hampel avancierte er zum größten Transatlantiker des deutschen Jazz.
Zwar hielt er von 1994 bis 2003 eine Professur an der nicht eben erfolgreichen Jazzabteilung der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst.
Weitaus bedeutender, ja durchaus legendär in der Reichweite gestaltete sich sein jazz- und musik-pädagogisches Wirken in den USA, nach der Creative Music Foundation 1971 mit Ornette Coleman, allem voran im Creative Music Studio in Woodstock, 1973 zusammen mit seiner (deutschen) Ehefrau, der Sängerin Ingrid Sertso.
Berger SertsoWer dort gelernt, wer dort gelehrt hat (und dies bis heute), von John Cage bis George Russell - man kommt aus dem Staunen nicht heraus. „Wenn ich noch mal Studentin wäre, dann am liebsten mit Karl“, sagt zum Beispiel Carla Bley.
Sie sagt das in der Doku „Music Mind“ (2018) von Julian Benedikt und Axel Kroell, die die ARD Mediathek dankenswerterweise vorhält.
Wenn man darin Jack DeJohnette auf seiner Veranda sieht, das Staunen von Marilyn Crispell über ihre Wahlheimat hört oder eine junge Saxophonistin am Fluss; wenn die Kamera über die bewaldeten Hügel in Upstate New York streift; wenn die unterschiedlichsten Charaktere zu ihren Instrumenten greifen (oder auch nicht. Berger propagiert geradezu das instrumentale Schweigen, Haiku-Improvisation ist seine Wortschöpfung) - man könnte neidisch werden auf dieses Gelobte Land der Kreativität. Und der Menschenfreude.
Musik war für Berger eine Heilkraft. „Sie leistet einen Beitrag dafür, dass es die Welt überhaupt noch gibt“ (1992 in einem Interview mit dem „Mannheimer Morgen“). „In Afrika gab es Stämme, in denen der Musiker und der Medizinmann ein und dieselbe Person waren. Ich fühle mich in dieser Tradition.“
Nicht alles, was er sagt, ist unbedingt zum Nennwert zu nehmen „Music Mind ist eigentlich unser Naturzustand, so sind wir natürlich“.
Es ist eine, es ist seine poetische Umschreibung dessen, was die Evolutionstheorie als die social bonding function von Musik beschreibt. Er hasste den Terminus „Weltmusik“ - und war doch einer ihrer überzeugendsten Praktiker. Als genre-übergreifender Musikpädagoge.
Unter seinen zahllosen Aufnahmen (auf die hier nicht näher eingegangen wird) entstand seine letzte im April 2022: „Heart is a Melody“, eine Zusammenarbeit mit dem Kornettisten Kirk Knuffke.
Karlhanns „Karl“ Berger, geboren am 30. März 1935 in Heidelberg, starb am 9. April 2023 in einem Krankenhaus in Albany/NY, wie der New Yorker Verlag Hudson Valley am 10. April mitteilt. Er wurde 88 Jahre alt.

erstellt: 11.04.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Tony Coe, 1934-2023

