So geht es Keith Jarrett

Ganz ehrlich, würde der Interviewer nicht umfänglich das Gespräch vorbereiten, indem er Fotos zeigt und Video-Auschnitte, schließlich neben ihm sitzt und ihn mit seinem Namen anspricht - man hätte Keith Jarrett nicht wiedererkannt.
Da ist schon physiognomisch nichts mehr von der dominanten Person, die über Jahrzehnte Konzertsäle wortwörtlich beherrschte. Auch der stimmliche Ausdruck ist deutlich beeinträchtigt.
Was er noch vermag, nach zwei Schlaganfällen 2018, das konnte man im August 2022 bei NPR erfahren (nur noch rudimentär mit der rechten Hand spielen).
Aber nachlesen und jetzt auch optisch erfahren, wie die linke Spielhand schlaff in einer Schlaufe hängt und die rechte erkennbar doch noch einiges weiß (zum Beispiel das Thema von „Desafinado“), das ist eine ganz andere Erfahrung. 
Man wird Zeuge von Restbeständen einer einst als genial gefeierten, individuellen Sensomotorik.
Und doch, Ethan Iverson, Pianist und neuer Volkspädagoge des Jazz, erkennt Mängel darin auch in Hochzeiten.
Er verlinkt zwar zum neuen Video von Rick Beato, aber zum Stichwort von Jarrett, er habe statt Quarten a la McCoy Tyner lieber „Bach-ian“, also kontrapunktisch im europäischen Sinne gespielt, kramt Iverson auf seinem Blog Transitional Technology seine alte Abrechnung wieder heraus, wonach Jarrett in puncto Bebop seine Hausaufgaben nicht gemacht habe (im Gegensatz zu Chick Corea):

„What ever it is, Bach doesn’t help. (Bud Powell would help.)“
Das klingt beckmesserisch, ist aber nicht so gemeint. Daraus kann man lernen.
Und er schließt mit einer tiefen Verbeugung: im Hinblick auf die „esoterische ´atonale und doch pulsierende´ Ästhetik - wie das erste Stück des Bordeaux-Albums - erweist sich Keith vielleicht als der Größte aller Zeiten.“

erstellt: 27.02.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Jazz Grammys 2023

32. Best Improvised Jazz Solo
Rounds (Live)

Ambrose Akinmusire, soloist
Keep Holding On
Gerald Albright, soloist
Falling

Melissa Aldana, soloist
Call Of The Drum

Marcus Baylor, soloist
Cherokee/Koko
John Beasley, soloist
* Endangered Species

Wayne Shorter & Leo Genovese
, soloist

33. Best Jazz Vocal Album
The Evening : Live At APPARATUS

The Baylor Project
* Linger Awhile
Samara Joy

Fade To Black

Carmen Lundy
Fifty

The Manhattan Transfer With The WDR Funkhausorchester
Ghost Song

Cécile McLorin Salvant


34. Best Jazz Instrumental Album
* New Standards Vol. 1
Terri Lyne Carrington, Kris Davis, Linda May Han Oh, Nicholas Payton & Matthew 
 Stevens
Live In Italy

Peter Erskine Trio
LongGone

Joshua Redman, Brad Mehldau, Christian McBride, And Brian Blade

Live At The Detroit Jazz Festival

Wayne Shorter, Terri Lyne Carrington, Leo Genovese & Esperanza Spalding

Parallel Motion

Yellowjackets


35. Best Large Jazz Ensemble Album
Bird Lives

John Beasley, Magnus Lindgren & SWR Big Band
Remembering Bob Freedman

Ron Carter & The Jazzaar Festival Big Band Directed By Christian Jacob
* Generation Gap Jazz Orchestra

Steven Feifke, Bijon Watson, Generation Gap Jazz Orchestra
Center Stage
Steve Gadd, Eddie Gomez, Ronnie Cuber & WDR Big Band Conducted By Michael Abene
Architecture Of Storms
Remy Le Boeuf's Assembly Of Shadows


