SPLICE Lab ********

01. Caffeinated Drinks (Splice), 02. Cortège (Tremblay), 03. The Wanderer (Alex Bonney), 04. The Mess (Fincker), 05. Debris (Splice), 07. Matter (Dave Smith), 08. Interlude (Splice), 09. Sillon Fermé, 10. Ballade Fortuite, 11. Luna Verde (Fincker)

Alex Bonney - tp, electronics, Robin Fincker - ts, cl, Pierre Alexandre 
Tremblay - bg, electronics, Dave Smith - dr

rec. 6/2009
Loop Records 1013

Jazz & Electronics, so scheint es, sind derzeit eher an den Rändern Europas beheimatet, in Norwegen, mit Jan Bang und Erik Honore, und in England. Wobei Spin Marvel quasi eine Brückenfunktion zukommt.
Nämliches lässt sich auch über dieses Quartett sagen: drei Viertel stammen aus dem Londoner Loop Collective (Fincker und Smith gehören zum besonders kooperationsfreudigen Ensemble Outhouse), wohingegegen Pierre Alexander Tremblay, 1975 geboren in Montreal, in der elektro-akustischen Musik Kanadas wurzelt. Der Mann ist von unerschrockener Offenheit; er hat Rap produziert, ein ultra-schweres Stück für Schlagzeug und Elektronik komponiert, das Jahr 2010 hat er für Auftragskompositionen an vier „akademischen“ Elektronik-Studios in Europa verbracht, obendrein spielt er Baßgitarre.
cover-spliceWalking bass Figuren darf man von ihm nicht erwarten, auch keinen funky slap oder Grundton-Grundierungen, PAT steht außerhalb der Jazz-Tradition, er legt ein sehr tiefes Fundament, mitunter bohrende, dunkle, „dreckige“ Linien, die auch aus der Kopplung mit einem laptop Computer erwachsen („Matter“), oder auch in einer Kombination aus slide-Effekten und elektronischen glitches. Seit er 2004 im Birmingham promoviert hat, unterrichtet Tremblay an der University of Huddersfield in Nordengland laptop-Komposition.
So einer verschwendet keinen Gedanken an schöne Klangfarben im Breitwandformat, sondern berauscht sich an der Elektronik als dem ganz Anderen, dem Kontrast zum instrumentellen Handwerk, dem Irritierenden, was Ordnungen durcheinander bringt.
Der Eröffnungstrack bietet einen wunderbaren Einstieg in diese Welt der formalen Überraschungen, einer nervösen, mehr gedachten als tatsächlich ausgeführten Musik, in der nichts kommt, wie man es erwartet.
Wo Klangtupfer zu -flächen sich dehnen, Rhythmus mitunter völlig aussetzt - um dann doch plötzlich gegen schwere Liegeklänge sich zu behaupten.
Dieser Part liegt in den Händen eines der gegenwärtig besten Schlagzeuger Englands, bei Dave Smith, der dieses Prinzip des nie vollständig Ausgeführten glänzend personifiziert. Man hören sich nur sein Intro zu „The Mess“ an, diese gebrochenen patters über bassdrum, toms, rimshots auf der snare und cymbals; nach und nach steigen die anderen ein, PAT wieder mit einer ungemein treibenden Figur, die beiden Bläser setzen ein kurzes staccato Thema obenauf - keine Elektronik!
Und doch ist der Titel des Albums zutreffend gewählt, wir blicken, nein wir werden hineingestoßen in ein „Lab“, ein Laboratorium der Klänge und Spielhaltungen.
Wir finden Elemente des TripHop („Cortège“) oder auch Dub („Debris“), im Schlußstück schrauben sich die Bläser melodisch aus tonlosen Geräuschflächen ihrer selbst und verschwinden wieder darin - und nichts davon, außer Schnitten am Anfang und Ende der Stücke, ist Postproduktion! Man ist absolut verblüfft, dies zu erfahren, es muß in diesem Lab eine ungeheure Konzentration geherrscht haben.
Manchmal hängen die Bläser, wie nicht selten in dieser Musik, wo ein akkordischer Rahmen fehlt, in der Luft; expressive, lange Soli sind ihnen nicht gestattet - es kommt dieser Musik zugute, die auf selten frische Weise mit den Erwartungen der Zuhörer spielt.

erstellt: 23.05.11
(aktualisiert 24.05.11)
©Michael Rüsenberg, 2011. Alle Rechte vorbehalten