TIMUÇIN ŞAHIN QUINTET Inherence *******

01. Inherence (Şahin), 02. My left Foot, 03. Delayed, 04. Tikiti, 05. At Toms, 06. Bakumbaga, 07. Buddy and Ringo

Timuçin Şahin -g, fretless g, John O´Gallagher - as, Ralph Alessi - tp, Christopher Tordini - b, Tyshawn Sorey - dr

rec. 06.04.2012
Between The Lines BTLCHR71233, LC 10223

Zu den Aktivposten, weil Entdeckungen der Michalke-Jahre beim Moers Festival gehört dieser 1973 in der Türkei geborene, in Hilversum, Amsterdam und New York ausgebildete Gitarrist.
Als solcher ist Timuçin Şahin ein ausgesprochener Stilist. Das will etwas heißen auf diesem von zahllosen Talenten dicht gedrängten Feld, aus dem nur wenige mit klaren Alleinstellungsmerkmalen herausragen. Şahins Status verdankt sich auch der Tatsache, dass er eine Doppelhalsgitarre spielt und demzufolge rasch die Ausdrucksformen wechseln kann. „Unten“ verwendet er eine normale 6saitige Gitarre und oben - und das ist das Entscheidende! - eine bundlose 7saitige. Abgesehen von Philip Catherine in den 70ern ist das Gerät nur selten zum Einsatz gekommen, allenfalls bei Marc Ducret (1990), Nguyen Le (1995) und Pat Metheny („Trio Live“, 2000).
Das ist schade. Denn die bundlose Gitarre legt - wie seinerzeit die bundlose Baßgitarre von Jaco Pastorius - die Glockentönigkeit der Flageoletts nahe.
cover-sahinWer sich, wie Şahin, nicht nur mit deren Wohlkang zufrieden gibt, sondern sie strukturell einzusetzen vermag, als Mittel des Kontrastes und der Dramatik, der tritt damit leicht aus dem Erwartungshorizont eines Gitarristen heraus. Und Timuçin Şahin nutzt sein Potenzial weidlich, seine Soli sind spannend, weil unberechenbar; seine Soli markieren die Höhepunkte dieser Produktion.
Mitunter bilden sich diese Sprünge auch in der Form der Kompositionen ab, da wechselt z.B. das Titelstück nach einem rubato umspielten Thema a la Ornette Coleman in einen drum´n´bass-artigen Groove. Ok, wir verstehen, darüber kann man dasselbe Thema auch im Doppeltempo jagen.
Der nächste track beginnt mit einem verdammt ähnlichen Thema, hier demonstriert der Bandleader zum ersten Mal seine ganz eigene Klasse über einem frei-metrischen Rhythmusteppich, wie er ganz typisch ist für diese Produktion.
In track 3, der Ballade „Delayed“, scheint dann alles im Lot: das wiederum Ornette-Coleman-artige Kurzmotiv, durchsetzt mit vielen stop times; John O´Gallagher kommt endlich mit einem sehr erzählerischen Duktus heraus, nämliches gilt für Ralph Alessi, und dann kommt der Bandleader! Mit zwei, drei blues-haften Flageoletts etabliert er eine Stimmung, die er dann „indisch“ ausformuliert, alles auf der bundlosen 7-saitigen Gitarre. Wie die Rhythmusgruppe folgt, nämlich frei-metrisch, wie die beiden Bläser schließlich den solistischen Bandleader mit einem sich intensivierenden, langen ostinato aufpolstern...es wird dem FreeJazz immer vorgeworfen, er habe keine Lösung für balladeske Momente - hier ist sie, hier ist ein Modell! Das Modell einer dynamischen FreeJazz-Ballade.
„Delayed“ ist und bleibt der Höhepunkt dieser Produktion. In „At Toms“ etabliert Şahin einen 5/8-Walzer und lässt ihn feinsinnig auflösen. „Buddy und Ringo“ schließlich ist ein sehr kurzer Annex, in dem nichts, aber auch nichts an die beiden Schlagzeughelden erinnert, die wir im Titel zu erkennen meinen.

erstellt: 14.03.13
©Michael Rüsenberg, 2013. Alle Rechte vorbehalten