36. Best Latin Jazz Album
* Fandango At The Wall In New York
Arturo O'Farrill & The Afro Latin Jazz Orchestra Featuring The Congra Patria Son 
 Jarocho Collective

Crisálida

Danilo Pérez Featuring The Global Messengers
If You Will

Flora Purim
Rhythm & Soul

Arturo Sandoval
Música De Las Américas

Miguel Zenón


Applaus in NRW

Das Füllhörnchen des Bundes - der Applaus-Preis - hat seit 2009 einen regionalen Vorläufer in NRW: die Spielstättenprogrammprämie.
Damit zeichnet das Ministerium für Kultur und Wissenschaft gemeinsam mit dem Landesmusikrat NRW „kleine und mittlere Foren für Jazz und Popmusik aus, die in Form ihrer Live-Programme Musikerinnen und Musikern regelmäßige Auftrittsmöglichkeiten bieten.“
Lokal gesehen geht der Löwenanteil für die Spielzeit 2022/23 ins Tal: an das Loch (15.000 €), die Bandfabrik - Kultur am Rande e.V. (10.000 €) sowie erneut der ort - Peter Kowald-Gesellschaft e.V. (5.000 €), alle Wuppertal.
In der obersten Kategorie (15.000 €) werden desweiteren ausgezeichnet: Klangbrücke (Aachen) sowie Loft 2ndFloor (Köln);
hier Samuel Gapp (l) und Felix Hauptmann (r) am 13.01.23
Samuel Gapp Felix Hauptmann 1

Je 10.000 € erhalten ZAKK (Düsseldorf), Black Box im Cuba (Münster), Bunker Ulmenwall (Bielefeld), Goldkante (Bochum) und das Domicil (Dortmund).
5.000 € gehen jeweils an In Situ Arts Society (Bonn), Jazz Initiative Dinslaken, Jazzkeller Krefeld, Jazzschmiede Düsseldorf und King Georg (Köln).

erstellt: 19.01.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Jeff Beck, 1944-2023

Jeff BeckVielleicht gibt sich demnächst eine/r der elektrischen Kunst auf sechs Saiten Kundige/r die Mühe, ähnlich wie Ethan Iverson, aus subjektiver Perspektive, aber penibel, den Größten zu selektieren.
Iverson hat aus den Big Four des Jazzpianos seinen Favoriten destilliert.
Warum nicht aus Jazzperspektive nun mal den größten Rockgitarristen wählen?
Eric Clapton käme sicher nicht in die engere Wahl, vermutlich blieben nur Jimi Hendrix und Jeff Beck übrig.
Aber, wäre das nicht spannend genug?
Sicher, im Falle Hendrix, fielen die persönlichen Beziehungen prominenter aus; immerhin hat er mehrfach Miles getroffen.
Beck aber hat mit John McLaughlin gespielt, mit Stanley Clarke, mit Jan Hammer, Eddie Harris, nicht zu vergessen Will Lee, auf „Oh!“ (in puncto Grooves ein Hammer-Album!), wo Beck in Hendrix´ „Driftin“ davonschwebt, als sei das Stück immer seines gewesen.
Beck hat Jazzmusiker interpretiert: John Lewis, Charles Mingus, Billy Cobham, John McLaughlin.
In der Hauptsache aber: was für ein timing, das Blues-Feeling, die Blues-Triller, die vamps, die „Stottermelodik“, die extremen bendings, die schweren Shuffle-Grooves, die abrupten Klangfarben-Wechsel, das kontrollierte Feedback!
(Für Jazz-Ohren) das alles in höchster Konzentration auf „Performing this Week“, dem Live-Mitschnitt aus einer Woche im Ronnie Scott´s Club zu London, 2007.
Gerade seiner Andersartigkeit wegen verehren ihn Jazzmusiker. Oder, wie einer von ihnen, Mark Wingfield, in London Jazz News schreibt:
"Mit ein oder zwei Noten auf der Gitarre viel zu sagen, erfordert einen ganz anderen Bereich von Handwerk und Hingabe. In diesem Bereich war Jeff ein Meister. Man hörte ihn zwar nicht 16tel-Noten-BeBop oder Tonleiterläufe spielen, aber was er mit einer Handvoll Noten oder sogar nur einer einzelnen Note anstellen konnte, konnte einen um den Verstand bringen".
(hier ringt der professionelle Beobachter Rick Beato um Worte, um seine Begeisterung auszudrücken.)
Geoffrey „Jeff“ Arnold Beck, geboren am 24. Juni 1944 in Wallington/Surrey, verstarb am 10. Januar 2023 in Wadhurst/East Sussex an bakterieller Mengenitis.
Er wurde 78 Jahre alt.

