Mike Ratledge, 1943-2025

Ratledge FotoWer ist Kult?
Es dürfte müßig sein, diesem schwammigen Begriff mit einem halbwegs festen definitorischen Konzept ein wenig Gültigkeit zu verschaffen.
Aber, hey, dieser Fall drängt sich geradezu auf! Er bietet sich an als Realdefintion von Kult.
Verehrt wird ein Künstler, von dem man zum Zeitpunkt seines Ablebens fast 50 Jahre lang keinen Ton mehr gehört hat, „der als künstlerisch wertvoll gelten könnte“.
Ein Künstler, der von vielen, die altersmäßig durch die Vorwahlen 6 und 7 zu erreichen sind, regelrecht vermisst wird. Seit Jahrzehnten. Die Aktivitäten auf facebook sprechen Bände.
Dabei konzentriert sich die Verehrung auf ein kleines Zeitfenster seines Lebens, geöffnet vom Frühjahr 1969 bis zum Frühjahr 1976. Das Zeitfenster beschreibt einen frühen Höhepunkt einer Band, die er dann nach sieben Jahren wieder verlässt.
In dieser Zeit hat diese, Soft Machine, den britischen Jazzrock von der Rockseite her umgekrempelt. Nicht unwesentlich, weil er dabei (nicht als einziger, aber als prägender) auf der elektrischen Orgel einen Sound entwickelt, der mit „Wespe im Gehirn“ metaphorisch gut erfasst ist. Er artikuliert sich in an- und abschwellenden Klangflächen, aber auch Cluster-Ballungen;  in langen Soli mit sicherem timing und mitunter Saxophonartiger Phrasierung. Ein Faszinosum!
Die meisten, die an diesem oft sehr eindrücklichen Klangbild mitgewirkt haben, sind verstorben: Kevin Ayers, Hugh Hopper, Elton Dean, Allan Holdsworth, John Marshall. Sie haben sich später, unabhängig vom Gruppenmythos, auch als individuelle Künstler behauptet.
Die Gruppe schleppt sich, mit anderem Personal, auch heute noch über die Bühnen. Sie könnte den Namen auch fallenlassen; ihr haftet, selbst wenn sie im Katalog der legendären Stücke blättert, nichts mehr von deren Magie an.
Wer sich nach den Umständen ihres Entstehens erkundigt, nach den Bewegkräften des Mythos, im Zeitfenster der späten 60er und frühen 70er, der kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er stösst auf ein Dickicht von Widersprüchen, Animositäten, ja Gegnerschaften auf engstem Raum - dem große Kunst entsprungen ist. Against all odds.
Wer nach einer Fortsetzung dürstete, wer sich nicht damit abfinden konnte, dass die bewegende Zeit nur noch in Tonträgern verschlossen vorliegt, der musste - wenn er überhaupt etwas wahrnehmen konnte - sehr viel später mit Befremden lesen, dass der verehrte Künstler die schönen Zeiten in die Tonne trat:
„Ein Teil des Problems mit Soft Machine war, dass man sich völlig in einem bestimmten Stil gefangen fühlte. Es war eine ziemliche Erleichterung, in die Werbemusik einzusteigen, wo es möglich ist, in einer großen Bandbreite von Stilen zu arbeiten. Etwa eines von drei Projekten ist interessant.“
Wer die Schallwellen, die hier angesprochen und vorsichtig gefeiert werden, zur Kenntnis nehmen konnte, verstand die Welt nicht mehr.
Etheridge Ratledge.pngSein Achtzigster wurde gefeiert vor knapp zwei Jahren - der Künster war nicht anwesend.
Heute kommt von John Etheridge, einem der aktuellen Namensträger von Soft Machine, mit dem er sich alle paar Wochen noch traf, die Nachricht auf facebook:
Michael Roland Ratledge geboren am 6. Mai 1943 in Maidstone/Kent, verstarb am 5. Februar 2023 in London. Er wurde 81 Jahre alt.

erstellt: 05.02.25
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DLF Milestones zum 80. von Mike Ratledge

Soft Machine in Bilzen/B 1969

Mike Ratledge Interview 1974

 

 PS (11.02.25)
PS: War der Tod von Mike Ratledge (fast) exklusiv ein deutsches facebook Phänomen?
Das Großfeuilleton nahm nicht von ihm Kenntnis, seine kleineren Ableger ebenfalls nicht. Noch verwunderlicher: nichts bei UK Jazz News oder Richard Williams´ blog bluemoment.
Zwei britische Tageszeitungen zogen nach, nicht unter Culture oder Music, sondern - was die Zeitverzögerung erklärt - unter „obituaries“/Nachrufe:
Der Guardian sowie der Telegraph.

