DAERR/SIEVERTS/JÜTTE Germany 12 Points ******

1. Du kannst nicht immer 17 sein (Siegel). 2. Dschingis Khan, blue, 3. Ein bisschen Frieden I, 4. Dschingis Khan, swing, 5. Do you speak English, 6. Theater, 7. Dann heirat doch dein Büro, 8. Moskau, 9. Dschingis Khan, reggae, 10. Fiesta Mexicana, 11. Ein bisschen Frieden II, 13. Lass die Sonne in dein Herz

Carsten Daerr
- p, Henning Sieverts - b, cello; Bastian Jütte - dr

rec 26./27.09.05
ACT 9653-2; LC-Nr 07644

Es gibt Produktionen, die möchte man einfach nicht hören. Es gibt Produktionen, von deren Existenz möchte man nicht erst Wind bekommen. Eine Produktion mit dem zunächst unverfänglichen Titel "Germany 12 Points", die in der Unterzeile aber "Celebrating
Ralph Siegel" androht, gehört zweifellos in letztere Kategorie. Hier wartet Lebenszeitvernichtung, hier soll ein Autor "gefeiert" werden, der den "Grand Prix d´Eurovision de la Chanson" 16 mal in seinen Schwitzkasten genommen hat - mit Resultaten, die auch Freunde der Gattung nach Abwechslung gieren liessen.
Jetzt nun, anlässlich des 60. Geburtstages "seines Freundes Ralph Siegel", hat ACT-Boss Loch Satisfaktion in Auftrag gegeben, bei den Herren
Daerr, Sieverts und Jütte "vom Sonnensystem des Jazz", das - wie es in liner notes binst - von "der Schlagwelt indes sehr weit weg" ist.
Genau. Und deshalb müsste ausserhalb der beteiligten Familien diese Produktion im Grunde keine weiteren Kreise ziehen - wäre sie, tja, wäre sie nicht ausserordentlich
gelungen! Ganz recht, hier wird nicht nur ein deutscher Schlagerfuzzi veredelt, wie es sonst den manchmal auch nicht besseren Vorlagen aus dem Great American Songbook selbstverständlich widerfährt, nein hier vollzieht sich noch etwas Allgemeineres: der Triumpf des Arrangements über die Komposition.
Wie tief sie im Morast steckten und wie gut eine Lektion "Reharmonisation" daraus herausführen könnte, muss den drei Musikern sehr wohl bewusst gewesen sein. Wie anders wäre zu erklären, dass sie ihre Verwandlungskünste auf zwei Stücke gleich mehrfach anwenden?
Der deutsche "Sieger"-Titel 1982 (Nicole mit "Ein bisschen Frieden") mag vielen länger als gewollt in den Ohren klingen, in der Tat bleiben manche Erfindungen des Herrn Siegel ja in den Gehirnwindungen wie Pattex auf der Wand. Hier wird man "Ein bisschen Frieden" nicht wiedererkennen. Im ersten Arrangement, von
Carsten Daerr, hat das Stück ein leichtes drum´n´bass-Fundament im Schlagzeug und einen Bass, der sich düster in M-BASE-Mustern fortschleppt, die originalen Melodie-Bestandteile werden vom Piano klug versteckt. Bastian Jütte hat dann "Ein bisschen Frieden II" mit einem 3/4 Takt noch mal umgepottet, es wirkt wie aus den US-Südstaaten importiert.
Dem "Dschingis Khan" von
Henning Sieverts wird ähnliches zuteil: die thematischen Motive erscheinen in "blue" wie die ganz normalen Bestandteile einer Ballade, ja in "swing" lässt er sie geradezu Monkish erscheinen. Die "reggae"-Version von Carsten Daerr, ein wenig in Richtung 2Step, fällt hingegen durch Übereifer und Überdeutlichkeit zurück.
Aber, keine Frage, das Trio hat den Rhythmus drauf, ebenso wie die
punkigen Achtel in "Lass die Sonne in dein Herz", denen Sieverts´ Cello eine ruhige Rückwand baut.
Sehr schön ist auch die Anverwandlung von "Griechischer Wein" (was Siegel nicht komponiert, wohl aber produuziert hat). Der Schlagzeug-Groove ist ein wenig ange
shufflet, Daerr kommt früh mit dem Thema rüber, startet den Improvisationsteil wie gedankenverloren mit einem Zitat von "The more I see you" und schliesst ihn mit einem ritardando ab.
Der "young german jazz", wie er ACT-eigen firmiert, hat hier ein Stück reife Arbeit geleistet. Menschen in fernen Kontinenten, denen die Hervorbringungen des Komponisten unbekannt sind (die ihn wahrscheinlich ã
Sieschel“ sprechen), werden den ästhetischen Emanzipationsakt vermutlich nicht erkennen und "Germany 12 Points" für unterhaltsamen, zeitgenössischen Jazz halten.

erstellt 13.01.06


©Michael Rüsenberg, 2006, Nachdruck verboten