Was für ein Zufall. Vor ein paar Tagen (Ort & Zeit verschwimmen in der Erinnerung, hätten wir doch besser aufgepasst, im ÖPNV war es vermutlich nicht…) wurden wir Zeuge einer Unterhaltung über… Tony Coe.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis die beiden Stimmen die Titelmelodie zum Film „The Pink Panther“ von Henry Mancini erwähnen würden - und da fiel das erwartete Stichwort dann auch.
Weit verbreitet - aber falsch. Die beiden fielen (wie auch JC in einer ersten Fassung) einer z.B. von Wikipedia (D) verbreiteten Angabe zum Opfer. Das Tenorsolo 1963 spielte tatsächlich Plas Johnson.*
Gleichwohl hat unser Mann im Laufe von sieben Jahrzehnten an einer kaum überschaubaren Anzahl von Produktionen mitgewirkt, darunter in der Tat "Peter Gunn" von Mancini.
Und gut dreißig unter eigenem Namen bzw. in Co-Leadership; darunter 1985 sein Album "Mainly Mancini", verbunden mit einer Kritik an seiner eigenen schlechten Intonation.
Tony CoeEr kommt aus Canterbury, er hat - wie Mitglieder von Soft Machine - die Simon Langton Grammar School for Boys besucht, eines seiner Alben heißt „Canterbury Song“ (1989).
Mit Richard Sinclair (Caravan, Hatfield & The North) hat er mehrmals gespielt, 1973 auf eine Caravan-Album gastiert („For Girls Who Grow Plump in the Night)" - zur Canterbury Scene gehörte er stilistisch definitiv nicht.
Er war - in dieser Hinsicht nicht unähnlich seinem deutschen Kollegen Gerd Dudek, hoch adaptionsfähig und stellenweise gleichzeitig in der Avantgarde als auch im Mainsteam zu Hause.
Man hörte ihn im Verein mit Derek Bailey, aber auch jahrelang mit Hymphrey Littleton, mit Peter Brötzmann ebenso wie mit Paul McCartney, bei den Hollies ebenso wie bei Dizzy Gillespie.
Er gehörte zur berühmten Sax Section der Clarke/Boland Big Band, auf 17 CDs ist sein Wirken mit dem Wiener Klangästheten Franz Koglmann dokumentiert. Bei den Melody Four konnte man lachen, er hatte auch sonst Humor: ein Engagement bei Count Basie lehnte er ab, das hätte „nicht länger als 14 Tage gedauert“.
Beim Verzehr von Eiern aber verstand er keinen Spaß.
Die Klarinette erlernte er in Privatunterricht, das Tenorsaxophon autodidaktisch; beide Instrumente (wie auch Baßklarinette) spielte er durchgängig.
Er hat auch, wie nicht nur der Rough Guide Jazz mitteilt, Komposition studiert, u.a. bei Richard Rodney Bennett und dabei eine Vorliebe für Alban Berg entwickelt. Bennett wird über Coe´s Thirdstream-Opus „Zeitgeist“ (1976) zustimmend mit den Worten zitiert: „Die Beschäftigung mit Alban Bergs Werk scheint sich niedergeschlagen zu haben“.
Er war schließlich der erste Nicht-Amerikaner, der mit dem dänischen Jazzpar-Preis ausgezeichnet wurde (1995).
Anthony George Coe, genannt Tony, geboren am 29. November 1934 in Canterbury/Kent, „died peacefully at hospital“ (Kent online) dortselbst am 16. März 2023. Er wurde 88 Jahre alt.
PS: Das britische Jazz Journal re-publiziert eine Art blindfold test anlässlich des Todes von Tony Coe. Darin äußert er sehr dezidierte Ansichten über Eric Dolphy, Jan Garbarek, die Jazz-Avantgarde, Soft Machine ("Ich will nicht prahlen, aber ich habe sie gewissermaßen ins Leben gerufen") und sein Mitwirken bei "Lady Madonna" - das er nicht wiedererkennt!

*JC dankt Odilo Clausnitzer für die Korrektur.
erstellt: 20.03.23

©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

 