 

 

 

Siegfried Schmidt-Joos, 1936-2025

Freejazz Tv Miller 1

Radio Bremen, WDR, Rias, SFB, twen, Der Spiegel, Gondel (für die Nachgeborenen: Bikini-Frauen auf dem Cover), der Band „Es muss nicht immer FreeJazz sein“, die „historically speaking“-Kolumne im Jazz Podium…
Aber vor allem: die TV-Debatte „Free Jazz - Pop Jazz. Unverständlich oder Populär?“ von 1967, ein Dauerbrenner auf YouTube - auch deshalb, weil sie ewig die Frage wachhält: „Ist der Diskurs heute wirklich besser?“
Doch das ist nur seine jazz side of things.
Damit sind noch gar nicht seine anderen Seiten angetippt, seine Neigung zu Schlager, Chanson, Popmusik generell und last not least, sein „Rock Lexikon“, ab 1973 fff.
SSJ war ebenso der elder statesman der deutschen Jazzpublizistik wie auch seiner Pop-Anverwandten.
Er war durch und durch eine Blüte der Sixties; schon seine ersten beiden Bücher, beide von 1960 („Geschäfte mit Schlagern“ und „Jazz - Gesicht einer Musik“) sprechen Bände über die Zwei-, nein Vielgleisigkeit seiner Interessen.
Nebbich, nun darüber zu resümieren, ob er jeweils die Nase im Wind oder - noch törichter -: ob er immer recht hatte.
Viel entscheidender, der Mann konnte reden. Und schreiben.
Er war ein Stilist. Dessen Blüten jahrelang in Zitaten weiterlebten (beispielsweise die von den „Zerr- und Splitterklänge“, über die sich Volker Kriegel fortwährend lustig machen konnte).
Goodbye Siggi.
Siegfried Schmidt-Joos, geboren am 17. April 1936 in Gotha), verstarb am 3. Februar 2025 in Berlin. Er wurde 88 Jahre alt.

erstellt: 04.02.25
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Jazz Grammys 2025

Best Jazz Performance
“Walk With Me, Lord (SOUND | SPIRIT)” by The Baylor Project
“Phoenix Reimagined (Live)” by Lakecia Benjamin ft. Randy Brecker, Jeff “Tain” Watts and John Scofield
“Juno” by Chick Corea and Béla Fleck
 “Twinkle Twinkle Little Me” by Samara Joy ft. Sullivan Fortner
"Little Fears” by Dan Pugach Big Band ft. Nicole Zuraitis and Troy Roberts

Best Jazz Vocal Album
Journey In Black by Christie Dashiell
Wildflowers Vol. 1 by Kurt Elling and Sullivan Fortner
A Joyful Holiday by Samara Joy
Milton + Esperanza by Milton Nascimento and Esperanza Spalding
My Ideal by Catherine Russell and Sean Mason

Best Jazz Instrumental Album
Owl Song by Ambrose Akinmusir
Beyond This Place by Kenny Barron 
Phoenix Reimagined (Live) by Lakecia Benjamin
Remembrance by Chick Corea and Béla Fleck
Solo Game by Sullivan Fortner

Best Large Jazz Ensemble Album
Returning To Forever by John Beasley and Frankfurt Radio Big Band
And So It Goes by The Clayton-Hamilton Jazz Orchestra
Walk A Mile In My Shoe by Orrin Evans and The Captain Black Big Band
Bianca Reimagined: Music For Paws And Persistence by Dan Pugach Big Band
Golden City by Miguel Zenón

Best Latin Jazz Album
Spain Forever Again by Michel Camilo and Tomatito
Cubop Lives! by Zaccai Curtis
COLLAB by Hamilton de Holanda and Gonzalo Rubalcaba
Time And Again by Eliane Elias
El Trio: Live in Italy by Horacio ‘El Negro’ Hernández, John Beasley and José Gola
Cuba And Beyond by Chucho Valdés and Royal Quartet
As I Travel by Donald Vega ft. Lewis Nash, John Patitucci and Luisito Quintero

