Ulrich Olshausen, 1933-2024

Ulrich Olshausen

Der Jazzklarinettist Theo Jörgensmann nannte ihn einmal „Pater Ulrich von der reinen Intonation“.
Das war sehr witzig. Aber auch so treffsicher (und so wenig zynisch), das hätte auch von Volker Kriegel stammen können.
Um sogleich mit einem echten Kriegel-Diktum fortzufahren: unter den deutschen Jazzkritikern war Ulrich Olshausen zweifellos „eine Einzelanfertigung“.
Sein besonderes Ohrenmerk galt halt dem exakten Treffen der Töne. Wer meint, das hätte ihn auf alle Zeiten vom Blues oder sonstigen offpitch-Aktvitäten im Reich der afro-amerikanischen Musik ausgeschlossen, macht sich eine falsche Vorstellung vom Panorama seiner ästhetischen Aufmerksamkeit.
Er hat, selbst lange schon Radio-Jazzredakteur in Frankfurt, unter der Ägide von Joachim Ernst Berendt in der legendären SWR2-19:30-Uhr-Sendestrecke Folktime moderiert. Er konnte en detail über Kate & Anna McGarrigle sprechen, aber auch über Gentle Giant oder Johnny Winter. Und zusammen mit seiner unvergessenen Ehefrau Egizia Rossi diskursiv einen unglaublichen „insalada musica“ anrichten.
(Tatsächlich aufgetischt wurde sonntags zum Frühstück in Bergen-Enkheim, wir durften in den 80ern gelegentlich mitkosten, Porree-Ei, angerichtet vom Hausherrn).
Er war es, der am 24. März 1968 in Frankfurt, auf der Bühne des Deutschen Jazzfestivals (dessen Programm er jahrelang mitveranwortet hat), die Uraufführung von Peter Brötzmanns „Machine Gun“ anmoderiert, und dies keineswegs mit Abscheu.
Gleichwohl fungierte nicht er als der Praeceptor des FreeJazz, namentlich von Peter Brötzmann, sondern Manfred Miller (1943-2021), in der berühmt-berüchtigten TV-Debatte „Free Jazz - Pop Jazz? Unverständlich oder populär?“, an einem Freitag im Sommer des Jahres 1967, in der ARD, an Werner Höfers Frühschoppentisch.
Freejazz Tv Miller 1Er war der unaufgeregt Abwägende in der Mitte - eine Position, die man auch seiner Tätigkeit als Jazzkritiker zuschreiben möchte. Ein Radiomann, der schreiben kann (meist in der FAZ), einer der wenigen aus dem ARD-Jazzredakteursgremium, dem die Betreuung von Sendungen und Ensembles (hier das hr-Jazzensemble) nicht genügte, der in Konzerte ging und urteilte.
Ein Mann von und mit Stil, hochgewachsen, ein Solitär, der Olshausen eben.
Begonnen hatte er auf der anderen Seite des Mikrofons, als Tontechniker mit ordentlicher Ausbildung in Nürnberg, 1955-57.
Vom Fagott schwenkte er in die Musikwissenschaft um, an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt; dortselbst 1963 Promotion mit dem Thema „Das lautenbegleitete Sololied in England um 1600“.
Dann wieder hr, zunächst als Tontechniker, ab 1967 (bis 1999) Leiter der neu geschaffenen Jazzredaktion.
Parallel dazu, ab 1963 und bis bis knapp ins neue Jahrtausend, Rezensent für die FAZ. Man las ihn ausgesprochen gerne.
Dr. Ulrich Olshausen, geboren am 17. August 1933 in Neuenbürg (Nordschwarzwald), verstarb am 30. November 2024 in Frankfurt/Main. Er wurde 91 Jahre alt.

erstellt: 02.12.24
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Roy Haynes, 1925-2024

1082px Roy Haynes at Newport Jazz FestivalWomit startet ein Nachruf auf diesen MASTER-Drummer?
Er startet mit Chick Coreas „Now He Sings, Now He Sobs” (1968), entweder aus dem eigenen Regal oder auf Spotify. Eines der meist-zitierten Alben in diesem aktuellen Kontext oder auch im Rahmen einer Hommage an den 2021 verstorbenen Pianisten.
Der Nachruf könnte aber auch starten mit Eric Dolphy “Outward Bound” (1960), Oliver Nelson “The Blues and the Abstract Truth” (1961), Stan Getz “Focus” (1962). Oder mit „We Three“ (1958) vom Verstorbenen selbst, mit Phineas Newborn jr. und Paul Chambers.
Man könnte aber auch in aller Stille einfach mal über einen Lebenslauf staunen, oder - warum nicht? - sinnieren. Einen Lebenslauf, der sich so nicht noch einmal darstellen wird.
Der im Längsschnitt große Teile eines ganzes Musikgenres beschreibt.
Wer sonst könnte ein solches Jazz-Leben aufweisen, das bei Lester Young beginnt, 1947-1949? Wer könnte noch ein Foto herauskramen, das ihn 1953 im „Open Door“ in Greenwich Village zeigt, mit Charles Mingus, Thelonious Monk und Charlie Parker?
Wer könnte berichten, wie es war im Quartett von John Coltrane, wenn Elvin Jones verhindert war?
Wer, der Minton´s Playhouse in Harlem vom bandstand her kennt, der mit Young, Parker, Dolphy, Coltrane, Sarah Vaughan (1953-58) auf Bühnen gestanden hat, tat dies auch viele Jahre später noch mit Pat Metheny, 1990?
Das alles klingt nach sideman jobs. Unter den landmark albums der Jazzgeschichte rangiert keines seiner eigenen.
Und doch wäre dies eine unzureichende Beschreibung. Denn in gewisser Weise war er der Leuchtturm unter denen aus der zweiten Reihe, ein Vorgänger von Elvin Jones, Tony Williams und insbesondere Jack DeJohnette. Er hat die hi-hat von der Pflicht, die Zwei und die Vier zu betonen, befreit; mit der rechten Hand ein Vorreiter des broken swing; ein melodischer Drummer, ein „sehr musikalischer Drummer“, wie ihn einer seiner deutschen Verehrer nennt, der seinen Rolle(n) mit spezifischen Eigenarten nachkam.
Roy Haynes could play with anybody and sound like himself“, staunt Drummer Kollege Billy Hart.
Der Satz stammt wie die folgenden aus der kommenden Autobiografie von Billy Hart, die Ethan Iverson in seinem newsletter „Transitional Technology“ zitiert.
„Als ich schließlich dachte, ich hätte ´meinen eigenen Stil´, fühlte ich mich ziemlich sicher. Aber dann hörte ich Roy Haynes und merkte, dass er bereits alles Mögliche tat, was ich für ´meinen eigenen Stil´ hielt. Ich sah Haynes sogar ein bisschen ähnlich, und in den Zeitschriften sah sein Schlagzeug auch aus wie meines. Irgendwann habe ich verstanden, dass fast alles von irgendwo anders kommt“.
Und: „On top of all that, he can play the slow blues with total commitment. At Dewey Redman’s memorial in St. Peter’s Church, Roy Haynes sat in with Joshua Redman, Pat Metheny, and Charlie Haden and gave us a clinic in just the right texture for a slow blues“.
Seine zahlreichen Auszeichnungen reichten von „best dressed men in America“ 1960 (zusammen mit Fred Astaire, Cary Grant, Clark Gable, Miles Davis) bis zur NEA Jazz Masters Fellowship 1995.
Seine Geburtstage pflegte er im „Blue Note“ in New York City zu feiern, der 95. fiel wegen Corona aus.
Roy Owen Haynes, geboren am 13. März 1925 in Roxbury (Vorort von Boston), starb am 12. November 2024 an der Südküste von Long Island in Nassau County/NY. Er wurde 99 Jahre alt.
Unter seinen musikalischen Nachkommen sind sein Sohn Graham Haynes, cornet, sowie sein Enkel, der Schlagzeuger Marcus Gilmore, 36.