Wayne Shorter, 1933 - 2023

Wayne Shorter ist verstorben.
Die Jazzpolizei empfiehlt nicht eine, sondern acht Schweigeminuten.
Sie sind hörend zu verbringen.
Zum Beispiel mit dem Auftritt des Wayne Shorter Quintetts 1996 beim Montreux Festival, in der uptempo funk Version von „Over Shadow Hill Way“
(mit David Gilmore, g, Jim Beard, keyb, Alphonso Johnson, bg, Rodney Holmes, dr).
Man könnte anschließend das Album „High Life“ (1995) auflegen, zum Beispiel „On the Milky Way Express“ und „Midnight in Carlotta´s Hair“, um Kraft & Anmut ähnlich „Over Shadow Hill Way“ zu erfahren - die Vorder- und Rückseiten in den Werken eines großen Jazzkomponisten.
Und damit hätten wir noch gar nicht die ganz große Retrospektive begonnen, wären noch gar nicht bei „Footprints“, „Nefertiti“, „Infant Eyes“, „Paraphernalia“ und vielen anderen gelandet. Und die avancierten Kader bei "Live at The Plugged Nickel" (1965).
Es würden, mit anderen Worten, Schweigestunden, ja Schweigetage.
 Das Werk ist immens, es gehört zu den fruchtbarsten der Jazzgeschichte.
Der Pianist und Essayist Ben Sidran wählte einst dieses Bild: wenn Miles Davis einen Cheeseburger bestellt, dann verwandele sich dieser in einen Jazzburger: „This Man defines“.
Nicht weil er fünf Jahre bei Miles verbracht hat (1964-69), so wie vorher fünf Jahre bei Art Blakey (1959-64), träfe eine modulierte Metapher auf ihn zu.
Sondern weil Wayne Shorter über sechs Jahrzehnte geradezu idealtypisch zentrale Werte dieser Gattung verkörpert hat: finding one´s own voice, als Saxophonist, als Bandleader/Co-Bandleader (Weather Report), noch mehr als Komponist, last not least: mit einer ungeheueren Anschlußfähigkeit.
Dazu gehört, very last not least, ein modellhaftes Spätwerk: wie kaum ein anderer hat er seine Kompositionen, in Begleitung von Vertretern der nachfolgenden Generation (vulgo: John Patitucci, Danilo Perez, Brian Blade) einer fruchtbaren Revision unterzogen. 
Tonnen von YouTube-Videos (z.B. 2014 beim Jazzfest Bonn) zeugen von Entzücken & Überraschung eines älteren Herrn im Garten seiner eigenen Saaten.
Wie "ein Mönch kommender Heiterkeiten" sitzt er da und ergötzt sich gar nicht so klammheimlich daran, wie die jüngeren Kerle seine Pflanzen umtopfen (man möchte sich hier mit fiebriger Erregung die schöne Metapher borgen von Rainald Goetz (die ihm jüngst mit Blick auf ein Foto des jungen Hans Magnus Enzensberger zugeflogen ist.)
Wayne Shorter, geboren am 25. August 1933 in Newark/NJ, ist am 2. März 2023 in Los Angeles gestorben; wie aus Familienkreisen zu erfahren ist, eine „Erlösung“ für den Schwerkranken. Er wurde 89 Jahre alt.

erstellt: 02.03.23
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So geht es Keith Jarrett

Ganz ehrlich, würde der Interviewer nicht umfänglich das Gespräch vorbereiten, indem er Fotos zeigt und Video-Auschnitte, schließlich neben ihm sitzt und ihn mit seinem Namen anspricht - man hätte Keith Jarrett nicht wiedererkannt.
Da ist schon physiognomisch nichts mehr von der dominanten Person, die über Jahrzehnte Konzertsäle wortwörtlich beherrschte. Auch der stimmliche Ausdruck ist deutlich beeinträchtigt.
Was er noch vermag, nach zwei Schlaganfällen 2018, das konnte man im August 2022 bei NPR erfahren (nur noch rudimentär mit der rechten Hand spielen).
Aber nachlesen und jetzt auch optisch erfahren, wie die linke Spielhand schlaff in einer Schlaufe hängt und die rechte erkennbar doch noch einiges weiß (zum Beispiel das Thema von „Desafinado“), das ist eine ganz andere Erfahrung. 
Man wird Zeuge von Restbeständen einer einst als genial gefeierten, individuellen Sensomotorik.
Und doch, Ethan Iverson, Pianist und neuer Volkspädagoge des Jazz, erkennt Mängel darin auch in Hochzeiten.
Er verlinkt zwar zum neuen Video von Rick Beato, aber zum Stichwort von Jarrett, er habe statt Quarten a la McCoy Tyner lieber „Bach-ian“, also kontrapunktisch im europäischen Sinne gespielt, kramt Iverson auf seinem Blog Transitional Technology seine alte Abrechnung wieder heraus, wonach Jarrett in puncto Bebop seine Hausaufgaben nicht gemacht habe (im Gegensatz zu Chick Corea):