Best Alternative Jazz Album
Night Reign by Arooj Aftab
New Blue Sun by André 3000
Code Derivation by Robert Glasper
Foreverland by Keyon Harrold
No More Water: The Gospel Of James Baldwin – Meshell Ndegeocello

Mike Miller, 1953-2025

Gallery   Mike MillerZu den Sprachbildern, mit denen der Jazzautor Michael Naura (1934-2017) (s)einen eigenen Rang begründete (und derer sich jazzcity.de sehr gerne bedient), gehört die Position „…liegt sehr gut im Mittelfeld“.
Diese Beschreibung, vom Autor vermutlich mit dem ihm eigenen Sarkasmus beschwert, lässt sich mit Hilfe eines noch größeren Geistes (HM Enzensberger) durchaus von ihrem Ballast befreien und im vorliegenden Fall ins Positive wenden.
Der englisch-sprachige Wikipedia-Eintrag von Mike Miller ist weitgehend identisch mit mit der „Bio“ auf seiner Homepage. Man erfährt so gut wie nichts über die Umstände, unter denen er sein Instrument erlernt hat, sondern sieht ein eindrucksvolles Namenspanorama derer, denen er als Gitarrist gedient hat.
Von Larry Coryell, Robben Ford, Bill Frisell und den Fowler Brothers in den frühen 70ern, über 11 Jahre Pop bei Gino Vannelli und eine Studio-Session mit den Yellowjackets in den 80ern, nämliches später bei Chick Corea Elektric Band II („Paint the World“, 1993) und Vinnie Colaiuta (1994).
Später folgen Zappa-Orchesterinterpretationen sowie ein Gitarrenpart bei Mark-Anthony Turnage („Blood on the Floor“). 
Dass er, wie die jazzguitarsociecty suggeriert, ein „guitarist’s guitarist“, dürfte arg übertrieben sein, zutreffend aber sicher der zweite Satzteil, wonach er „one of the most sought-after and respected players in Los Angeles“.
Eben, ein sehr funktionaler Musiker; es macht Spaß, sich den einen oder anderen name job noch einmal anzuhören, vor allem „Paint the World“.
Er selbst pflegte eine Art Westcoast Jazzrock bis zuletzt, z.B. „Trust“ (2022) mit allerlei ex-Zappa- und ex-Corea-Personal. Wohingegen sein allerletztes Album „Every Breath, Every Step“ (2024) ununterscheidbar im Mainstream Rock versinkt.
Peinlich wie seinerzeit im Falle Tony Williams „Young at Heart“ (1996), der fast zeitgleich an einem Herzinfarkt verstarb, dass das Cover von „Every Breath, Every Step“ unter den Gegenständen an einem Strand ein Todeskreuz zeigt.
Mike Miller, geboren am 8. Mai 1953 in Sioux Falls/SD, starb am 18. Januar 2023 an einem Herzinfarkt. Er wurde 71 Jahre alt.

 erstellt: 19.01.25
©Michael Rüsenberg, 2025. Alle Rechte vorbehalten

Auch Jazzmusiker unter den Geschädigten in LA

Bei den Waldbränden in Los Angeles heisst es nicht mehr nur „Stars in Gefahr“, die Katastrophe bekommt nun auch weniger prominente Gesichter, die Gesichter von Jazzmusikern.

Maupin Haus

In diesem Haus in Altadena hat Bennie Maupin, 84, 25 Jahre lang gewohnt, ein Bereich in L.A., der seit den 60er/70er Jahren von Jazzmusikern bevorzugt wird.
Das Eaton Fire hat nicht nur Maupins Haus zerstört, verloren sind Dokumente aus 70 Jahren Familiengeschichte, Instrumente, das Auto; der einst bei Herbie Hancock gefeierte Baßklarinettist konnte nichts als sein Leben retten, wie sein Sohn Toussaint in einem Spendenaufruf schreibt.