Foto: Mandy Hall (CC BY 2.0)
erstellt: 12.01.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

helping Victor Lewis

Victor Lewis 9814Als die Nachricht kam, haben wir gleich noch einmal „Eeeyyess!“ aufgelegt, nach Legionen von Aufnahmen als sideman sein eigenes Album von 1996.
Und gleich danach „Post-Motown Bop“, das Album in Co-Leadership mit Bobby Watson & Horizon von 1990, Neo Hardbop in Vollendung, in dem er brennt wie sonstwas.
Neo Hardbop mit einem Schuß Latin; sein sich überstürzender über uptempo swing „Bah-Da-Da-Da-Dah-Dah“ oder sein auftrumpfendes „7th Avenue“ (im 7/4-Takt).
Dann, zur Abkühlung, der stolzierende Slow-Funk „Healing Power“ von Carla Bley („Sextet“, 1986), wo Hiram Bullock (1955-2008) einen nochmal bluesigeren Mike Stern gibt.
Oder, noch mal seine irrwitzige Anekdote über Pat Metheny in seinem jazzcity-Fragebogen von 2001.
Die Nachricht: Victor Lewis, 72, der rundum geschätzte Schlagzeuger, leidet an einer Nervenerkrankung, die ihn nicht mehr seine Beine bedienen lässt.
Ethan Iverson wümscht in seinem Blog Transitional Technology in einem ausführliches Schnellportrait:
„The whole jazz community loves Victor Lewis and prays for a speedy recovery“.
Und man kann dazu beitragen. Der Club Smalls in New York City hat einen Fundraiser eingerichtet.

Foto: Rainer Ortag
erstellt: 11.01.23

©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Applaus "Applaus 2022"!

Klaus und Rita Applaus 1Man möchte dieser Tage wirklich nicht mit Claudia Roth tauschen.
Probleme an Stadtschloß und Humboldtforum, die FAZ quittiert ihr Wirken als Kulturstaatsministerin mit  „Das verlorene Jahr der Kulturpolitik“.
Schön, dass sie dem Berliner Treibhaus für einen Abend entkommen und in Erfurt wortwörtlich Applaus spenden konnte, indem sie 2,45 Mio Euro an Bedürftige verteilt, die nun wirlich keine größeren Summen gewohnt sind.
So partizipiert die Peter Kowald Gesellschaft/ort e.V. Wuppertal zum zweiten Mal in Folge und zum fünften Male insgesamt an der Spielstättenförderung des Bundes.
Dies zwar nur in der untersten Kategorie „beste kleine Spielstätten und Konzertreihen“, wo 10.000 Euro eine Menge Geld sind.
Zufällig befanden sich unsere "ort"-Freunde Rita (Küster) und Klaus (Bocken) gleich neben dem Fotografen (Michael Reichel), und so begann Claudia Roth das erste von rund 100 Gratulationsfotos mit ihnen.
Wir gratulieren herzlich.

