STEMESEDER LILLINGER Antumbra ***

01 Annular (Stemeseder, Lillinger), 02. Silhouette, 03. Shadow Granular, 04. Tied Light, 05. Umbra, 06. Tyndal, 07. Trong, 08. Lux, 09. Antielectrons, 10. Apex, 11. Granular, 12. Drop Shadow, 13. Penumbra Utopia, 14. Phos Granular, 15. Antiphotons, 16. Granular Light, 17. Umbra Granular

Elias Stemeseder - p, spinett, synth, electronics, sampler, Christian Lillinger - dr, sampler, synth, electronics, Doyeon Kim - gayageum (3), Brandon Seabrock - banjo, g (1,5,17), Mark Shim - ts (15), Tim Lefebvre - bg (7)


rec. 2022/2023

Plaist Records

Elias Stemeseder und Christian Lillinger haben sich und uns um den finalen Teil ihres Silbenspieles gebracht. Der sich nach „Penumbra“ (2021) und „Umbra“ (2022) durch weitere Silbenabscheidung unweigerlich ergeben hätte…
Damit hätten wir Ungebildete allerdings den clou der Trilogie vollkommen verfehlt:
„Kernschatten (umbra), Halbschatten (penumbra) und Gegenschatten (antumbra) sind drei verschiedene Teile eines Schattens“, wie uns das englische Wikipedia belehrt. Ach so.
Schon klar, die Begriffe aus der Astronomie, dort klar definiert, kommen hier metaphorisch zum Einsatz. Schön aber wäre gewesen, wenigstens den Versuch einer Umsetzung ins Musikalische zu lesen; das wäre mehr gewesen als die hier lakonisch gereichte Erklärung, Antumbra sei „für STEMESEDER - LILLINGER die umgesetzte Version einer anderen Sichtbarkeit des noch nicht gezeigten und gesehenen.“
(Nebenbei, der Titel taucht als kurzer track 10 schon bei „Penumbra“, 2021, auf).
Andererseits sparen sie wiederum nicht an Durchblicker-Prosa:
„Utopie und Dystopie werden hier sehr fein und akribisch einbezogen und stoßen auf ihre unmittelbare zeitliche Verarbeitung“. Man mag sich gar nicht ausmalen, wie es klänge, würden die beiden Großfiktionen der Menschheit ausnahmsweise nur „mittelbar“ verarbeitet.
Schon recht, dass die beiden ein paar Worte verlieren über das, was sie da machen, durchaus „frei schwebend und ohne Genrebezeichnungen“.
Was sie da einsetzen: „Zupf-, Schlag- und elektronische Instrumente, Bezüge zur Samplekultur, Serialismus und Volksmusiken sowie die komplexe Postproduktion“ könnte durchaus Erklärungen vertragen. Zumal die beiden sich nicht nur musikalisch & produktionstechnisch, sondern auch begrifflich auf ungesichertes Gelände begeben.
Ist das noch Jazz, schon Avant-Techno oder doch abgesunkenes Neue Musik-Gut?
Letzteres sicher nicht, wenn man die bisherige Praxis der beiden (die durchaus als Neue Musik-affin sich erwiesen haben) aus der Improvisierten Musik heranzieht.
Sie selbst halten „Antumbra“ - ganz im Gegensatz zur strikten, ursprünglichen Bedeutung des Wortes - für „ein Post-Genre-Werk“, also für gewissermaßen über den Wassern schwebend. Das mag für den Moment genügen. Aber sobald sich mehr Ansätze in dieser Richtung finden (und bei Otis Sandsjö bietet sich Verwandtes an), verfliegt der Begriff. Und es muss ein neuer, ein wasserfester her.
AntumbraCDWie bei „Umbra“ haben sie Gäste dabei, diesmal aber eher am Rande; konzeptionell kehren sie zur Kleinzelligkeit von „Penumbra“ zurück, dem Start der Trilogie als Duo.
Erneut legt der experimentelle, der unfertige Charakter fast aller Stücke assoziativ den „Einblick“ in eine Werkstatt nahe.
Formen lassen sich nur schwer ausmachen, sie müssen allesamt in Anführungszeichen gesetzt werden:
ein „Shuffle“ („Penumbra Utopia“), ein „4/4-Takt“ und „loops“ („Granular Light“), ein „vamp“ („Umbra“), Andeutungen von „beats“ („Tyndal“ und „Trong“), Ersteres dank eines Zupfinstrumentes duchaus in Richtung „Imaginäre Folklore“.
Und in „Tied Light“ mag der Snythie in Richtung „Flöten“ eingestellt sein.
Ansonsten: jede Menge break beats, deren metrische Ordnung verschleiert wird.
Dass der Höreindruck dermaßen einer Versprachlichung sich sperrt, wird in unseren Kreisen gern als frühes Signal für „Komplexität“ gedeutet, mithin positiv, als Hörarbeit, der sich die avancierten Kader - schon aus Gründen der Distinktion - bereitwillig stellen.Die Abfolge der Stücke stellt sich keineswegs als beliebig dar, klanglich-strukturelle Fortgänge lassen sich im jeweils folgenden Stück durchweg erkennen.
Aber, das alles liest sich spannender als es klingt. Der Einblick in die „Werkstatt“ besteht nicht selten aus einem Blick in den Abfallkorb dort (wenn diese überaus analoge Assoziation noch zulässig ist).
Des öfteren stellt sich die Veröffentlichungsfrage.
Man könnte auch davon sprechen, dass Stemeseder & Lillinger überwiegend Fundstücke aus ihrer Sample-Bibliothek ausstellen, also Teile, die später verknüpft mit anderen erst zu einem „Stück“, einer „Komposition“ sich auswachsen könnten.
Am dringlichsten stellt sich die Frage nach dem Warum? bei den 28 Sekunden von „Phos Granular“. Schon gut, Fachleute erahnen, dass auch Granularsynthese zum Einsatz kam, also das „Zerschneiden“ eines Klanges in Partikel kürzer als 50 Millisekunden. Was man nicht als Einzelteile, sondern als Effekt hört.
„Phos Granular“ nun besteht als nichts weiterem als aus einem offenkundig rückwärts laufenden Schepper-Sound.
Kann man machen; in dem nicht-normativen Brackwasser von Techno und Improvisierter Musik, in der digitalen Bastelstube (noch dazu in verschiedenen Ländern), ist alles erlaubt. Und gerade diese beiden Künstler, die ansonsten zur Elite der Jazz Avantgarde in Europa zählen, können ihren Ruf dadurch wohl kaum ramponieren.
Nur, muss es auch an die Öffentlichkeit? Noch dazu unter so schweren Vorzeichen wie „Utopie“ und „Dystopie“.
Könnten die beiden ihre „Optionen für eine hoffnungsvolle Zukunft“ nicht in nachvollziehbarerer Währung ausgeben?

erstellt: 22.03.24
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