Bobby BradfordDas gleiche Schicksal, gleichfalls in Altadena, ereilte den Trompeter Bobby Bradford, 90, und seine Frau Lisa. Auch im Falle des früheren Ornette Coleman-Mitstreiters gibt es einen Spendenaufruf, eingerichtet von einem langjährigen Kollegen, dem Gitarristen Karl Evangelista aus Oakland.
Die Zielmarken sind mit 60.000 bzw 65.000 Dollar recht bescheiden.

 erstellt: 15.01.25
©Michael Rüsenberg, 2025. Alle Rechte vorbehalten

 PS (18.01.25): Auch der Arrangeur Vince Mendoza (u.a. WDR Big Band) sowie der Bassist John Clayton und sein Sohn Gerald haben ihre Häuser durch die Brände verloren. down beat verlängert die Liste um etliche mehr, darunter Steve Lehman, Stanley Clarke, Jeff Lorber sowie der ex-Cannonball Adderley Schlagzeuger Roy McCurdy, 88.

 

Improviser In Residence, Moers 2025

Bart Maris c Benoit Van MaeleBart Maris, 60, aus Gent ist der neue Improviser In Residence in Moers.
Er ist der 18. in einer Reihe, in der seit 2008 nach der m/w/m/w-Regel eine Auswahl getroffen wird, und die auch Doppelbesetzungen kennt, beispielsweise 2021 die beiden Amerikaner Kevin Shea und Matt Mottel.
Der Trompeter und Kornettspieler übernimmt das Amt (damit verbunden auch ein Auftritt beim kommenden Moers Festival) von der Saxophonistin Virginia Genta sowie für die kommenden 12 Monate das Recht, eine neu geschaffene Wohnung in der Neustraße zu beziehen.
Die Ära prominenter Besetzungen liegt schon ein wenig zurück, denken wir beispielweise an Hayden Chisholm (2015), Julia Hülsmann (2014) oder Ingrid Laubrock (2012).
Mit Blick darauf, dass Maris das Festival von der Bühne her kennt und seit 2023 den Spielbereich „Wo die wilden Kinder wohnen“ betreut, scheint nunmehr nicht der große Künstler, sondern der anpassungsfähige Stadtmusikant gefragt.
Maris will die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in den Fokus nehmen und sich jeweils wandeln nach dem Prinzip „Anderes Publikum - andere Musik“, wie er in einem Video betont.

erstellt: 12.01.25
©Michael Rüsenberg, 2025. Alle Rechte vorbehalten

Das Leben des Brian (Auger)...

…soll verfilmt werden.
Früher hätte sich mit dieser Nachricht eine Filmproduktion gemeldet, um damit zugleich auf einen Ausstrahlungstermin eines Auftraggebers, nämlich eines öffentlich-rechtlichen TV-Senders, zu verweisen; in diesem Falle wohl die BBC, vielleicht aber auch Arte oder eines der größeren deutschen Dritten Programme.
Those were the days, my friend
Heute kann man auf diesen Ausspielweg nicht mehr zählen (wir haben es selbst erfahren, vor Jahren, dass die angesprochenen Anstalten keine solchen machten, sich für eine größere Doku über Heiner Goebbels zu erwärmen.)
Heute läuft so etwas über crowdfunding, also die vorfristige Inanspruchnahme der Rezipienten.
Und also haben die beiden britischen Filmemacher Alfred George Bailey und Greg Boraman einen solchen Aufruf gestartet. Bis Ende Februar 2025 wollen sie für „Brian Auger - I speak Music“ (gar nicht so weit weg vom Stadtgarten-Slogan „We eat Music“) £ 225.000 einsammeln, zum jetzigen Zeitpunkt sind es 24 supporters mit £ 1.149.
Man möchte dem Projekt Erfolg wünschen angesichts einer Karriere, deren Höhepunkte zwar weit zurückliegen, die aber ein anschauliches Kapitel von swingin´ London entfaltet.
brian auger 1965Wer möchte nicht noch mal Brian Auger The Trinity & Julie Driscoll sehen & hören, oder Auger mit Rod Stewart (1965) oder anno 1972/73 den Oblivion Express mit der Rhythmusgruppe Barry Dean, bg, Lennox Laington, perc, Godfrey MacLean, dr.
Über allem, natürlich, das Orgelspiel eines Musikers, heute 85, der sich mit ikonografischen Zugriff auf die Hammond B 3 gegen die Dominanz der Amerikaner hat behaupten können.
Da gibt es Momente, wo einem schon mal die Haare zu Berge stehen können…