erstellt: 17.11.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

Gerd Dudek, 1938-2022

Im Sommer sah ich ihn noch am Decksteiner Weiher; ein älterer Herr unbestimmten Alters, trotz der Hitze schwarz gekleidet, mit Jacket.
Im Vorbeijoggen erkannte ich ihn, warf grüßend die recht Hand in die Höh´. Als ich ihn beim nächsten Mal schon von weitem auf einer Bank sah, startete ich das „Hallo“ frühzeitig mit beiden Händen.
Zwischen 1974-80 wohnten wir Haus an Haus in Sülz; einmal sah ich ihn beim Verlassen des Hauses, einen Saxophonton habe ich von dort nie vernommen (warum auch sollte er in einer Mietwohnung üben?)
csm dudek gerd dez 21 live 3a8cc08b2cEr war der große Schweiger der Kölner Szene. Das berühmte Diktum, der Musiker XYZ drücke sich durch sein Horn aus, traf auf ihn in besonderem Maße zu.
Und es waren nicht nur in Köln etliche, die genau das hören wollten.
Er kam dorthin aus Siegen. Mit 14, 15 spielte er Altsaxophon in einer lokalen Big Band, irgendwann tourt eine professionelle Big Band durch die Stadt, er schließt sich an, zusammen mit seinem Bruder Ossi. Den Job als Bauzeichner hängt er an den Nagel und tingelt die zweite Hälfte der 50er durch die Lande.
Wohin und wann genau, ist schwer zu rekonstruieren; aber dem talentierten Nachwuchsmusiker (so jedenfalls geht es aus einem Gespräch mit Karsten Mützelfeldt hervor) präsentiert sich die junge Bundesrepublik keineswegs düster & muffig, wie immer die Rede davon ist.
Frankfurt, Hanau, Bad Kitzingen, Stuttgart, Jazzclubs der US-Soldaten, große Hotels, nicht nur Jazz, sondern viel, viel Tanzmusik, "die großen Hotels, die waren eigentlich fantastisch für damalige Zeiten, drei Monate in Garmisch im Sommer, das war wie der beste Urlaub".
Hamburg nicht zu vergessen; "ich habe noch Bilder (lacht) mit Oscar Pettiford, ich als 18-, 19-jähriger", im November 1958 sein erster NDR Jazzworkshop mit Pettiford, Kenny Clarke, Hans Koller, Attila Zoller.
Im Februar 1960 holt ihn Kurt Edelhagen in sein Orchester. 1964, die UDSSR-Tournee macht er noch mit; Leningrad zum Beispiel, Frühstück im großen Hotel, "am Nebentisch sitzt Marlene Dietrich!"
Obwohl der Saxophonsatz von Edelhagen "für mich eine unglaubliche Schule war", steigt er im selben Jahr aus; zu viele TV-Shows, zuviel Warterei.
Stilistisch (wenn wir in dieser Hinsicht dem damaligen Eindruck von Manfred Schoof folgen) gleicht er nicht nur Stan Getz, "man konnte keinen Unterschied feststellen, auch mit der gleichen Technik" (in Kisiedu, "European Echos: Jazz Experimentalism in Germany, 1950-1975", Diss, 2014).
Mitte des Jahrzehnts verlagert sich Dudeks stilistischer Schwerpunkt auf das Avantgarde-Dreieck Köln>Wuppertal>Frankfurt.
Als Startpunkt in der Domstadt schält sich der „Kintopp Saloon“ heraus, der Legende nach ein Gewusel aus Edelhagen-Musikern und Amateuren auf 42qm.
Schlippenbach, Liebezeit, Niebergall, Dudek, die späteren Mitglieder des Manfred Schoof Quintetts, aber auch des Globe Unity Orchestra, sie entledigen sich der Bestandteile der Jazztradition dort erfolgreicher als des verrotteten Kintopp-Klaviers - es soll auf Entsorgungsfahrt mit einem anderen Wagen zusammengestoßen sein.
1971 ist Dudek erneut in Frankfurt/Main, nun als Mitglied des Albert Mangelsdorff Quintetts. Es war eine Rückkehr, schon Ende der 50er hatte er beim damals noch nicht "amtierenden Posaunenweltmeister" dessen Saxophonisten Heinz Sauer gelegentlich vertreten.
Dort, so hebt ein Autor hervor, wirkt er am 24. März 1968 tatsächlich mit „bei der Erstaufführung von Peter Brötzmanns ´Machine Gun´“  - beim Deutschen Jazzfestival, vier Tage vor der Aufzeichnung des später legendären Albums in Bremen (dann ohne ihn).
Demselben Autor (Wolfram Knauer) verdanken wir den Hinweis auf das Namensspielerische Stück „Do dat Dudek“, das auf dem Joachim Kühn-Album „This Way out“ (1973) so abgeht, wie der Titel lautmalerisch verspricht: Ornette Coleman-artiges Thema, ein Coltrane´nesk flüssiges Tenor, ein motivischer Improvisator.
Das war sein Markenzeichen, ein technisch brillantes, glänzend angepasstes Tenor, das er - auch auf dem Sopran - beibehielt bei seiner langen, seltenen Doppelgleisigkeit: in der Avantgarde und  im Modernen Mainstream, in dem man ihn in den letzten Jahren überwiegend antreffen konnte.
Gerd Dudek Kreuz 1Kein Zufall, dass sein Tod von einem in Köln maßgeblichen Musiker auf diesem Sektor verkündet wurde,
vom Pianisten Martin Sasse.
Gerhard Rochus „Gerd“ Dudek
, geboren am 28. September 1938 in Groß Döbbern bei Breslau, verstarb am 3. November 2022 in Köln, er wurde 84 Jahre alt.