 

Foto: Marek Lazarski (CC BY-SA 4.0)
erstellt: 13.11.24
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BBB - Bill Bruford´s back!

Wer ist der Herr in der Mitte, am Schlagwerk?
Könnte das nicht...

Pete Roth Trio

...yes folks, er könnte es nicht nur sein: er ist es!
Bill Bruford, Dr. Bill Bruford, wie er sich seit 2016, seit seiner Promotion an der University of Surrey, nennen darf.
Das Foto ist aktuell, es zeigt ihn mit dem Pete Roth Trio.
Seinen letzten gig hatte er am 31. Juli 2008 mit seiner Band Earthworks.
Zum 1. Januar 2009 verordnete er sich den Rückzug von der Bühne.
Im Gegensatz zu den Rückzugsankündigungen von Joachim Kühn. 82, hat Bruford, 75, die seine auch befolgt; abgesehen von einem kurzen Gastauftritt anlässlich eines John Wetton-Memorials, 2023.
Jetzt ist er zurück. Freilich nicht auf dem Level der von ihm kritisierten music industry, sondern auf Clublevel, er tourt bereits durch englische Jazzclubs mit obigem Trio.
Was die Band des offenbar deutsch-stämmigen Gitarristen Roth auf dessen Webseite ankündigt, es kreiere "jazz for a new generation of music enthusiasts that look beyond the ordinary jazz conventions", ist allerdings music industry-Prosa und wird von dem dort annoncierten YouTube-Video keineswegs eingelöst.
Der Spaß an diesem Post Bop/semi Jazzrock sei dem verehrten Trommler gegönnt, seine Beiträge zur Musikhistorie finden wir woanders.

erstellt:05.10.24
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FMP returns to Berlin

Die Nachricht von der Rückkehr von FMP in die deutsche Hauptstadt mag FreeJazz-Ferne überraschen.
Rückkehr? War das Label denn je woanders?
Ja, doch. 2003, mit der Pensionierung (als Sozialarbeiter) des FMP-Gründers & Mentors Jost Gebers (1940-2023) hatte es sich dort versteckt, wo niemals einer seiner Töne hinlangte, in Borken, in der westfälischen Provinz.
Es gehört zu den besseren Szenen in dem missratenen Film „Tastenarbeiter - Alexander von Schlippenbach“ (2023), als Gebers dort das Rolltor einer Garage hochzieht, die sich als gut-sortiertes Archiv entpuppt, und sodann die politische Heißluft der Doku mit Sätzen wie diesem entkorkt:
„Man kann zu dieser Musik nicht Ho-Chi-Minh brüllend über´n Kudamm rennen.“
FMP Cover 06 01Ein Phänomen wie FMP hatte vielleicht mal einen Ort, das alte West-Berlin, wo manche seiner legendären Katalogeinträge akustisch eingefangen wurden.
Eigentlich ist es ubiquitär; seine Fans, heute: seine community, ist weltweit zu finden. Teile des Kataloges schweben längst über allem & allen; sie sind in der cloud, bei bandcamp.
Was besagt da schon, dass ein 400-Seiten-Nachschlagewerk („FMP -The Living Music“) 2022 bei Wolke in Hofheim, in der hessischen Provinz, verlegt worden ist.
„Return to Berlin“ besagt auch nicht mehr, als dass die Hauptsache, der Tonträger-Katalog, nun von einer Adresse aus in Prenzelberg gesteuert wird.
Dort wohnt der „Living Music“-Autor und Kurator Markus Müller. Ihn hat Gebers in seinem Testament als Treuhänder bestimmt. Und er hat einen Plan.
In den nächsten fünf Jahren will er - zusätzlich zu dem FMP-Bestand auf bandcamp - lange Vergriffenes, neu gemastered, digital herausbringen. Am 25. Oktober zum Beispiel Brötzmann/Mangelsdorff/Sommer „Pica Pica“ (1982) oder, aus demselben Jahr, „Pakistani Pomade“ vom Schlippenbach Trio, zwei Wochen zuvor.
In einem Jahr sollen Tonträger dazukommen, CDs, auch Erstveröffentlichungen aus dem physischen Archiv. Es befindet sich sowohl in Borken als auch in Berlin.
erstellt: 30.09.24
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Jack plays the Piano...in Woodstock

