Wer ist Kult?
Es dürfte müßig sein, diesem schwammigen Begriff mit einem halbwegs festen definitorischen Konzept ein wenig Gültigkeit zu verschaffen.
Aber, hey, dieser Fall drängt sich geradezu auf! Er bietet sich an als Realdefintion von Kult.
Verehrt wird ein Künstler, von dem man zum Zeitpunkt seines Ablebens fast 50 Jahre lang keinen Ton mehr gehört hat, „der als künstlerisch wertvoll gelten könnte“.
Ein Künstler, der von vielen, die altersmäßig durch die Vorwahlen 6 und 7 zu erreichen sind, regelrecht vermisst wird. Seit Jahrzehnten. Die Aktivitäten auf facebook sprechen Bände.
Dabei konzentriert sich die Verehrung auf ein kleines Zeitfenster seines Lebens, geöffnet vom Frühjahr 1969 bis zum Frühjahr 1976. Das Zeitfenster beschreibt einen frühen Höhepunkt einer Band, die er dann nach sieben Jahren wieder verlässt.
In dieser Zeit hat diese, Soft Machine, den britischen Jazzrock von der Rockseite her umgekrempelt. Nicht unwesentlich, weil er dabei (nicht als einziger, aber als prägender) auf der elektrischen Orgel einen Sound entwickelt, der mit „Wespe im Gehirn“ metaphorisch gut erfasst ist. Er artikuliert sich in an- und abschwellenden Klangflächen, aber auch Cluster-Ballungen; in langen Soli mit sicherem timing und mitunter Saxophonartiger Phrasierung. Ein Faszinosum!
Die meisten, die an diesem oft sehr eindrücklichen Klangbild mitgewirkt haben, sind verstorben: Kevin Ayers, Hugh Hopper, Elton Dean, Allan Holdsworth, John Marshall. Sie haben sich später, unabhängig vom Gruppenmythos, auch als individuelle Künstler behauptet.
Die Gruppe schleppt sich, mit anderem Personal, auch heute noch über die Bühnen. Sie könnte den Namen auch fallenlassen; ihr haftet, selbst wenn sie im Katalog der legendären Stücke blättert, nichts mehr von deren Magie an.
Wer sich nach den Umständen ihres Entstehens erkundigt, nach den Bewegkräften des Mythos, im Zeitfenster der späten 60er und frühen 70er, der kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er stösst auf ein Dickicht von Widersprüchen, Animositäten, ja Gegnerschaften auf engstem Raum - dem große Kunst entsprungen ist. Against all odds.
Wer nach einer Fortsetzung dürstete, wer sich nicht damit abfinden konnte, dass die bewegende Zeit nur noch in Tonträgern verschlossen vorliegt, der musste - wenn er überhaupt etwas wahrnehmen konnte - sehr viel später mit Befremden lesen, dass der verehrte Künstler die schönen Zeiten in die Tonne trat:
„Ein Teil des Problems mit Soft Machine war, dass man sich völlig in einem bestimmten Stil gefangen fühlte. Es war eine ziemliche Erleichterung, in die Werbemusik einzusteigen, wo es möglich ist, in einer großen Bandbreite von Stilen zu arbeiten. Etwa eines von drei Projekten ist interessant.“
Wer die Schallwellen, die hier angesprochen und vorsichtig gefeiert werden, zur Kenntnis nehmen konnte, verstand die Welt nicht mehr. Sein Achtzigster wurde gefeiert vor knapp zwei Jahren - der Künster war nicht anwesend.
Heute kommt von John Etheridge, einem der aktuellen Namensträger von Soft Machine, mit dem er sich alle paar Wochen noch traf, die Nachricht auf facebook:
Michael Roland Ratledge geboren am 6. Mai 1943 in Maidstone/Kent, verstarb am 5. Februar 2023 in London. Er wurde 81 Jahre alt.
erstellt: 05.02.25
©Michael Rüsenberg, 2025. Alle Rechte vorbehalten
DLF Milestones zum 80. von Mike Ratledge
PS (11.02.25)
PS: War der Tod von Mike Ratledge (fast) exklusiv ein deutsches facebook Phänomen?
Das Großfeuilleton nahm nicht von ihm Kenntnis, seine kleineren Ableger ebenfalls nicht. Noch verwunderlicher: nichts bei UK Jazz News oder Richard Williams´ blog bluemoment.
Zwei britische Tageszeitungen zogen nach, nicht unter Culture oder Music, sondern - was die Zeitverzögerung erklärt - unter „obituaries“/Nachrufe:
Der Guardian sowie der Telegraph.