„What ever it is, Bach doesn’t help. (Bud Powell would help.)“
Das klingt beckmesserisch, ist aber nicht so gemeint. Daraus kann man lernen.
Und er schließt mit einer tiefen Verbeugung: im Hinblick auf die „esoterische ´atonale und doch pulsierende´ Ästhetik - wie das erste Stück des Bordeaux-Albums - erweist sich Keith vielleicht als der Größte aller Zeiten.“

erstellt: 27.02.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Applaus in NRW

Das Füllhörnchen des Bundes - der Applaus-Preis - hat seit 2009 einen regionalen Vorläufer in NRW: die Spielstättenprogrammprämie.
Damit zeichnet das Ministerium für Kultur und Wissenschaft gemeinsam mit dem Landesmusikrat NRW „kleine und mittlere Foren für Jazz und Popmusik aus, die in Form ihrer Live-Programme Musikerinnen und Musikern regelmäßige Auftrittsmöglichkeiten bieten.“
Lokal gesehen geht der Löwenanteil für die Spielzeit 2022/23 ins Tal: an das Loch (15.000 €), die Bandfabrik - Kultur am Rande e.V. (10.000 €) sowie erneut der ort - Peter Kowald-Gesellschaft e.V. (5.000 €), alle Wuppertal.
In der obersten Kategorie (15.000 €) werden desweiteren ausgezeichnet: Klangbrücke (Aachen) sowie Loft 2ndFloor (Köln);
hier Samuel Gapp (l) und Felix Hauptmann (r) am 13.01.23
Samuel Gapp Felix Hauptmann 1

Je 10.000 € erhalten ZAKK (Düsseldorf), Black Box im Cuba (Münster), Bunker Ulmenwall (Bielefeld), Goldkante (Bochum) und das Domicil (Dortmund).
5.000 € gehen jeweils an In Situ Arts Society (Bonn), Jazz Initiative Dinslaken, Jazzkeller Krefeld, Jazzschmiede Düsseldorf und King Georg (Köln).

erstellt: 19.01.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Jeff Beck, 1944-2023

Jeff BeckVielleicht gibt sich demnächst eine/r der elektrischen Kunst auf sechs Saiten Kundige/r die Mühe, ähnlich wie Ethan Iverson, aus subjektiver Perspektive, aber penibel, den Größten zu selektieren.
Iverson hat aus den Big Four des Jazzpianos seinen Favoriten destilliert.
Warum nicht aus Jazzperspektive nun mal den größten Rockgitarristen wählen?
Eric Clapton käme sicher nicht in die engere Wahl, vermutlich blieben nur Jimi Hendrix und Jeff Beck übrig.
Aber, wäre das nicht spannend genug?
Sicher, im Falle Hendrix, fielen die persönlichen Beziehungen prominenter aus; immerhin hat er mehrfach Miles getroffen.
Beck aber hat mit John McLaughlin gespielt, mit Stanley Clarke, mit Jan Hammer, Eddie Harris, nicht zu vergessen Will Lee, auf „Oh!“ (in puncto Grooves ein Hammer-Album!), wo Beck in Hendrix´ „Driftin“ davonschwebt, als sei das Stück immer seines gewesen.
Beck hat Jazzmusiker interpretiert: John Lewis, Charles Mingus, Billy Cobham, John McLaughlin.
In der Hauptsache aber: was für ein timing, das Blues-Feeling, die Blues-Triller, die vamps, die „Stottermelodik“, die extremen bendings, die schweren Shuffle-Grooves, die abrupten Klangfarben-Wechsel, das kontrollierte Feedback!
(Für Jazz-Ohren) das alles in höchster Konzentration auf „Performing this Week“, dem Live-Mitschnitt aus einer Woche im Ronnie Scott´s Club zu London, 2007.
Gerade seiner Andersartigkeit wegen verehren ihn Jazzmusiker. Oder, wie einer von ihnen, Mark Wingfield, in London Jazz News schreibt:
"Mit ein oder zwei Noten auf der Gitarre viel zu sagen, erfordert einen ganz anderen Bereich von Handwerk und Hingabe. In diesem Bereich war Jeff ein Meister. Man hörte ihn zwar nicht 16tel-Noten-BeBop oder Tonleiterläufe spielen, aber was er mit einer Handvoll Noten oder sogar nur einer einzelnen Note anstellen konnte, konnte einen um den Verstand bringen".
(hier ringt der professionelle Beobachter Rick Beato um Worte, um seine Begeisterung auszudrücken.)
Geoffrey „Jeff“ Arnold Beck, geboren am 24. Juni 1944 in Wallington/Surrey, verstarb am 10. Januar 2023 in Wadhurst/East Sussex an bakterieller Mengenitis.
Er wurde 78 Jahre alt.