Jack DeJohnette at PianoJack DeJohnette, 82, geht nicht mehr auf Tournee. Seine Herzprobleme hat er zwar im Griff (laut New York Times), aber seit Covid mag er keine Reisen und keine Menschenmengen mehr.
Seit rund fünfzig Jahren lebt er in den Catskill Mountains, upstate New York; heute Abend tritt er sozusagen in der Nachbarschaft auf, im Woodstock Playhouse, Woodstock/NY - als Solopianist.
DeJohnette kehrt damit zu seinem erst-erlernten Instrument zurück, in den 40er Jahren, in seiner Geburtsstadt Chicago.
Die Liebe eines der bedeutendsten unter den stil-bildenden Schlagzeugern der Jazzgeschichte zum Piano kommt nicht überraschend. Gelegentlich hat er es im Studio eingesetzt, auch die verwandte Melodica, 1985 veröffentlicht er „The Jack DeJohnette Piano Album“, im Trio Format, mit Freddie Waits in „seiner“ Position, am Schlagzeug.
Die New York Times, die den Woodstock-Auftritt zum Anlass einer ausführlichen Betrachtung nimmt, macht mit einem Schlüsselerlebnis des 2-Instrumente-Musikers auf, als der Pianist JDJ aus Chicago Anfang der 60er Jahre ein Wochenengagement im Showboat Club in Philadelphia (those were the days) auf seinem damaligen Zweitinstrument bestreitet.
Der Bandleader, Eddie Harris (1934-1996), nimmt den Twen in einer Pause beiseite:
„Du spielst ganz nett Piano, Mann. Aber dein Schlagzeugspiel hat was - du bist ein Naturtalent am Schlagzeug. Und du musst dich entscheiden, welches dein Hauptinstrument sein soll.“
The rest is jazzhistory. Von Charles Lloyd über Miles Davis und Jahrzehnte bei Keith Jarrett und und und…
„Ich glaube nicht, dass ich ein fantastischer Pianist bin“, räumt er ein, „aber ich glaube, ich spiele gut genug, um eine Geschichte zu erzählen“.
Man kann sie, unter dieser Voraussetzung, vielleicht auch als die Geschichte eines Rekonvaleszenten hören. Denn es ging ihm nicht gut in den letzten Jahren.
„Ich war an einem Tiefpunkt in meinem Leben“, gesteht er der NYT. „Ich hatte ein öffentliches Image, aber dann ist das persönliche Image eine große Herausforderung“.
„Was soll ich sagen? Ich bin ein egozentrischer Mensch, der immer mehr an sich selbst denkt als an andere Menschen, und das ist eine ständige Sache, bei der mir meine Frau Lydia und andere Leute zu helfen versuchen.“
Von letzterer erfährt der Reporter der NYT, dass er Zeit in einer Therapie verbracht habe.
Zusammen mit einer Assistentin bringt sie Ordnung in das riesige Band-Archiv ihres Mannes. Ein erster Fund kommt im November bei Blue Note heraus: ein Konzertmitschnitt von 1966 aus dem legendären Slug´s Saloon im East-Village (Manhattan), mit McCoy Tyner, Joe Henderson, Henry Grimes.
Titel: „Forces of Nature“, weil „sich alle gegenseitig bis zum Äußersten anspornen und antreiben, und das merkt man“ (DeJohnette).

erstellt: 28.09.24
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Martin France, 1964-2024

Martin FranceObwohl sie es nicht ist, wurde sie in britischen Jazzkreisen fast wie eine Todesnachricht aufgenommen:
der Schlagzeuger Martin France wird nie mehr wieder spielen können.
Was im engeren Freundeskreise seit Monaten bekannt war, hat der Bassist Chris Laurence nun mit Billigung des an Prostatakrebs Erkrankten an die Öffentlichkeit gegeben.
Mit Martin France, gerade erst 60 geworden, tritt ein überaus gefragter und beliebter Musiker ab, der zentrale Schlagzeuger über ein Dutzend Jahre für Projekte von Django Bates.
Angefangen bei den Loose Tubes, 1990, bis zu dessen Beloved Bird-Triobesetzung, Mitte der 2000er Jahre.
Sein recording catalogue zeigt ihn in einem breiten Panorama, diesseits des Frei-Metrischen, bei John Taylor, Gwilym Simcock, Julian Argüelles, in seinem eigenen, dem drum´n´bass—infizierten Ensemble Spin Marvel.
Zuletzt unterrichtete er der Royal Academy of Music in London.

PS (04.09.24) Inzwischen ist die Rede von einer Abschieds-Email, die Martin France an Freunde & Kollegen geschickt haben soll.
PPS (06.09.24) Martin France ist am Abend des 5. September 2024 verstorben.

erstellt: 03.09.24
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Irene Schweizer, 1941-2024