Über sechs Jahrzehnte war er der Kölner Lyrikerin Ingeborg Drews (1938-2019) verbunden, zuletzt noch am 29. Juli 2022 spielte er anlässlich einer Lesung ihrer Gedichte, u.a. deren Lieblings-Song "Nature Boy" (ab 1:29:50).
Die Beerdigung fand am 23. November 2022 auf dem Hermelsbacher Friedhof in Siegen statt, gefolgt von einem Farewell Concert am 24. Januar 2023 im Stadtgarten Köln.
Am 11. Februar 2023 ein ausführlicher Nachruf in SWR 2.
Manuskript

Foto: Gerhard Richter (Gerd Dudek)
erstellt: 05.11.22 (ergänzt am 08.11.22 und 23.11.22)
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

Der Herr der Fusionen

kevin fellezs columbia

 

 

 

 

 

 




Kevin Fellezs
ist der neue Direktor des Center for Jazz Studies an der Columbia University in New York City, er folgt in dieser Funktion u.a. George Lewis. Der Institution ist er seit 2012 als Assistenzprofessor verbunden.
Fellezs - Vater aus Hawaii Mutter aus Japan - stammt aus einem schwarzen Arbeiterviertel in San Francisco, „heute sehr gentrifiziert“.
In Angela Davis hatte er eine frühe Mentorin an der University of California in Santa Cruz.
Am 14. Oktober veranstaltet Fellezs in NYC einen Kongreß „Fusion: Remixing Jazz, Rethinking Genre in the 21st Century“.
„In diesem Zusammenhang werde ich die Gemeinschaften jenseits des rassischen Binarismus von Schwarz und Weiß beleuchten, in den ein Großteil des amerikanischen Jazzdiskurses immer noch verstrickt ist, um über die Beteiligung von Asiaten und Lateinamerikanern an dieser Musik nachzudenken“.
Angesichts zunehmender Tendenzen, Jazz als afro-amerikanisches Phänomen zu reklamieren, kann man Fellezs´ Perspektive, zumal an der Spitze einer solchen Institution, nur begrüßen.
Er hat sie, eine Fusions-Perspektive, auch in seinen Publikationen dargelegt, zuletzt in einem Band über die Traditionen der Hawaii-Gitarre, über Heavy Metal oder über Jazzrock („Birds of Fire. Jazz, Rock, Funk, and the Creation of Fusion“, 2011).
Von seiner Webseite lassen sich mehrere seiner Essays kostenlos herunterladen, darunter jüngst eine Arbeit über Steely Dan oder auch über Tony Williams Lifetime (2010)

erstellt: 12.10.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten


Pharoah Sanders, 1940 - 2022

Pharoah and the Underground Pharoah Sanders 01Obwohl er noch „in hohem Alter“ regelmäßig aufgetreten sein soll, bleibt dies zumindest diskografisch eine Leerstelle, jedenfalls im Hinblick auf Aufnahmen in eigener Regie.
2021 meldete er sich, nach 20 Jahren Pause, diesbezüglich zurück, mit einer Produktion, in der der britische Elektroniker Floating Points vor dem großen Vorhang des London Symphony Orchestra ihn allerdings wie einen Gast ausstellt, „Promises“.
Ein Album, so darf man freundlich sagen, das „kontrovers“ diskutiert wurde, von einer Mehrheit enthusiastisch begrüßt, von einer Minderheit, zu der wir uns zählen, kritisch beurteilt.
Nun wird es fleißig aufgerufen, aber als „Vermächtnis“ zählt dann doch eher sein Album „Karma“ (1969), darauf der „wahrscheinlich einzige Megahit des Avantgarde Jazz“ (SZ), nämlich „The Creator has a Masterplan“, gesungen und stellenweise gejodelt von dem beeindruckenden Leon Thomas (1937-1999).
Ob dies ein „Megahit“ oder überhaupt ein Hit war, sei dahingestellt.
Nicht ganz falsch aber ist das Gemeinte, die New York Times nennt es „einen Gipfel des hingebungsvollen Free Jazz“ und zielt damit auf das Einfache im Komplizierten:
ein schlichtes Kernmotiv, verwandt dem von John Coltrane in „A Love Supreme“ (1964) und andererseits sich überbietende Expression, bis zur Auflösung von Tonalität und Metrum.
Es war Coltrane, an dessen Seite er ab 1965 zu der Größe wuchs, die ihn befähigte, nach dessen Tod (1967), zunächst auch mit der Witwe Alice, das Erbe fortzuführen - ohne vom Ton her dessen clone zu sein.
Coltrane hatte ihn in seinem eigenen Quintett entdeckt, dessen Plattendebüt vom September 1964 („Pharaoh Sanders Quintet“) mit einem Vokalverdreher falsch betitelt ist.
Den Namen „Pharoah“ nahm er auf Anraten von Sun Ra an; eine seiner ersten Stationen in New York City, wo er 1962 noch unter seinem Geburtsnamen Ferell Sanders eingetroffen war.
Das, was sich mit spirituellen Titeln („Black Unity“, „Elevation“, „Journey to the One“), erweitert auch um afrikanische und indische Einflüsse ausdehnte, bis hin zu einem Ausflug in den Schmusejazz („Love will find a way“, 1978), gab schon damals und erst recht heute wieder Anlaß zu kosmischen Deutungen seiner Musik, die nicht selten eben auch komisch sind.
Er war ein herausragender Tenorsaxophonist, gelegentlich auch Sopransaxophonist und Flötist, eine jazz-historische Gestalt.
Ob auch ein „Visionär“, wie oft herausgestellt, wäre eine eingehende Untersuchung wert - die sich nicht von Titeln verführen lässt.
Pharoah Sanders, geboren als Ferell Sanders am 13. Oktober 1940 in Little Rock/AR, gestorben am 24. September 2022 in Los Angeles, kurz vor seinem 82. Geburtstag.

Foto: Oliver Abels/Wikipedia
erstellt: 26.09.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

Herbie, Chick, Keith oder doch…McCoy?