Foto: Mandy Hall (CC BY 2.0)
erstellt: 12.01.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Applaus "Applaus 2022"!

Klaus und Rita Applaus 1Man möchte dieser Tage wirklich nicht mit Claudia Roth tauschen.
Probleme an Stadtschloß und Humboldtforum, die FAZ quittiert ihr Wirken als Kulturstaatsministerin mit  „Das verlorene Jahr der Kulturpolitik“.
Schön, dass sie dem Berliner Treibhaus für einen Abend entkommen und in Erfurt wortwörtlich Applaus spenden konnte, indem sie 2,45 Mio Euro an Bedürftige verteilt, die nun wirlich keine größeren Summen gewohnt sind.
So partizipiert die Peter Kowald Gesellschaft/ort e.V. Wuppertal zum zweiten Mal in Folge und zum fünften Male insgesamt an der Spielstättenförderung des Bundes.
Dies zwar nur in der untersten Kategorie „beste kleine Spielstätten und Konzertreihen“, wo 10.000 Euro eine Menge Geld sind.
Zufällig befanden sich unsere "ort"-Freunde Rita (Küster) und Klaus (Bocken) gleich neben dem Fotografen (Michael Reichel), und so begann Claudia Roth das erste von rund 100 Gratulationsfotos mit ihnen.
Wir gratulieren herzlich.