erstellt: 08.01.25
©Michael Rüsenberg, 2025. Alle Rechte vorbehalten

Barre Phillips, 1934-2024

540px Barre Phillips E5100608Man erinnert ihn auf der Bühne als das Gegenteil einer Rampensau, eine zurückhaltende Person, oft mit einem freundlichen, vielleicht gar schelmischen Lächeln. Einer, der die Umstände registriert, sich ihnen gerne stellt, aber aus einer großen inneren Ruhe heraus.
Ein Solitär. Kein Wunder, dass ihm das erste Bass-Solo-Album der Jazzgeschichte zugeschrieben wird („Journal Violone“, 1968) sowie das erste im Duo mit einem Instrumental-Kollegen („Music from two Basses“, 1971, mit Dave Holland), später mit Peter Kowald, Barry Guy u.a.
Er hat beide Formate bis zuletzt betrieben: „End to End“, 2018, solo; „To face the Bass“, 2020, mit Teppo Hauta-aho.
Es dürfte schwierig werden, ihn instrumental-stilistisch zu lokalisieren, ihn gar blindfold herauszuhören.
In manchem erinnert er an Charlie Haden, wobei jener gar nicht an Elektronik interessiert war, was sich bei Phillips spätestens mit „Mountainscapes“ (1976) von einem Faible zu einer „zweiten Natur“ ausweitete. Im Team dieses Albums u.a. John Surman und Stu Martin, mit denen er in jenen Jahren in einem dynamischen Trio ein Feuer entfachte, das auch heute noch anzieht (wie konnte es mit Stu Martin auch anders sein).
Nicht zuletzt beeindruckte er arco, mit dem gestrichenen Bass.
Auf seinem mutmaßlich letzten Album „Face à Face“ (2020) bedient er zwar den Baß, hat aber mit György Kurtág erneut einen Elektroniker zur Seite.
Wenn man insbesondere in die vielen kleinformatigen Produktionen zurückblendet, schält sich in er Tat das Bild eines Solitärs heraus; mit einer Musik, die Erwartungen an Form & Struktur vielfach unterläuft, weil sie, durchaus unter Erkaufen von Spannungsabfall, eigensinnige Formen von Klanglichkeit bevorzugt.
Manches, was man heute in der drone-Ästhetik verortet, hat seine Vorläufer schon bei ihm vor fünfzig Jahren.
Damit ist die Vielseitigkeit seiner Einsätze gerade mal angetippt. Er dürfte zu wenigen zählen, die Jazzgeschichte aktiv in einem historischen Längsschnitt mitgestaltet haben.
Der Romanistikstudent kam 1962 aus Kalifonien nach New York. Unterricht nahm er bei einem klassischen Bassisten. Das muss man sich einmal vorstellen: im Folgejahr tritt er mit Eric Dolphy in einem Thirdstream Projekt von Gunther Schuller auf sowie mit Leonard Bernstein und den New Yorker Philharmonikern.
Wenig später wird er Mitglied des legendären Jimmy Giuffre Trios. 1967 übersiedelt er nach Europa und lebt über mehrere Jahrzehnte in Südfrankreich.
Evan Parker beschreibt eine erste Begegnung mit ihm 1967 in London. Die beiden bilden ein Trio mit Paul Bley. Ja, dieser Amerikaner wird ein Mitgestalter bei der Entfesselung der europäische Jazz-Avantgarde; Joachim Kühn, Albert Mangelsdorff, Michel Portal, Gunter Hampel, Barry Guy…die Liste ist endlos.
In den letzten Jahren wurden insbesondere die beiden Schweizer Urs Leimgruber und Jaques Demierre zu seinen Partnern.
Barre Phillips, geboren am 27. Oktober 1934 in San Francisco, verstarb am 28. Dezember in Las Cruces/NM. Er wurde 90 Jahre alt.

Foto: Michael Hoefner (CC BY 3.0), Barre Phillips beim Moers Festival 2008

erstellt: 30.12.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten

Martial Solal, 1927-2024

1083px SolalUnter den wenigen bedeutenden afrikanischen Stimmen des Jazz sind zwei Pianisten, die eigentümlicherweise von den Polen des Kontinentes stammen: Dollar Brand aka Abdullah Ibrahim aus Kapstadt und Martial Solal aus Algier.
Der Sohn einer jüdischen Opernsängerin dürfte zu den letzten Jazzpiano-Virtuosen gehören, die diesen Status ohne Studium erlangen konnten.