irene schweizer liveGanz sicher kann man in dieser Praxis auch die Bewahrung ihrer Würde erkennen:
nämlich darin, dass die wenigen, die in den letzten drei Jahren Zugang zu ihr hatten, über das, was sie dort sahen, nichts an die Öffentlichkeit gelangen liessen.
Der körperliche und geistige Verfall der berühmtesten Jazzmusikerin der Schweiz, er vollzog sich zeitversetzt zu den abklingenden Ovationen zu ihrem Achtzigsten sowie ihres letzten Albums („Celebration“, mit Hamid Drake, 2021).
Er schlich dahin an einem nicht ganz zufälligen Ort, im Zürcher Altersheim Bürgerasyl Pfrundhaus, auch bekannt als nachmittäglicher Spielort des Taktlos-Festivals, an dessen Gründung sie 1984 beteiligt war. Geleitet wird das Heim von der Partnerin des Gründers des Labels, das sie im selben Jahr mit angeschoben hat: Intakt Records.
Dass das Label, das den größten Teil ihrer über 75 CDs/LPs verlegt, nun von „the great personality of European Jazz“ spricht, ist keineswegs übertrieben.
Es lassen sich genügend Plädoyers dafür finden. Anthony Braxton zum Beispiel, nur vier Jahre jünger, sagt gleichwohl:
„I remember this great master when we were young“.
Und er betont in eher abstrakten Worten ihren Weg, der in der Tat ein steiniger war. Man kann viel darüber nachlesen, insbesondere in der Biographie von Christian Broecking („Dieses unbändige Gefühl der Freiheit. Irène Schweizer – Jazz, Avantgarde, Politik“, Berlin 2016).
1964 zum Beispiel, als die Blue Notes aus Südafrika (unter ihnen Louis Moholo, mit dem sie später in einem ihrer bevorzugten Formate, dem Piano-Drums-Duo, auftrat) der Zürcher Damenwelt verfielen. Da erlebte sie Szenen, die heute einen shitstorm nach dem anderen hervorriefen:
„They all wanted to get me into bed, everybody was in love with me, all the time“.
Allerdings verfügte sie selbst über sehr effektive Abwehrkräfte als „authentic Lesbian as I am“; eine Orientierung, die ihr als Zwölfjährige erstmals aufgefallen war.
In Schaffhausen, da kommt sie her. In diesem Alter spielt sie, die Tochter eines Gastwirtes, die Handharmonika. In einem Nebenraum des elterlichen „Landhofes“ hört sie regelmäßig eine Jazzband proben. Sie wechselt daraufhin zum Klavier-, aber auch Schlagzeugunterricht.
George Lewis, in vollem Überschwang, spricht sehr viel später von den „political implications of Schweizer´s drumming“, will damit aber lediglich mit ihrer Handhabung des seinerzeit „ultimativen maskulinen Instrumentes“ den herausragenden Status ihrer Emanzipation in der damals nun wirklich patriachalen Jazzwelt markieren.
Sie war, im besten Kriegel´schen Sinne, eine „Einzelanfertigung“: in ihren Rollen als Frau, als überwiegende Autodidaktin, als ausgebildete Sekretärin.
Die lange Zeit noch dieser Tätigkeit nachging, um auch wirtschaftlich nicht vollends den Irrungen & Wirrungen der Jazzszene ausgesetzt zu sein.
1960, mit neunzehn, gewinnt das „Fräulein Schweizer“ einen Preis beim Zürcher Amateur-Jazzfestival.
Ein Konzert von Cecil Taylor 1966 in Zürich ließ sie zunächst eine Zeitlang verstummen, bis sie - von diesem Eindruck erholt - dann ihrerseits zum Free Jazz konvertierte, dem man sie zutreffend zuordnet, ohne dass sie sich gänzlich von Formen der Tradition (Blues, swing) gelöst hätte; eine Referenz zu Monk hielt sie immer aufrecht.
Sie trat solo auf, in etlichen Duo-Formaten, es gab eine afro-amerikanische Seite bei ihr (mit Don Cherry, John Tchicai u.a.), eine nominell-feministische (Les Diaboliques z.B.), sowie einen reichen Austausch mit der europäischen Jazz-Avantgarde.
Reserviert Irene Schweizer   1Sie wurde mit zahlreichen Preisen bedacht.
Die atmosphärisch würdigste Auszeichnung darunter, 2016 zu ihrem Fünfundsiebzigsten beim Jazzfestival in Schaffhausen, wo es schien, als werde sie von einer großen Abordnung aus der  Bürgergesellschaft ihrer Heimatstadt geehrt. Ein Kabarettist (Michael Stauffer) hielt die Laudatio. Selten konnte man, wie dort, den Eindruck gewinnen:  die Jazzszene hat (endlich) eine Form gefunden zu feiern.
Das sollte sie auch in Zukunft tun:
Irene Schweizers Leben liest sich wie ein Rollenmodell, das man freilich nicht kopieren kann. Das aber als offenes Sinnbild stehen mag für einen individuellen, starken  Ausdruckswillen, against all odds - gegen alle Umstände.
Wenn es einen Albert Mangelsdorff Preis gibt - warum nicht demnächst auch einen Irene Schweizer Preis oder ein Irene Schweizer Stipendium?
Irene Schweizer, geboren am 2. Juni 1941 in Schaffhausen, verstarb am 16. Juli 2024 in Zürich. Sie wurde 83 Jahre alt.

Foto: Francesca Pfeffer/Intakt Rec. (Irene Schweizer)
erstellt: 17.07.24

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PS Interview mit dem Schlagzeuger des Irene Schweizer Trios 1963-67, Mani Neumeier, in der September-Ausgabe des Schweizer Jazzmagazins Jazz´n´More.

Irene Schweizer (Dankesrede zum 75., Kammgarnfabrik, Schaffhausen, 26.05.16)

Mika goes to Monheim (2)

Was für ein Schachzug!
Das Fernsehen hat die Dokumentation von Jazzfestivals weitgehend aufgegeben, das Radio reduziert gleichfalls.
Die Produktionen - man hielt sie jahrzehntelang für einen Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen - sind in ihrer visuellen Form stark und in ihrer akustischen bis auf einen doch noch deutlich wahrnehmbaren Sockel geschmolzen.
Kritik an ihrer Produktionsästhetik war ihr ständiger Begleiter: Kameras suchten den gerade erklingenden Solisten; hatten sie ihn denn gefunden, fuhren sie ihm fast in die Nasenlöcher, der Anblick einer vollständigen Künstlerperson bei der Arbeit, vor allem der improvisierten, ward den Zuschauern am Monitor meist vorenthalten.
Das Niveau der begleitenden Information: ein Grauen, Anbetung der Künstler statt Information, von ästhetischer Debatte ganz zu schweigen. Tiefpunkt auch hier: Moers, wo Arte seinen Ruf verspielte und das Kasperletheater distanzlos in alle Welt pustete.
Was für ein genialer Schachzug also, die Dokumentation eines Festivals (auch in ihren seltenen guten Momenten) nicht Handwerkern zu überlassen, die schließlich quasi namenlos durch den Abspann huschen, sondern die Dokumentation ihrerseits zu einem Kunstwerk zu machen!
Mika iphone   1Das Geniale der Entscheidung von Monheim Triennale-Intendant Reiner Michalke liegt nun darin, für die Dokumentation von The Prequel II (04.-06.07.24) einen Künstler zu verpflichten, dessen Ruhm (und hier dürfen wir durchaus einen Weltmaßstab anlegen) den von 15 der insgesamt 16 Monheim-PerformerInnen übersteigt (Ausnahme Heiner Goebbels).
Die Monheim Triennale, von der auch in den angrenzenden Städten Düsseldorf und Köln etliche unter den potenziell Vorbeschallten noch keine Vorstellung haben, wird also in ihrer Version The Prequel II  mit Bestimmtheit ganz andere Kreise ziehen.
Dank Mika Kaurismäki, 68, dem älteren der beiden finnischen Meisterregisseure-Brüder.
Mika war in Monheim, sah sich um in der Stadt, nahm Konzert- und also auch Drehorte in Augenschein. Auch an Rheinkilometer 714, wo alsbald die Hauptlocation, das Rheinschiff mit Hauptbühne, vertäut werden wird.
Improvisation ist ihm nicht ganz fremd. Er hat einen (Spiel)Film ohne Drehbuch gemacht ("Three Wise Men", 2008), etliche Musik-Dokus, aber keine über Improvisierte Musik oder in den Varianten, die ihn in Monheim erwarten.
Michalke hat ihm einen Berater zur Seite gestellt, den neulich pensionierten SWR-Jazzredakteur und Fortschreiber des Berendt´schen Jazzbuches, Günther Huesmann, 67. Dieser führte, gut vorbereitet und dramaturgisch geschickt, durch eine Pressekonferenz, die wie die Vorgänger demnächst unter den Monheim Videos zu sehen sein wird.
Erste Verblüffung: Mika spricht Deutsch, leise zwar, aber gut vernehmbar. Er hat es in den Jahren 1977-1981 in München gelernt, während des Studiums an der Hochschule für Film und Fernsehen (für das RW Fassbinder die Aufnahmeprüfung nicht geschafft hat).
Es war der zweite, der entscheidende Anlauf in die Profession. Ursprünglich war er nach München gekommen, um Architektur zu studieren. 15 bis 20 Filme pro Woche habe er damals im Filmmuseum gesehen, dabei täglich die Filmhochschule passiert, bis er schließlich dort doch anklopfte.
Der erste Anlauf ereignete sich im Herbst 1976 in Finnland. Mika hatte den Sommer über als Anstreicher gut verdient, im Overall betrat er einen Buchladen und erwarb die gerade erschienene „History of Cinema“, las sie mit der Konsequenz, Filmregisseur werden zu wollen, aber die Eltern….
Mika schaut Miriam   1