erstellt: 17.11.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

Gerd Dudek, 1938-2022

Im Sommer sah ich ihn noch am Decksteiner Weiher; ein älterer Herr unbestimmten Alters, trotz der Hitze schwarz gekleidet, mit Jacket.
Im Vorbeijoggen erkannte ich ihn, warf grüßend die recht Hand in die Höh´. Als ich ihn beim nächsten Mal schon von weitem auf einer Bank sah, startete ich das „Hallo“ frühzeitig mit beiden Händen.
Zwischen 1974-80 wohnten wir Haus an Haus in Sülz; einmal sah ich ihn beim Verlassen des Hauses, einen Saxophonton habe ich von dort nie vernommen (warum auch sollte er in einer Mietwohnung üben?)
csm dudek gerd dez 21 live 3a8cc08b2cEr war der große Schweiger der Kölner Szene. Das berühmte Diktum, der Musiker XYZ drücke sich durch sein Horn aus, traf auf ihn in besonderem Maße zu.
Und es waren nicht nur in Köln etliche, die genau das hören wollten.
Er kam dorthin aus Siegen. Mit 14, 15 spielte er Altsaxophon in einer lokalen Big Band, irgendwann tourt eine professionelle Big Band durch die Stadt, er schließt sich an, zusammen mit seinem Bruder Ossi. Den Job als Bauzeichner hängt er an den Nagel und tingelt die zweite Hälfte der 50er durch die Lande.
Wohin und wann genau, ist schwer zu rekonstruieren; aber dem talentierten Nachwuchsmusiker (so jedenfalls geht es aus einem Gespräch mit Karsten Mützelfeldt hervor) präsentiert sich die junge Bundesrepublik keineswegs düster & muffig, wie immer die Rede davon ist.
Frankfurt, Hanau, Bad Kitzingen, Stuttgart, Jazzclubs der US-Soldaten, große Hotels, nicht nur Jazz, sondern viel, viel Tanzmusik, "die großen Hotels, die waren eigentlich fantastisch für damalige Zeiten, drei Monate in Garmisch im Sommer, das war wie der beste Urlaub".
Hamburg nicht zu vergessen; "ich habe noch Bilder (lacht) mit Oscar Pettiford, ich als 18-, 19-jähriger", im November 1958 sein erster NDR Jazzworkshop mit Pettiford, Kenny Clarke, Hans Koller, Attila Zoller.
Im Februar 1960 holt ihn Kurt Edelhagen in sein Orchester. 1964, die UDSSR-Tournee macht er noch mit; Leningrad zum Beispiel, Frühstück im großen Hotel, "am Nebentisch sitzt Marlene Dietrich!"
Obwohl der Saxophonsatz von Edelhagen "für mich eine unglaubliche Schule war", steigt er im selben Jahr aus; zu viele TV-Shows, zuviel Warterei.
Stilistisch (wenn wir in dieser Hinsicht dem damaligen Eindruck von Manfred Schoof folgen) gleicht er nicht nur Stan Getz, "man konnte keinen Unterschied feststellen, auch mit der gleichen Technik" (in Kisiedu, "European Echos: Jazz Experimentalism in Germany, 1950-1975", Diss, 2014).
Mitte des Jahrzehnts verlagert sich Dudeks stilistischer Schwerpunkt auf das Avantgarde-Dreieck Köln>Wuppertal>Frankfurt.
Als Startpunkt in der Domstadt schält sich der „Kintopp Saloon“ heraus, der Legende nach ein Gewusel aus Edelhagen-Musikern und Amateuren auf 42qm.
Schlippenbach, Liebezeit, Niebergall, Dudek, die späteren Mitglieder des Manfred Schoof Quintetts, aber auch des Globe Unity Orchestra, sie entledigen sich der Bestandteile der Jazztradition dort erfolgreicher als des verrotteten Kintopp-Klaviers - es soll auf Entsorgungsfahrt mit einem anderen Wagen zusammengestoßen sein.
1971 ist Dudek erneut in Frankfurt/Main, nun als Mitglied des Albert Mangelsdorff Quintetts. Es war eine Rückkehr, schon Ende der 50er hatte er beim damals noch nicht "amtierenden Posaunenweltmeister" dessen Saxophonisten Heinz Sauer gelegentlich vertreten.
Dort, so hebt ein Autor hervor, wirkt er am 24. März 1968 tatsächlich mit „bei der Erstaufführung von Peter Brötzmanns ´Machine Gun´“  - beim Deutschen Jazzfestival, vier Tage vor der Aufzeichnung des später legendären Albums in Bremen (dann ohne ihn).
Demselben Autor (Wolfram Knauer) verdanken wir den Hinweis auf das Namensspielerische Stück „Do dat Dudek“, das auf dem Joachim Kühn-Album „This Way out“ (1973) so abgeht, wie der Titel lautmalerisch verspricht: Ornette Coleman-artiges Thema, ein Coltrane´nesk flüssiges Tenor, ein motivischer Improvisator.
Das war sein Markenzeichen, ein technisch brillantes, glänzend angepasstes Tenor, das er - auch auf dem Sopran - beibehielt bei seiner langen, seltenen Doppelgleisigkeit: in der Avantgarde und  im Modernen Mainstream, in dem man ihn in den letzten Jahren überwiegend antreffen konnte.
Gerd Dudek Kreuz 1Kein Zufall, dass sein Tod von einem in Köln maßgeblichen Musiker auf diesem Sektor verkündet wurde,
vom Pianisten Martin Sasse.
Gerhard Rochus „Gerd“ Dudek
, geboren am 28. September 1938 in Groß Döbbern bei Breslau, verstarb am 3. November 2022 in Köln, er wurde 84 Jahre alt.

