MICHAEL WOLLNY TRIO Weltentraum *****

01. Nacht (Alban Berg), 02. Be free, a Way (The Flaming Lips), 03. Little Person (Brion, Kaufman), 04. Lasse! (Machaut), 05. Fragment an sich I (Nietzsche), 06. In Heaven (Ivers, Lynch), 07. Rufe in der horchenden Nacht (Hindemith), 08. When the Sleeper wakes (Wollny), 09. Hochrot (Rihm), 10. Mühlrad (trad), 11. Engel (Wollny), 12. Un grand sommeil noir (Varese), 13. Fragment an sich II (Nietzsche), 14. God is a DJ (Pink)

Michael Wollny - p, cembalo (14), Tim Lefebvre - b, Eric Schaefer - dr

Theo Bleckmann - voc, electronics (14)

rec. 21.03.2013 und 24., 25.09.2013
ACT 9563-2, LC 07644

Nachdem schon das Label die Pressestimmen nach gusto selektiert, wonach Michael Wollny „von der Kritik einhellig (?, Anm. JC) als international bedeutendster deutscher Jazzer nach Klaus Doldinger, Albert Mangelsdorff und Joachim Kühn angesehen“ werde (wovon nur Mangelsdorff nicht direkt mit dem Hause ACT bzw. dessen Chef Siggi Loch assoziiert war und Eberhard Weber, Till Brönner oder Nils Wogram sicher auch in diese Liga promoviert würden, wären sie denn ACT-Künstler) und die SZ, wie üblich, über das Ziel hinausschießt („Jahrhunderttalent“), ist auch die FAZ außer Rand und Band:
„lange nicht so viel Glück empfunden beim Hören einer Aufnahme, lange nicht so stark gespürt, dass Musik retten kann.“
Zugegeben, der Künstler hat was, vor allem aber das Album. Wer ein Repertoire wählt von de Machaut bis Rihm, also vom 14. Jahrhundert bis in die (Karlsruher) Gegenwart, der hat schon mal allerbeste Karten in einer Zeit, die das Pure nahezu verachtet und Grenzgänger, Grenzverschieber, Genreausweiter mit großem Hallo begrüßt (JC schließt sich da nicht aus).
Ein solches Handeln artikuliert, wie dieses Album bestens übertitelt ist, in der Tat einen „Weltentraum“ - und verfügt damit über viel größere Symbolkraft als der ursprüngliche Arbeitstitel „My Standards". Der aber de facto die Arbeit Wollnys genauer charakterisiert.
Völlig unbeschadet der Tatsache, dass Wollny auf diesem Felde nur einer von vielen ist (an deren Spitze ein Mann namens Brad Mehldau steht, freilich mit weitaus größerer Handschrift am Instrument), liefert die FAZ die passende Begleitmusik:
„Mit jeder Note, mit jedem Beat von Bass und Schlagzeug plädiert er (Wollny) dafür, die Unterscheidung von U- und E-Musik endlich einzuebnen.“
Das haben wir nun schon 1000 mal gehört und mit dem großen Nickemann quittiert: ja, finden wir auch, endlich einebnen. Die Aussage klingt gut, ist aber haltlos, denn was spricht dafür, die „Unterscheidung“ zwischen einer Machaut-Motette und einem Pink-Song „einzuebnen“?
Doch sicher nicht die Liquidierung einer Betrachtung der Formunterschiede beispielsweise, der Instrumentierung und dergleichen mehr. Was einzuebnen wäre, kann doch nur der Bewertungs-Automatismus sein, wonach das  eine, weil Teil der abendländischen Tradition, grundsätzlich höher rangiert als das andere.
cover-wollny-weltentraumSicher, Michael Wollny hat es sich nicht leicht gemacht. Es steckt Arbeit dahinter, ein Lied von Alban Berg für Orchester und Stimme auf den Radius eines Jazztrios zu reduzieren oder die Mehrstimmigkeit einer Machaut-Motette auf das Piano zuzuspitzen. Und dann das Netz so weit auszuwerfen, dass auch noch Pink und die Flaming Lips oder der bluesige David Lynch erfasst werden.
Hier, in der Mitte des Projektes, kippt - endlich - die Temperatur: nach dem slow shuffle von „In Heaven“ schimmert der ternäre, Blues-gesottene Gestus auch beim nachfolgenden Hindemith noch durch, die time wird obendrein aufgebrochen. Wir sind endlich in der Jazzkurve!
Später noch einmal, ausgerechnet im deutschen Volkslied „Mühlrad“, zeigt die Rhythmusgruppe erneut, dass sie weiß, woraus das zeitgenössische Besteck besteht, broken swing, Tempo- und Akzentverschiebungen etc.
Wollny ist da längst schon wieder „der liebe Michael“, der mit seinem binär parlierenden, semi-dramatischen Stil alles, ja ... einebnet.
Okay, er hat sich entschieden, dieses Album eher adagio auszurichten und von der Dynamik der letzten (em)-Veröffentlichung abzusetzen.
Aber warum muss die Brühe so träge fließen, warum schießen so selten Blasen nach oben, die davon künden, dass unten Reibung entsteht, Hitze gar?

erstellt: 21.02.14
©Michael Rüsenberg, 2014. Alle Rechte vorbehalten