Ethan Iverson unternimmt auf twitter, woran sich sonst ohne Gesichtsverlust wohl keiner wagen würde:
er stellt ein ranking auf unter den seines Erachtens (und viele werden ihm da folgen) vier besten Jazzpianisten:
„I grew up with the big four: McCoy Tyner, Herbie Hancock, Keith Jarrett, and Chick Corea. There are many other pianists who are just as great but somehow those were the four, at least for my generation“.
Er wägt, differenziert, relativiert - und kommt dann doch zu einem Schluss, nämlich…ach lesen Sie selbst!

erstellt: 21.09.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

Joey DeFrancesco, 1971-2022

Es gehört zu den Klischees über Jazz, er sei musikalisch mitreißend.
Diese Beschreibung ist nicht nur nicht falsch, sie ist sehr zutreffend.
Und wer spontan dazu aufruft, unter den lebenden Ausführenden Listen derer zu erstellen, die besonders nachdrücklich diesen Eindruck hervorrufen, wird darauf mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit seinen Namen finden.
Dabei muss man ihn nicht zwingend auch sehen, um den Eindruck zu beglaubigen, es reichen seine zahllosen Aufnahmen. Etliche Bandleader, von Miles Davis und John McLaughlin bis - in jüngster Zeit - Van Morrison wussten, was sie an ihm haben, die Triller, die Bluesphrasen, die vamps, das „noch-eins-obenauf-Setzen“.
Joey defrancesco ffm 003Ein schöne Beschreibung dieses Wirbelwindes an den Tasten, gibt Lovett Hines, ein Musiklehrer aus Kindertagen, der bis zuletzt mit ihm in Kontakt blieb, in einem Nachruf auf NPR:
„Er war ein Schrecken an der Orgel. Man konnte ihn vielleicht auf der Trompete oder dem Tenor übertreffen, aber sobald er sich an die Orgel setzte, war alles vorbei.“
Lovett spielt an auf die Zweitinstrumente, die er später dazunahm. Den Grund dafür glaubt Christian McBride zu kennen, an dessen Album „For Jimmy, Wes and Oliver“ (2020) er beteiligt war:
„Es gab für ihn an der Orgel nichts mehr zu beweisen. Ich glaube, deshalb hat er Trompete und Saxophon genommen. Ich sagte zu ihm, wenn er jemals Bass spielen würde, müssten wir ein Wörtchen miteinander reden!“
Die Orgel. Dem Vernehmen nach hat er sie im Alter von drei Jahren zum ersten Mal bedient. Er hatte es nicht weit, sein Vater war Organist in Philadelphia, er ließ das Kind gewähren, die Hammond B3 wurde „mein Lieblingsspielzeug“.
Mit 17 bringt er sein erstes (von 30) eigenen Alben heraus, „All of Me“; zu diesem Zeitpunkt, noch in der Highschool, ist er mit Miles Davis auf Europa-Tour und im Studio für das Album „Amandla“.
1990/91 begleitet ihn „Papa“ John DeFrancesco auf zwei Alben, auf „Where were you?“ ist mit John Scofield der erste Gitarrist dabei.
Und dann folgen sie: John McLaughlin, Doug Raney, Pat Martino, Lee Ritenour, Larry Coryell, am häufigsten Paul Bollenback.
Im Jahr 2000 („Incredible!“) sitzt Jimmy Smith an seiner Seite, sein Modell, dem er in manchem gleicht, dessen Einfluss - abgesehen dass DeFrancesco stilistisch einen viel weiteren Rahmen gezogen hat - ihn nur teilweise erfasst.
Insbesondere in den letzten Jahren hat er sich - wenngleich rückwärtsgewandt - an dem orientiert, was er „spritual jazz“ nennt, z.B. „In the Key of the Universe“ (2019), ein Album mit Pharoah Sanders und seinem Langzeit-Drummer Billy Hart.
Joey DeFrancesco, geboren am 10. April 1971 in Springfield/PA, ist am 25. August 2022 verstorben, im Alter von 51 Jahren.
Seine Ehefrau (und Managerin) Gloria gab keine Todesursache bekannt.