Über sechs Jahrzehnte war er der Kölner Lyrikerin Ingeborg Drews (1938-2019) verbunden, zuletzt noch am 29. Juli 2022 spielte er anlässlich einer Lesung ihrer Gedichte, u.a. deren Lieblings-Song "Nature Boy" (ab 1:29:50).
Die Beerdigung fand am 23. November 2022 auf dem Hermelsbacher Friedhof in Siegen statt, gefolgt von einem Farewell Concert am 24. Januar 2023 im Stadtgarten Köln.
Am 11. Februar 2023 ein ausführlicher Nachruf in SWR 2.
Manuskript

Foto: Gerhard Richter (Gerd Dudek)
erstellt: 05.11.22 (ergänzt am 08.11.22 und 23.11.22)
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

Pharoah Sanders, 1940 - 2022

Pharoah and the Underground Pharoah Sanders 01Obwohl er noch „in hohem Alter“ regelmäßig aufgetreten sein soll, bleibt dies zumindest diskografisch eine Leerstelle, jedenfalls im Hinblick auf Aufnahmen in eigener Regie.
2021 meldete er sich, nach 20 Jahren Pause, diesbezüglich zurück, mit einer Produktion, in der der britische Elektroniker Floating Points vor dem großen Vorhang des London Symphony Orchestra ihn allerdings wie einen Gast ausstellt, „Promises“.
Ein Album, so darf man freundlich sagen, das „kontrovers“ diskutiert wurde, von einer Mehrheit enthusiastisch begrüßt, von einer Minderheit, zu der wir uns zählen, kritisch beurteilt.
Nun wird es fleißig aufgerufen, aber als „Vermächtnis“ zählt dann doch eher sein Album „Karma“ (1969), darauf der „wahrscheinlich einzige Megahit des Avantgarde Jazz“ (SZ), nämlich „The Creator has a Masterplan“, gesungen und stellenweise gejodelt von dem beeindruckenden Leon Thomas (1937-1999).
Ob dies ein „Megahit“ oder überhaupt ein Hit war, sei dahingestellt.
Nicht ganz falsch aber ist das Gemeinte, die New York Times nennt es „einen Gipfel des hingebungsvollen Free Jazz“ und zielt damit auf das Einfache im Komplizierten:
ein schlichtes Kernmotiv, verwandt dem von John Coltrane in „A Love Supreme“ (1964) und andererseits sich überbietende Expression, bis zur Auflösung von Tonalität und Metrum.
Es war Coltrane, an dessen Seite er ab 1965 zu der Größe wuchs, die ihn befähigte, nach dessen Tod (1967), zunächst auch mit der Witwe Alice, das Erbe fortzuführen - ohne vom Ton her dessen clone zu sein.
Coltrane hatte ihn in seinem eigenen Quintett entdeckt, dessen Plattendebüt vom September 1964 („Pharaoh Sanders Quintet“) mit einem Vokalverdreher falsch betitelt ist.
Den Namen „Pharoah“ nahm er auf Anraten von Sun Ra an; eine seiner ersten Stationen in New York City, wo er 1962 noch unter seinem Geburtsnamen Ferell Sanders eingetroffen war.
Das, was sich mit spirituellen Titeln („Black Unity“, „Elevation“, „Journey to the One“), erweitert auch um afrikanische und indische Einflüsse ausdehnte, bis hin zu einem Ausflug in den Schmusejazz („Love will find a way“, 1978), gab schon damals und erst recht heute wieder Anlaß zu kosmischen Deutungen seiner Musik, die nicht selten eben auch komisch sind.
Er war ein herausragender Tenorsaxophonist, gelegentlich auch Sopransaxophonist und Flötist, eine jazz-historische Gestalt.
Ob auch ein „Visionär“, wie oft herausgestellt, wäre eine eingehende Untersuchung wert - die sich nicht von Titeln verführen lässt.
Pharoah Sanders, geboren als Ferell Sanders am 13. Oktober 1940 in Little Rock/AR, gestorben am 24. September 2022 in Los Angeles, kurz vor seinem 82. Geburtstag.

Foto: Oliver Abels/Wikipedia
erstellt: 26.09.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten