BRANFORD MARSALIS QUARTET Eternal *******

1. The Ruby and the Pearl (Raymond Evans, Livingston), 2. Reika´s Loss (Jeff Tain Watts), 3. Gloomy Sunday (Seress, Javor, Lewis), 4. The lonely Swan (Calderazzo), 5. Dinner for one please, James (Michael Carr), 6. Muldoon (Eric Revis), 7. Eternal (Branford Marsalis)

Branford Marsalis
- ss, ts; Joey Calderazzo - p, Eric Revis - b, Jeff "Tain" Watts - dr

rec 7.-10.10.2003
in-akustik/Marsalis Music 11661-3309-2

Gelänge es noch, dieses Album unvorbereitet zu hören, ohne Kenntnis der zahlreichen Rezensionen - man würde sich wundern. Das grösste
powerhouse Ensemble des Post-Bop beginnt mit ... einer Ballade im Rumba-Stil! Danach nimmt das Tempo mitnichten zu, es sinkt weiter ab, bis mit track 3 ein Mass erreicht ist, das Sten Nadolny ("Die Entdeckung der Langsamkeit") aus dem Herzen spräche. Joey Calderazzo haucht Akkorde, als befände er sich bei Debussy, und Branford startet sein Solo mit einem Saxophon-Pfurz a la Ben Webster, der erst einmal eins-zwei-drei Schläge lang ruht, bis kurz vor Taktende die Fortsetzung folgt.
"Gloomy Sunday", der berühmte Billie-Holiday-Song, ist der konzeptionelle Höhepunkt dieses Albums, das ausschliesslich aus
Balladen besteht. Der Anstoss dazu, schreibt Branford in den liner notes (die man sich online, unter marsalismusic.com abrufen muss), sei 1996 gekommen, als zwei Hörerinnen, unabhängig voneinander, vortrugen, "A thousand Autumns" (aus dem Album "The Dark Keys") habe sie zum Weinen gebracht.
Diese Meldung ist weniger
romantisch, als sie klingt. Die beiden - wir wissen nicht, ob sie ihrer Aussage mit ihrer äusseren Erscheining Nachdruck verliehen konnten - haben jedenfalls unbeabsichtigt Branford hellhörig gemacht. Zum einen, schreibt er, sei ein solcher Satz über Jazz heute selten zu hören, zum anderen räumte er Branfords Selbstzweifel aus, er könne Balladen nicht angemessen interpretieren.
Jahre zuvor muss ihn demnach ein älterer Kollege angemacht haben, er habe die Bridge in "Lament" von
J.J. Johnson nicht richtig gespielt. Darauf aber, so sinniert Branford in den liner notes, kann es letztlich nicht angekommen sein, weil Miles Davis "häufig die Melodie gar nicht spielte; es ging um den emotionalen Ausdruck."
Nun wird dieser Zustand sehr gerne beschworen, aber wenn man ihn beschreiben, gar vergleichen will ... steht er häufig nicht zur Verfügung - zumal wenn eine musikalische Konzeption ihn auch noch als zentrale Instanz plakatiert.
Ist "Eternal" also eine durch und durch
emotionale Veranstaltung, ein Fest der Melancholie?
Ich kann´s nicht mit Sicherheit behaupten, es wird - wie bei jeder anderen Musik auch - von der Tagesform des
Hörers abhängen.
Ich kann mich nur an die äusseren, der Beschreibung eher zugänglichen Faktoren halten. Danach sind Balladen-Alben jazzhistorisch keineswegs eine Rarität; aber eine solche Ruhe, ein solches
Ausatmen der langsamen Tempi, die dann doch nicht - wie erwartet - sich aufschwingen, das gibt es selten. Selten auch, dass ein Tenorist seinen Lautstärkegrad so zu zügeln versteht, ohne an Artikulation zu verlieren.
Die grosse Ausnahme bildet das Titelstück. Es ist von Anfang an tempo
rubato, Jeff Tain Watts schlägt Variationen, die nach aller Erfahrung an Dynamik gewinnen (müssen). Und so kommt es: "Eternal" wächst in einem langgestrekten crescendo heran, ein wenig coltrane-nesk, in ferner Verwandtschaft zum frühen Garbarek, mit wunderbarer Interaktion - und sinkt dann wieder auf den gehauchten Eingangspegel hinab.

©Michael Rüsenberg, 2004, Alle Rechte vorbehalten