Er war auf Privatunterricht durch seine Mutter angewiesen, nachdem er 1942 die Schule auf Grund der anti-semitischen Politik des Vichy-Regimes verlassen musste. Er lernte durch Imitat, aus dem Radio, darunter auch Fats Waller und Art Tatum.
1950 zog der nach Paris. Er war Hauspianist im Club Saint Germain, er begleitete zahllose US-Jazzstars, die in der Stadt gastierten. 1960 ein erstes Solo-Album, neben Duos (u.a. mit Lee Konitz) und Trios (u.a. mit Niels-Henning Ørsted Pedersen und Daniel Humair) sein favorisiertes Format. Zu diesem Zeitpunkt schrieb er vermehrt auch Filmmusik, u.a. für Godards berühmtes "Außer Atem" (1959).
Am 23. Januar 2019, im Alter von 91 Jahren, trat er im Pariser Salle Gaveau auf, es war sein letztes Konzert. Ein Mitschnitt liegt unter „Coming Yesterday: Live at Salle Gaveau 2019“ vor. Und hier zieht er noch einmal fast alle Register seines unvergleichlichen Personalstiles.
Ein viruoser Vortrag von großer Eleganz, mit untrüglichem timing, geprägt von stilistischen Sprüngen und fantasievollen Ausschmückungen (ein wenig davon lebt heute bei Jacky Terrasson fort). In „Happy Birthday“ treibt er es auf die Spitze und überlädt das Melodie-Eselchen mit Pianisten-Schmuck von Chopin bis Monk.
Martial Solal, geboren am 23. August 1927 in Algier, verstarb am 12. Dezember 2024 in Versailles. Er wurde 97 Jahre alt.

erstellt: 16.12.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten

Herb Robertson, 1951-2024

Herb Robertson

Erste Assoziation: Tim Berne.
Der Altsaxophonist schreibt auf Facebook:
“Der brillante, einzigartige und geniale Mensch und Musiker Herb Robertson ist leider verstorben. Herb war in den 80er und 90er Jahren viele Jahre lang mein Mentor und musikalischer Kumpel.
Jeder Abend war wie ein Spielfilm voller verblüffender Momente wunderbar inspirierten Wahnsinns. Die ´Fractured Fairy Tales´-Tournee im Jahr '89 war mit Sicherheit eine der denkwürdigsten Erfahrungen in meinem Leben“.
Tim Berne und Herb Robertson, das waren zwei Exponenten von downtown New York in den 80ern, verbunden durch die jeweiligen Ensembles, bis in die 2000er Jahre.
Ethan Iverson sieht ihn in seinem Blog „Transitional Technology“ in der „Don Cherry Tradition“: „Robertson war ernsthaft, aber auch unverschämt komisch.“
Eine prosaische Umschreibung dessen, was er technisch draufhatte, an traditionellen, vor allem aber erweiterten Techniken seiner Instrumente Trompete und Flügelhorn.
Zweite Assoziation David Sanborn.
Auf dem Ultra-Funk von „Upfront“ 1992 ist er lediglich in der entsprechend abgedrehten Fassung von Ornette Colemans „Ramblin´“ zu hören, ein Ausreisser aus dem Post FreeJazz, der ganz überwiegend sein Spielfeld war.
Robertson stammt aus Piscataway/NJ, begann mit dem Trompetenspiel in der fünften Klasse; ein Studium an der Berklee School of Music in Boston, brach er (selten genug) ab, um ab 1973 mit Jazzrock-Bands zu touren. Den dafür notwendigen „harten“ Ansatz hat er später zugunsten eines weicheren, flexibleren korrigiert.
Er mag auf dem Monitor europäischer Aufmerksamkeiten nicht mehr so präsent gewesen sein, war aber bis zuletzt aktiv. „Hommage A Galina Ustvolskaya“ von Steve Swell im März 2024 dürfte seine letzten recording session gewesen sein.
Clarence „Herb“ Robertson, geboren am 21. Februar 1951, starb am 10. Dezember 2024. Er wurde 73 Jahre alt. Sein Tod wurde durch seinen Bruder Keith gemeldet, ohne Angabe von Ort und Ursache.