Foto: dontworry/Wikipedia (2009, Jazz im Palmengarten, Ffm)
erstellt: 23.08.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

Rolf Kühn, 1929-2022

Rolf Kuhn Strae 1

Man darf durchaus der Welt recht geben:
er war „Deutschlands coolster Jazzer“.

Ganz sicher war er dessen weltläufigster Repräsentant.
Mehr noch, er hat zuletzt die Geschichte dieser Gattung verkörpert wie kaum jemand sonst, auch nicht in Amerika. 

Denn - bitte festhalten - wer könnte reklamieren, sowohl mit Benny Goodman und Ornette Coleman als auch mit Michael Brecker und Christian Lillinger gespielt zu haben? 

Wer könnte mit einer so grandiosen Anekdote aufwarten, nach dem Verlust des Hausschlüssels bei der Nachbarin geklingelt zu haben - einer Nachbarin namens Billie Holiday - als Rolf Kühn?

Von 1956 bis 1962 hat er in New York City gelebt.
Geboren ist er in Köln. Die meisten seiner Aufnahmen für das legendäre Label MPS hat er in der Domstadt produziert.
Ein kölscher Jung aber ist er nicht, aufgewachsen ist er in Leipzig. Dort hat ihn eine Frau 1947 zum Jazz geführt, die Pianistin Jutta Hipp (1925-2003). 

Hauptpartner war bis zuletzt sein 14 Jahre jüngerer Bruder, der Pianist Joachim Kühn.

Mit seinem Quartett gab er noch im Mai eine umjubelte Tournee

. Im September erwartete man ihn auf dem Multiphonics Festival in Köln und Wuppertal.

Sein Instrument, die Klarinette, übte er zwei Stunden täglich, „mindestens“; lange Jahre im RIAS, in den letzten beiden Jahren, pandemie-bedingt, im Badezimmer seiner Wohnung in Charlottenburg. 

Kostete ihn das Überwindung? „Niemals! Überwiegend ist die Neugierde: was kann man noch alles mit diesem Instrument machen?“

Auf einzigartige Weise hat er sich damit sowohl in der Jazz-Tradition als auch in der -Avantgarde behauptet.
Ausflüge in die „Funktionsmusik“ (er hat für „Tatort“ und „Derrick“ komponiert und das Musical „Hair“ adaptiert) haben seinem Ruf nicht geschadet.

Mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist er per Du. Gleichwohl, im Gegensatz zu Manfred Schoof, Klaus Doldinger, den Brüdern Albert und Emil Mangelsdorff wurde ihm das Bundesverdienstkreuz nicht verliehen; außer dem Kulturpreis einer Berliner Lokalzeitung und dem Echo Jazz (2001) hat er eine wirklich nennenswerte Auszeichnung erstaunlicherweise nicht erhalten. 

Und hier weitet sich die Sache zum Skandal: auch die renommierteste Auszeichnung des deutschen Jazz, der Albert Mangelsdorff-Preis, blieb ihm verwehrt.

Er wurde also doch das, woran wir so recht niemals glauben wollten; er wurde „der Philip Roth des deutschen Jazz“ (der amerikanische Schriftsteller hat seine ewige „Nominierung“ für den Literatur-Nobelpreis nicht überlebt).

Rolf Kühn, geboren am 29. September 1929 in Köln, ist am 18. August 2022 in Berlin an den Folgen eines Oberschenkelhalsbruches gestorben. Er wurde 92 Jahre alt.

Ein ausführliches Gespräch mit Rolf Kühn hier


Foto: Gregor Fischer, Picture Alliance
erstellt: 22.08.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten