STEVE COLEMAN AND FIVE ELEMENTS Lucidarium *****

1. Ten Steppin´ (Steve Coleman), 2. Lucidarium, 3. Plagal Transitions, 4. Meditations on Cardinal 137, 5. Kabbalah (Bunky Green, Steve Coleman), 6. Beyond all we know, 7. Diasporatic Transitions I, 8. Diasporatic Transitions II, 9. Egypt to Crypts in Hieroglyphs, 10. Perspicuity (Doug Hammond)

Steve Coleman
- as, Ravi Coltrane - ts, Jonathan Finlayson, Ralph Alessi - tp, Gregoire Maret - harm, Anthony Tidd - bg, Drew Gress - b, Dafnis Prieto - dr, Dana Leong - tb, cello; Mat Maneri - v, Craig Taborn - keyb, Ramon Garcia Perez, Yosvany Terry - perc, Jen Shyu, Kyoko Kitamura, Judith Berkson, Theo Bleckmann, Kokayi Lorin Benedict - voc

rec 27.-20.5.2003
SunnyMoon/Label Bleu LBLC 6673; LC-Nr 09743

Es gibt Alben, da möche man Mäuschen sein...ob die, die sie
loben, ob die sie kaufen, sie auch wirklich hören; neben dem CD-Player hocken und Mäuse-Buch führen, wann/wie lange/welcher track gehört wird. Z.B. "Meditations on Cardinal", kunstferne, ältere Kader pflegten hier die Charakterisierung "Katzenmusik", oder "Musik, als ob ein Pferd beerdigt wird."
Wir ahnen: die Intonation ist "schief". Einem Steve Coleman geht das nicht per Zufall durch, sondern nach Plan. Und so verrät er im booklet, vieles der Musik hier basiere auf einer "erweiterten Tonalität". Eine genauere Angabe bleibt er schuldig, ausser, es handele sich um "ein 60-Töne-Netz auf Oktav-Zyklen". whatever that means.
Wer´s nicht gehört hat, stellt sich vorsichtshalber auf Mikrotonalität ein. Die kennen wir aus manchen Fraktionen der Neuen Musik; dort hingegen ist die Kategorie "
Groove" unbekannt, schon gar ein Groove a la Steve Coleman. Wenn nun beide Ausdrucksformen zusammenfinden, wie just in "Meditations on Cardinal", dann wird´s gewöhnungsbedürftig, grenzwertig oder wie dergleichen Ausflüchte heute so bezeichnet werden.
Dieses "
Steve Coleman goes Donaueschingen" wäre halbwegs erträglich, würden nicht vokale Stimmen, hauptsächlich von Damen geführt, in bewusst kunstloser Manier - wahrscheinliche wichtige - Dinge vortragen.
"Es ist sehr schwierig, über Musik in Worten zu sprechen", schreibt Steve Coleman weiter - gleichwohl lautet der Satz zuvor: "Mit Hilfe der Musik präsentieren wir Ideen, die von unserer Verbindung zur Natur handeln." Also, Nichts Genaues weiss man nicht!
Halten wir uns also an das Handfeste. Auf der Besetzungebene fällt auf, dass der langjährige Schlagzeuger Sean Rickman fehlt, ebenso der gleichfalls langjährige Bassist Reggie Washington. Zuletzt war jener in der ungewohnten Rolle am Kontrabass zu hören, jetzt ausfüllt von Drew Gress. Ein Keyboardspieler ist wieder dabei,
Craig Taborn, und dessen Performance hier verdient ebenso ein Ausrufezeichen wie diejenige des Schweizer Mundharmonikaspielers Gregoire Maret.
Welche Beziehung zur Natur auch immer intendiert sein mag, "Plagal Transitions" jedenalls steht vollständig in der der langen Tradition Steve Colemans: eine uptempo
Bebop-Nummer im M-Base-Stil, exekutiert von einem Oktett (plus Rap) in unnachahmlicher Weise. Danach hebt das schon beschrieben Elend an. Es fliesst in "Kabbalah" herüber, das rasch in ein Thema a la Vienna Art Orchestra sowie einen schnellen funk-Groove mutiert und - gottlob - ein paar Soli enthält, u.a. eines von Craig Taborn. Kein anderer füllt derzeit besser die Positin eines Pianisten zwischen free-und time-bezogenem Spiel aus.
Lange muss man warten, bis das Afro-Amerikanische wieder zu seinem Recht kommt. Track 9 startet wieder mit der Anmutung "Neue Musik aus der Provinz" - bei 3:49 schiebt sich ein funk darunter, bei 4:03 übernimmt Kokayi das Ruder, aber die beiden Damenstimmen wollen einfach nicht weichen...
Das Album schliesst mit einem swing a la Mingus, der aber von Coleman´s früheren Bandleader
Doug Hammond stammt. Es lässt unsereins ratlos zurück ... aber vielleicht habe ich ja alles miss-, oder auch gar nicht verstanden.

©Michael Rüsenberg, 2004, Nachdruck verboten