SCOTT HENDERSON Karnevel! *******

01. Step Right Up, 02. Karnevel! (Scott Henderson), 03. Haunted Ballroom, 04. Covid Vaccination, 05. Puerto Madero, 06. Sea Around Us, 07. Sky Coaster, 08. Greene Mansion, 09. Bilge Rat, 10. Acacia, 11. Carnies’ Time

Scott Henderson - g, Romain Labaye - bg, Archibald Ligonnière - dr

rec. 22.06.2023
UPC code 762183895728.

Oh ja, er ist wieder da!
Obwohl, so richtig weg war er ja nicht. „People Mover“, das Vorgängeralbum in gleicher Besetzung, ist 2019 veröffentlicht worden.
Andererseits, wer mag heute noch die Hand dafür ins Feuer legen, mit Gewissheit behaupten zu können, die Jazzwelt in all ihren Verästelungen hic et nunc ausgeleuchtet zu haben?
Scott Henderson, Jahrgang 1954, einer der auffälligsten Jazz(Rock)-Gitarristen aus der zweiten Reihe, dessen Name - wenn überhaupt - erst dann aufgerufen wird, wenn die Aufzählung der Reihe McLaughlin/Metheny/Scofield/Frisell zu erneutem Atemholen zwingt, er tritt nicht nur mit neuem Album an, sondern mit einer wahren Frühjahrsoffensive 2024: 37 dates in Europa (von Bergheim bis Gran Canaria), gleich anschließend acht Konzerte in China und Indien.
Danach sollte sein Ruf als technisch perfekter, harmonisch anspruchsvoller und in puncto timing & Phrasierung blendender Gitarrist wiederhergestellt sein.
Der Titel des Albums, „Karnevel“, sowie der Zeitpunkt seiner Veröffentlichung werden im Rheinland vom Verdacht einer unabsichtlichen Vokalvertauschung begleitet.
Auch Google versteht die Abfrage nicht und fragt, ob man „karneval“ meint. Nein. Schon der Blick auf das cover weist in eine andere Richtung, es geht nicht um die Fünfte Jahreszeit, sondern um den Jahrmarkt, auf gut Deutsch „Kirmes“.
In einem Text zum Album sagt Henderson, dass er sich gerne an den Jahrmarkt in LA, also Los Angeles, erinnere (es bleibt offen, ob der nun wirklich „Karnevel“ geheißen wurde).
„Step right up“, Hereinspaziert!, das Album beginnt denn auch mit 47 Sekunden Jahrmarktsatmo, ohne jede musikalische Note, und die Klänge (meist Stimmen) werden alsbald dem Titelstück untergemischt.
Das war´s denn auch schon. Diese Art von Jazzrock hat sich nur selten einer tief durchdachten Präsentationsästhetik unterworfen. Ihr geht es in erster Linie um eine Ausstellung musikalisch-technischer Kompetenzen, gefolgt von einem Interesse an klanglichen Details.
cover Scott Henderson   KarnevelDas Titelstück entfaltet beide Parameter in idealtypischer Weise. „Karnevel!“ sitzt auf einem swingenden Jazzrock-Groove in 9/4, aufgeteilt in 4/4 plus 5/4, in einer Bridge gelegentlich reduziert auf 4/4.
Solche Grooves haben etwas Majestätisches, man findet sie auch bei Allan Holdsworth oder Michael Landau. Man kann solistisches Feuerwerk darüber abbrennen.
Und das geschieht hier in Potenz! Henderson wechselt häufig die Klangfarben, von einer Sitar-Beimischung bis metallisch-scharf.
Das Entscheidende aber sind timing & Phrasierung der jeweiligen Hauptstimme, die sind schwerlich zu überbieten.
In „Haunted Balroom“ (Geisterbahn, einer weiteren semantischen Referenz an das Jahrmarktsmotto) begegnen wir einem absoluten essential dieser Musik, einem Shuffle-Rhythmus.
Die Melodik ist schärfer Blues-gesotten - aber nicht von Anfang an. Ab 2:20, mitten in einem Henderson-Solo, kippt das Stück tonal & formal in eine 12-Takte-Bluesstruktur und kehrt nach zwei Minuten, ohne den Groove zu wechseln, in das ursprüngliche, von mehreren Gitarren umspielte vamp-Thema zurück.
Der Titel „Covid Vaccination“ führt auf den Holzweg. Aber nur solange man nicht einen Takt dieser Musik gehört hat. Die klangliche Anmutung geht in Richtung „Funk der 70er Jahre“. Der Titel ist eine rein assoziative, inhaltsarme Referenz an „Soul Vaccination“ von Tower of Power (1973). Der Schlagzeug-Part, räumt Henderson ein, sei fast 1:1 vom Original übernommen.
Die Nachbearbeitung der Gitarren-Spuren in Anlehnung an Bläserklang erreicht hier ihren Höhepunkt.
Tatsächlichen Covid-Bezug aber hat „Greene Mansion“, ausgearbeitet in der Pandemie, das erste, im Studio aufgenommene Gitarren-Solostück von Scott Henderson. Er schreitet darin durch einen großen Hallraum, der Bluesbezug ist deutlich reduziert - so klingen auch viele andere.
Mit „Bilge Rat“ katapultiert Henderson sich wieder auf die Höhe seiner Möglichkeiten. Und als reichten die vielen Blues-Fanfaren nicht, die vielen plakativen Tonbeugungen, schiebt er sie immer wieder an durch harsche Metal-Injektionen. Mag es „oben“ auch noch so brennen, die Rhythmusgruppe verweilt in einem kaum bewegten Begleitmodus.
Interaktion wird in dieser Produktion eher kleingeschrieben. Man möchte hoffen, dass auf der kommenden langen Tour, live, sich anders verhält.
erstellt: 06.02.24
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