Günther Huesmann hat drei Filmausschnitte vorbereitet. Der erste führt in Kaurismäkis wohl berühmtesten Film „Mama Africa“ (2011) über die südafrikanische Sängerin Miriam Makeba (1932-2008). Ein Interview mit ihr war verabredet, sie ist kurz vor Beginn der Dreharbeiten verstorben; der Ausschnitt in Monheim zeigt sie u.a. bei ihrer Rede vor der UNO in New York 1963.
Zwei weitere führen in die brasilianische Musik - ein begriffliches Dach für eine Vielzahl an Stilen, deren Namen die meisten wohl noch nicht gehört haben.
Huesmann zählt beiläufig ein Dutzend von ihnen auf, ein Dutzend neben Samba, darunter Choro, dem die Doku „Brasileirinho“ (2005) gewidmet ist.
Überhaupt Brasilien, Mika hat jahrelang in Rio gewohnt, hatte dort einen Musicclub, und neben seiner Tätigkeit als Filmregisseur, so Huesmann, habe er auch ein Händchen als Talentscout gezeigt. Mehrere Künstler, die als no names vor seine Kamera traten, hätten sich später zu Stars entwickelt.
Und dann Billy Cobham, kürzlich 80 geworden. Der (eine) frühe Superstar des Jazzrock-Drummings hat eine längsschnittartige, auch anekdotische Bedeutung für Mika Kaurismäki. Als Spät-Teen hat er sich auf einem selbstgebastelten drumset an „Spectrum“ (1973) abgearbeitet, sehr zum Mißfallen seiner Schwester - „sie hat Billy Cobham später geheiratet“.
Und dann „Sonic Mirror“ (2008), die Doku über Cobham. Der Ausschnitt hier ist besonders klug gewählt, er zeigt ihn inmitten von Streetkids, trommelnd und tanzend, in Bahia.
Und er zeigt - dass der Jazzmaster in diesem Moment erkennbar nicht weiß, wo die Glocken hängen, sprich: die Einsätze der collegas links und rechts bringen sein Rhythmusempfinden aus dem Takt.
Sie schiessen regelrechte Salven ab. Urplötzlich.

Mika schaut Cobham in Bahia   1In eineinhalb Stunden in der Festival-eigenen Villa am Greisbachsee entsteht ein unterhaltsames, informatives Kondensat aus dem umfangreichen Werk eines bedeutenden Künstlers.
Es beschreibt seine Vergangenheit. Seine Pläne für die unmittelbare Zukunft in der unmittelbarer Umgebung bleiben, notabene, wenig konturiert. Es hängt viel von anderen Handelnden ab, die sich mit voller Absicht dem Ungewissen, der Improvisation, überlassen werden.
Man verlässt die Villa in dem Glauben, dass Mika in seiner freundlichen Unerschrockenheit deren Treiben in den Griff kriegen wird.

erstellt: 03.06.24
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Palle Danielsson, 1946-2024

Palle DanielssonMan könnte, in einer ersten Annäherung, ihn für den Ron Carter des europäischen Jazz halten.
In diesem Bild wäre sein Miles Davis Keith Jarrett.
Fünf Jahre, von 1974 bis 1979, war er in dessen europäischem Quartett, mit Jan Garbarek u.a.
Das Bild soll die enorme Vielfalt seiner Einsätze zum Ausdruck bringen.
Sie betreffen den europäischen Norden (Bobo Stenson, Lennart Aberg, Jan Gabarek, Karin Krog, Edward Vesala), die Mitte (Christof Lauer, Albert Mangelsdorff, in den 1990er Jahren John Taylor), den Süden (Enrico Rava, Rita Marcotulli, Michel Petrucciani).
Aber schon hinsichtlich seines Tones gerät das Bild ins Wanken: seiner war doch ein eher „poetischer“, ein „singender“, wie die FAZ meint, auf jeden Fall raumgreifender.
Und was die transatlantischen Engagements betrifft, stellt er die US-Referenz vollends in den Schatten.
1965, noch als Student an der Königlichen Musikakademie in Stockholm, ruft ihn Bill Evans in seine Band. Es folgen Charles Lloyd, Lee Konitz, Peter Erskine, Steve Kuhn, Marilyn Crispell und andere.
In einem allerdings ähneln sie sich doch: obwohl beide eigene Bands haben/hatten, ist/war ihre Hauptrolle doch die eines Sideman. Was großen Ruhm nicht ausschließt.
Paul „Palle“ Danielsson, geboren am 16. Oktober 1946 in Stockholm, verstarb am 18. Mai 2024 in Aker Styckebruk, südwestlich von Stockholm. Er wurde 77 Jahre alt.

 

Foto: Richard Kaby, Wikimedia
erstellt: 21.05.24
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David Sanborn, 1945-2024

Pardon, dass dieser Nachruf mit einer Andekdote beginnt.
Zunächst aber zur Schreibbegleitung einen track aufgelegt: aus der Vielzahl an Möglichkeiten ein Stück aus „Songs from the Night before“, 1996, nicht mal eines seiner bedeutenden Alben.
Der track „D.S.P.“, ein ungemein groovender slow Shuffle, in dem der Altsaxophonist ganz auf lament, auf Wehklagen gestimmt ist, gedämpft, nicht als shouter.
„D.S.P.“ enthält sound-gimmicks des Tages (er war immer auch Kind seiner Zeit), Plattenrauschen, kurze Einwürfe von Orchestersamples. Das Stück startet mit Orgelfauchen, dann ein snare drum-Vorschlag und zwischendrin immer mal wieder fill ins, in der Ausblende schließlich zwei Triolen auf der snare, wie sie in dieser trockenen Eindringlichkeit überhaupt nur einer schlagen kann: Steve Jordan.

Steve Jordan bei David Sanborn, das bringt in Fahrt; als nächstes aufgelegt ihre funky Fassung von Ornette Colemans „Ramblin´“, aus „upfront“, 1992.
Die Anekdote. Sie spielt beim „Saxophondoktor“ Peter Neff (1937-2014) in Köln, in seiner Ladenwerkstatt unweit Groß St. Martin. Der Inhaber, urgemütlich, beliebt, ist gleichwohl genervt und deutet gegenüber einem Besucher auf die schalldichte Kabine in seinem Laden: „da übt jemand Sanborn-licks ohne Ende!“
Neff und der berichtende Besucher, seinerseits ein nicht unbekannter Saxophonist, schauen schließlich nach - es ist der Urheber, der, physiognomisch zunächst unerkannt, seine eigenen Muster an einem neuen Instrument übt.
david sanbornLicks like Sanborn, näselnd im Ton, häufig mit starker Blues-Inflektion, fast immer perfekt durchphrasiert, in Verwandtschft zu Hank Crawford (1934-2009), eine akustische Ikone:
"the most influential saxophonist on pop, R&B, and crossover players of the past 20 years“, wie ihn 2011 sein späterer Biograph Scott Yanow charakterisiert. Ein dieser Tage häufig bemühtes Zitat, in dem der Smooth Jazz fehlt (dem er mitunter auch verfallen ist), aber auch der „richtige“ Jazz.
Möglicherweise ist all dies aber auch in crossover player versteckt, denn mehr crossover dürfte nicht mal Michael Brecker (1949-2007) sich bewegt haben. In den frühen 70ern standen beide side by side bei den Brecker Brothers. Wobei Sanborn nach eigenem Bekunden nur einmal den Fehler beging, nach Brecker ans Solistenmikrophon zu treten, die Bühne sei danach „wie napalmisiert“ gewesen.
(Für Pianisten lautet der gleiche Positionseffekt, eher fiktiv, „nach Keith Jarrett spielen).
Er war ein Woodstock-Veteran (mit der Butterfield Blues Band am 18.08.1969), fast zu schweigen vom Monterey Pop Festival 1967 (ebenfalls mit Butterfield).
Seine kaum zu zählende recording list umfasst die Rolling Stones, Elton John, James Brown, Steely Dan, Gil Evans, Django Bates (jawoll, eine Fassung von „Life on Mars“ (David Bowie) auf „You live and learn…(apparently)“, 2003), nicht zu vergessen Ian Hunter in dem hypnotischen „All American Alien Boy“, 1976, mit Jaco Pastorius.
Sanborn ist für Mediziner insofern interessant, als die Empfehlung, ein Blasinstrument zu lernen, Teil einer Polio-Therapie war (Stärkung der Brustmuskulatur).
Noch interessanter dürfte er für die Verirrten der Kulturellen Aneignung sein:
Gebürtig in Florida ist er in St. Louis aufgewachsen, und zwar unter lauter - wie man heute weiß - namhaften POCs, wie sie heute zu sagen pflegen.
Er war mit Lester Bowie und dessen Ehefrau Fontella Bass privat. Er soll kurzzeitig das dritte Alt in einer Band mit Julius Hemphill und Oliver Lake gespielt haben. Sein größter Freund und Konversionspartner war Phillip Wilson (1941-1992). Mit dem schwarzen Drummer Wilson war der weiße Saxophonist Sanborn eine Zeitlang in der weißen Butterfield Blues Band.
Sein erstes eigenes Album erscheint 1975 „Takin´off“. Im Gegensatz zu dem gleichnamigen von Herbie Hancock, 1962, kann man jenem und auch den Nachfolgern in den 70er und 89ern kaum genre-prägende Wirkungen attestieren. Der New Yorker Funk-Adel, den er jeweils um sich scharen konnte, stellt hier sein doch sehr aseptisches Handwerk aus.
Sanborn war ein Instrumental-Stilist, kein Konzeptionalist.
Ein Wende stellte sich ein, als Marcus Miller als Produzent 1992 („upfront“) und 1994 („hearsay“) die Funk-Zügel straff zieht. Seine eindrücklichsten Grooves finden sich hier. Die Version von Ornette Colemans „Ramblin´“ ist ein spätes Echo auf die listening sessions in der Wohnung von Lester Bowie, Jahrzehnte zuvor in St. Louis.
Obwohl 2018 Prostatakrebs bei ihm diagnostiziert wurde, soll er bis zuletzt „his normal schedule of concerts“ beibehalten haben, u.a. für ein Konzert auf dem Festival von Till Brönner in Kampen auf Sylt. Der ikonische Charakter seines Altsaxophons erschien zunehmend als ein historischer.
David William Sanborn, geboren am 30. Juli 1945 in Tampa/FL, aufgewachsen in Kirkwood/MS, starb am 12. Mai 2024 in Tarrytown/NY an Prostatakrebs. Er wurde 78 Jahre alt

erstellt: 13.05.24
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Mika goes to Monheim - The Prequel II