Foto: Andy Newcombe Farnborough (CC BY-SA 2.0)

erstellt: 12.12.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten

Ulrich Olshausen, 1933-2024

Ulrich Olshausen

Der Jazzklarinettist Theo Jörgensmann nannte ihn einmal „Pater Ulrich von der reinen Intonation“.
Das war sehr witzig. Aber auch so treffsicher (und so wenig zynisch), das hätte auch von Volker Kriegel stammen können.
Um sogleich mit einem echten Kriegel-Diktum fortzufahren: unter den deutschen Jazzkritikern war Ulrich Olshausen zweifellos „eine Einzelanfertigung“.
Sein besonderes Ohrenmerk galt halt dem exakten Treffen der Töne. Wer meint, das hätte ihn auf alle Zeiten vom Blues oder sonstigen offpitch-Aktvitäten im Reich der afro-amerikanischen Musik ausgeschlossen, macht sich eine falsche Vorstellung vom Panorama seiner ästhetischen Aufmerksamkeit.
Er hat, selbst lange schon Radio-Jazzredakteur in Frankfurt, unter der Ägide von Joachim Ernst Berendt in der legendären SWR2-19:30-Uhr-Sendestrecke Folktime moderiert. Er konnte en detail über Kate & Anna McGarrigle sprechen, aber auch über Gentle Giant oder Johnny Winter. Und zusammen mit seiner unvergessenen Ehefrau Egizia Rossi (1947-1999) diskursiv einen unglaublichen „insalada musica“ anrichten.
(Tatsächlich aufgetischt wurde sonntags zum Frühstück in Bergen-Enkheim, wir durften in den 80ern gelegentlich mitkosten, Porree-Ei, angerichtet vom Hausherrn).
Er war es, der am 24. März 1968 in Frankfurt, auf der Bühne des Deutschen Jazzfestivals (dessen Programm er jahrelang mitveranwortet hat), die Uraufführung von Peter Brötzmanns „Machine Gun“ anmoderiert, und dies keineswegs mit Abscheu.
Gleichwohl fungierte nicht er als der Praeceptor des FreeJazz, namentlich von Peter Brötzmann, sondern Manfred Miller (1943-2021), in der berühmt-berüchtigten TV-Debatte „Free Jazz - Pop Jazz? Unverständlich oder populär?“, an einem Freitag im Sommer des Jahres 1967, in der ARD, an Werner Höfers Frühschoppentisch.
Freejazz Tv Miller 1Er war der unaufgeregt Abwägende in der Mitte - eine Position, die man auch seiner Tätigkeit als Jazzkritiker zuschreiben möchte. Ein Radiomann, der schreiben kann (meist in der FAZ), einer der wenigen aus dem ARD-Jazzredakteursgremium, dem die Betreuung von Sendungen und Ensembles (hier das hr-Jazzensemble) nicht genügte, der in Konzerte ging und urteilte.
Ein Mann von und mit Stil, hochgewachsen, ein Solitär, der Olshausen eben.
Begonnen hatte er auf der anderen Seite des Mikrofons, als Tontechniker mit ordentlicher Ausbildung in Nürnberg, 1955-57.
Vom Fagott schwenkte er in die Musikwissenschaft um, an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt; dortselbst 1963 Promotion mit dem Thema „Das lautenbegleitete Sololied in England um 1600“.
Dann wieder hr, zunächst als Tontechniker, ab 1967 (bis 1999) Leiter der neu geschaffenen Jazzredaktion.
Parallel dazu, ab 1963 und bis bis knapp ins neue Jahrtausend, Rezensent für die FAZ. Man las ihn ausgesprochen gerne.
Dr. Ulrich Olshausen, geboren am 17. August 1933 in Neuenbürg (Nordschwarzwald), verstarb am 30. November 2024 in Frankfurt/Main. Er wurde 91 Jahre alt.

erstellt: 02.12.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten

Olshausen Grab Ffm 13.1.25   1

 

 "Wer auf meinem Begräbnis weint -
mit dem spreche ich kein Wort mehr."

Hauptfriedhof Ffm, 13.01.25