WAYNE SHORTER QUARTET Beyond the Sound Barrier ********

WAYNE SHORTER QUARTET Beyond the Sound Barrier ********

1. Smilin´ trough (Arthur Penn), 2. As far as the Eye can see (Wayne Shorter), 3. On Wings of Song (Felix Mendelssohn), 4. Tinker Bell (Wayne Shorter Quartet), 5. Joy Ryder (Wayne Shorter), 6. Over Shadow Hill Way, 7. Adventures aboard the Golden Mean, 8. Beyond the Sound Barrier

Wayne Shorter - ss, ts; Danilo Perez - p, John Patitucci - b, Brian Blade - dr

rec 11/2002 - 04/2004

Universal/Verve 060249881281 5; LC-Nr 00383

Wer in den vergangenen 3 Jahren die Chance
& das Vergnügen hatte, dieses Quartett auf einer Bühne zu erleben, dem beschert dieses Album ein dejavu der Extraklasse. Nach dem grossartigen Debüt "Footprints live!" (2002) ist hier nun der andere Teil des Programmes nachzuverfolgen, was unsereins schon mehrfach in "Hab acht"-Stellung auf der Stuhlkante hat mitfibern lassen, namentlich die beiden 21. Jahrhundert-Versionen von Shorter´s "Over Shadow Hill Way" und "Joy Ryder" (aus dem gleichnamigen Studioalbum von 1988).
Was
Wayne Shorter und Brian Blade mit Dave Holland und Herbie Hancock auf einer letztjährigen Tournee nicht gelang - mit der anderen Hälfte Patitucci und Perez gelingt es brillant: Improvisation nicht über die Form, sondern mit den Bestandteilen der Form.
Wie viele andere Musiker auch sind die Mitglieder dieses Quartetts mit der Architektur ihrer jeweiligen Komposition vertraut; sie können sich, "wenn´s brennt", jederzeit auf die tragenden Elemente zurückziehen. Viel lieber zerlegen sie ihr Gebäude in Einzelteile und setzen es immer wieder neu zusammen; ein jedes Konzert, ja ein jeder Moment während der Interpretation bedeutet einen Perspektivwechsel.
Der Zuhörer hat weitaus mehr von dieser Darbietung als im "reinen" Free Jazz: während jener gewissermassen nur
energetisch zu erleben ist, weil der Bezugsrahmen der ausübenden Musiker häufig unklar bleibt, sind die Elemente einer Wayne-Shorter-Komposition leicht zu identifizieren. Wer einmal "Joy Ryder" gehört hat, kann ohne Mühe den Prozess von dessen De-Konstruktion bis auf die Partikelebene nachverfolgen. Der grosse Genuß des Hörens beschränkt sich aber keineswegs auf den Effekt des Wiedererkennens, sondern speist sich vor allem aus dem Prozess selbst, aus der beinahe unberechenbaren Art, wie die Elemente zueinander in Beziehung gesetzt werden. Selten nämlich klingt ein Takt (wenn man noch davon sprechen kann) wie sein Vorgänger oder sein Nachfolger: die Mitglieder dieses Quartetts bedienen sich, wenn auch meist flüchtig, der ganzen Palette der Gestaltungsmöglichkeiten des Jazz, sodass die New York Times neulich die schöne Metapher wählte, man beobachte quasi "die beschleunigte Wiedergabe von Wetterbildern"
Eine zentrale Rolle fällt dabei
Brian Blade zu, dem wohl interaktivsten unter den heutigen Jazz-Schlagzeugern. (David Binney, der ihn auch in einem seiner Ensembles hat, sagt, Blade wisse nie im voraus, was er im nächsten Moment spielen werde.) Brian Blade ist geradezu die Inkarnation der Intuition, ein Genie des Augenblick-Handelns, der Lösungen anbietet, die immer wieder frappieren - und von den anderen kongenial aufgegriffen und retourniert werden.
Nur einem
Tölpel aus der gemeinen deutschen Jazzkritik, der gewöhnlich auf den Ohren sitzt, konnte dies entgehen: "Einzig Brian Blade drängt sich mitunter in den Vordergrund, könnte mehr Sensibilität walten lassen". (Allein das Beamten-Verb "walten lassen" ist dieser Grossen Kunst des Zeitgestaltens so fern wie die Erde vom Pluto.)
Die Musiker verstecken ihre eigene Freude an der gelungenen Darbietung nicht hinter der Maske einer professionellen Blasiertheit, im Gegenteil, mehrfach hört man sie lauthals jubeln; möglicherweise weil ihnen schon wieder ein Dreh eingefallen ist, den sie noch nicht kannten.
Der Zuhörer kann ihre Freude teilen. Das gelingt bei den älteren Stücken von
Wayne Shorter besser, sie sind eindringlicher gestaltet; durchaus aber auch bei der uns sicher weniger bekannten Filmmusik "Smilin´ through" von 1941.
Wayne Shorter ist erneut ein eindrucksvolles Alterswerk geglückt, das dem Trend seiner Altersgenossen, ihre grossen Momente der Vergangenheit lediglich zu zelebrieren, eine geradezu fiebrige Praxis entgegensetzt.
Ärgerlich - und deshalb
Punktabzug - ist freilich die Edition dieser Live-Mitschnitte mit Reißblenden und Ausblenden mitten in Musik. Offenkundig hat man die Veröffentlichung eines Doppel-Albums gescheut - was der Bedeutung dieser Musik freilich angemessen gewesen wäre.
erstellt: 01.07.05

©Michael Rüsenberg, 2005, Nachdruck verboten