Eine Triennale ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.
Anstatt ihrer nominellen Verpflichtung nachzukommen und nach einem lauten Auftreten in der Folge zwei Jahre lang zu schweigen (wie die MusikTriennale Köln, 1994, fff.) folgt sie, je nach Ort, einer jeweils anderen Auslegung der Zahl „drei“.
Bei der Ruhrtriennale/Festival der Künste versteht man darunter eine alle drei Jahre wechselnde Intendanz - bei jährlichem Spielbetrieb.
Die Monheim Triennale kennt bei ebenfalls jährlichem Spielbetrieb seit 2020 nur den Gündungsintendanten Reiner Michalke, ad lib. Und dazu ein gegenüber Michalkes Stadtgarten-Jahrzehnten erweitertes System von derzeit fünf KuratorInnen (wir kommen darauf zurück).
Die Monheim Triennale folgt - falsches Bild, aber nicht ganz falsch - einem Dreistufen-Modell. Im Juli 2024 läuft die Triennale II, und zwar The Prequel, der programmatisch eng verknüpfte Vorgriff auf die Hauptsache in 2025 (mutmaßlich wieder auf einem fest-vertäuten Rheinschiff, weil die Kulturraffinerie K714 dann noch nicht fertig sein wird.)
Auftakt zur Triennale II war im vergangenen Jahr The Sound, eine Klangkunstausgabe des Festivals (u.a. mit Robert Wilson), und aller Voraussicht nach wird die Triennale III in 2026 u.a. wiederum mit einer aus dieser Welt markanten Künstlerpersönlichkeit starten.
Das Tableau der 16 Künstler für The Prequel steht sein einigen Monaten fest. Inzwischen ist quasi ein 17. dazugekommen: Mika Kaurismäki, 68, der ältere der beiden berühmten Filmemacher aus Finnland. Er wird The Prequel II dokumentarisch begleiten.
Triennale II Goebbels   1Der andere Star unter den 16 auf der der Bühne (das Festival wirbt so mit beiden) ist der Ruhrtriennale-Chef der Jahre 2012-2014: Heiner Goebbels.
Ihm war zwei Wochen zuvor eine eigene Pressekonferenz im Stile einer Matinee gewidmet. Am selben Ort: in der Villa am Greisbachsee, inzwischen Büro der Triennale-Administration sowie Refugium für MT-Künstler.
Der renovierte Bungalow aus den 50ern ist auch mit einem Konzertflügel bestückt. Er kam weidlich zum Einsatz in dem Gesprächskonzert mit Thomas Venker, einem der Kuratoren; mehrfach um z.B. die frühen Jahre des inzwischen 71 Jahre alten Künstlers zu illustrieren:
Goebbels´ frühe Jahre in einer Kleinstadt in der Pfalz, Anfang und Mitte der 60er, wo dem jüngsten unter drei Brüdern das Hören der aktuellen Popmusik (Beatles!) auf wöchentlich einen Tag rationiert war. Im Radio.
Das häusliche Klavier - nicht etwa der Cassettenrecorder wie bei den Gleichaltrigen - wurde ihm dabei zum „Medium der Aufzeichnung“. Er geht zum Flügel und schlägt die Eingangstakte von „Lady Madonna“ an.
Und eben dort spielt er den langsamen Satz aus Bachs Italienischem Konzert, zum ersten Mal nach 58 Jahren, als er es in Landau öffentlich vortrug.
Die Wahl des Klaviers damals war keineswegs frei, sie ergab sich aus der Vervollständigung eines klassischen Trios, in dem Violine und Cello bereits durch die älteren Brüder besetzt waren.
„Lebensverändernd“ dann der Besuch der Donaueschinger Musiktage, 1971 der Auftritt von Don Cherry samt Entourage; 1972 John das Mahavishnu Orchestra in München. Zwischendrin die Klaviersonate von Alban Berg, eine der Sonaten von Scarlatti, er spielt sie an im Haus am Griesbachsee.
Heiner Goebbels ist nicht der große Improvisator, vielmehr ist „Improvisation der wichtige Weg, wie ich zu meinen Arbeiten komme“. Er gehört lange schon zu den Gebenedeiten, die lange vor der Niederschrift einer Komposition mit einem ganzen Orchester Unfertiges proben und diskutieren (!) können. Goebbels ist, nach eigener Auskunft, unbedingt ein Teamarbeiter.
Das dürfte ihn insbesondere an Monheim reizen. Als Ausblick auf seine Präsenz bei The Prequel II ruft er vom iPad die betörende Stimme eines armenischen Opernsängers ab und rankt improvisatorisch Akkorde drumherum.
Ob er das auch im Juli 2024 aufführen wird? Kann sein. Es könnte aber auch sein, dass er - sagen wir - dem Wunsch der schottischen Bagpipe-Spielerin Brìghde Chaimbeul entspricht und mit ihr im Duo oder in welcher Formation auch immer auftritt.
Bei The Prequel II können die 16 untereinander wählen, wen sie wollen; sie können miteinander reden, sie können proben - müssen aber nicht. Der gar nicht so klammheimliche Wunsche des Intendanten Michalke wäre erfüllt, wenn KünsterInnen ohne jede Vorbereitung auf die Bühne gingen.

Triennale II PK   1Trienale PK: Reiner Michalke, Shannon Barnett, OB Daniel Zimmermann, Rainbow Robert, Achim Tang (community artist)

Er trau ihnen alles zu. Und wenn´s mal klamm werden und kein Lüftchen sich regen sollte, kann immer noch Shahzad Ismaily intervenieren. Er ist die Inkarnation der wildcard des Festivals, der absolute Darling aller bisherigen Triennale-Durchgänge. Derjenige, der durch seine Präsenz die Performer zu Entscheidungen zwingt - auch wenn er dabei nicht die Rampensau geben muss.
Das Vertrauten in die Qualitäten der 16 Eingeladenden ist wirklich grenzenlos. Sie sind handverlesen aus einer in die Tausende gehenden Auswahl, vom Intendanten samt fünf KuratorInnen. Zwei von ihnen, zwei langjährig Erfahrene, Weitgereiste waren auf der Pressekonferenz per Video zugeschaltet: Jessica Hallock, NYC sowie Rainbow Robert aus Vancouver (die, für sie, nachts um Drei von der Atlantikküste her einen Toast auf diese auch für sie einmalige Veranstaltung ausbrachte).
Die fünf plus Michalke sieben diskursiv solange, bis 16 übrigbleiben. Jede KuratorIn stimmt auch bei den Vorschlägen der anderen mit, kann aber mindestens eine oder zwei „wildcards“ unwidersprochen durchbringen. Die letzte Entscheidung darüber liegt beim Intendanten Michalke („das ist kein demokratischer Prozeß“).
Ja, es hat Ablehnungen gegeben, kollektiv und auch seitens der Intendanz, darunter auch eine - wir würden gerne sagen - gehypte Künstlerperson (wir formulieren hier ausdrücklich geschlechtsneutral).
Diese 16 signiture artists sind nicht nur zur Prequel 2024 in Monheim, sondern auch in der Hauptsache 2025 - dann mit ihren eigenen Ensembles. Wobei auch solche, die sich 2024 ergeben haben werden - nicht ausgeschlossen sind.

erstellt: 20.04.24
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Deutscher Jazzpreis 2024

Der Deutsche Jazzpreis, 2024 zum vierten Mal verliehen und erstmals  in Köln, hatte ein Vorecho. Es kam aus Bremen eine Woche zuvor, von der jazzahead, der vorherigen Station.
Es war eine gute Nachricht:
Alexander von Schlippenbach erhält den Deutschen Jazzpreis 2024 für sein „Lebenswerk“.
Der Pianist hat gerade sein 87. Lebensjahr begonnen. Ihn zu ehren, ist ebenso berechtigt wie völlig unumstritten. Nur mit Hilfe seiner Ehefrau, der Pianistin Aki Takase, konnte er das Podium in Köln erklimmen. Das Publikum im E-Werk dankte ihm als einzigem unter den Ausgezeichneten mit standing ovations, ein bewegender Moment am Schluss eines langen Abends.

Jazzpreis 2024 SchlippenbachCniclasweber
„Meine Musik“, betonte er (und traf damit die exakteste terminologische Festlegung des Abends), „ist der Free Jazz“. Zwar werde weltweit mehr FreeJazz gespielt als je zuvor, aber „wir sind immer noch Underground - wenn auch sich etablierender, wenn nicht etablierter Underground; Fördergelder, Stipendien, das ist sehr schön“.
Der frühere Jazzrevolutionär musste selbst schmunzeln dabei, einzelne Lacher unterstützten ihn. Vielleicht stammten sie von den Durchblickern, die die Vergeblichkeit des „noch schöneren“ Wunsches des Preisträgers ahnten, "in naher Zukunft in unserem Medium, dem Rundfunk“ wieder mehr vertreten zu sein (mit Blick auf die Pläne der ARD ab Herbst 2024 eine unerfüllbare Utopie).
Es ging ein wenig unter in der Rührung des Augenblickes, dass Schlippenbach zugleich auch in einer weiteren Kategorie preisgekrönt wurde, in „Tasteninstrumente“.
Man mochte hier eine der kaum nachvollziehbaren Entscheidungen der Jury erkennen, die schon unter den Nominierten in dieser Kategorie heutige Neuerer wie Philip Zoubek oder Felix Hauptmann offenkundig überhört hat. Welche mit dem Geld für eine Nominierung (4.000 Euro), erst recht mit dem Preisgeld von 12.000 Euro sicher etwas hätten anfangen können.
Es waren, zugegeben, 2024 deutlich weniger fragwürdige Ehrungen als im vergangenen Jahr, wir erinnern z.B. an die leistungslose Auszeichnung an „Queer Cheer“.
Es waren aber auch deutlich weniger Kategorien; mehr WürdenträgerInnen als früher konnte man teilen, allen voran Petter Eldh unter "Saiteninstrumente".
Ohnehin senkte sich der Zeitgeist diesmal auf andere Felder. Der Begriff „afro-diasporisch“ wurde sogleich im Chi-Chi der Moderationen nivelliert, nicht besser erging es Großwerten wie „Demokratie“ und „Freiheit“.
Ergiebigste Quelle hier erneut die Staatsministerin für Kultur, Claudia Roth, in einer Videobotschaft („Liebe Musikerinnen und Musiker, liebe Demokratinnen und Demokraten. Jazz bedeutet für viele Musiker:innen und Zuhörer:innen pure Freiheit“.)
Möglicherweise zeigte sich hier bereits ein Lerneffekt aus der Roth-Rezeption bei der Berlinale, wobei die Filmbranche ohnehin ganz anders mit der Ministerin umspringt als unsere kleine Welt. Ihre Vorstellung von einem „Raum für das respektvolle, für das zivilisierte Austragen von Kontroversen auch im Rahmen solcher Veranstaltungen“, (sie meint die Jazzpreis-Verleihung), war im Kölner E-Werk mit keinem Sinnesorgan zu erkennen.
Zu der von Claudia Roth suggerierten und auch in dieser Zeremonie durchgängig gepflegten Auffassung, Demokratie zeige sich in modellhafter Form, wenn unterschiedliche MusikerInnen auf der Bühne stehen, hat ihr Kollege aus gemeinsamen Zeiten im Präsidium des Deutschen Bundestages das Nötige gesagt.
Die Frage, ob er das Bild nachvollziehen könne, „ein Jazz-Trio sei Demokratie im Kleinen“, verneint Norbert Lammert.
„Demokratie ist ein Verfahren zur Herbeiführung von Entscheidungen. Am Ende zeichnet sich eine demokratische Entscheidung immer dadurch aus, dass unter unterschiedlich vorhandenen Positionen die Mehrheit sich durchsetzt. Ich weiß nicht, ob man das für den Jazz ernsthaft reklamieren kann“ (in: Anke Steinbeck. Auf der Suche nach dem Ungehörten. Köln, 2019).

Liste der PreisträgerInnen

Foto: Niclas Weber
erstellt: 19.04.24

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