Barre Phillips, 1934-2024

540px Barre Phillips E5100608Man erinnert ihn auf der Bühne als das Gegenteil einer Rampensau, eine zurückhaltende Person, oft mit einem freundlichen, vielleicht gar schelmischen Lächeln. Einer, der die Umstände registriert, sich ihnen gerne stellt, aber aus einer großen inneren Ruhe heraus.
Ein Solitär. Kein Wunder, dass ihm das erste Bass-Solo-Album der Jazzgeschichte zugeschrieben wird („Journal Violone“, 1968) sowie das erste im Duo mit einem Instrumental-Kollegen („Music from two Basses“, 1971, mit Dave Holland), später mit Peter Kowald, Barry Guy u.a.
Er hat beide Formate bis zuletzt betrieben: „End to End“, 2018, solo; „To face the Bass“, 2020, mit Teppo Hauta-aho.
Es dürfte schwierig werden, ihn instrumental-stilistisch zu lokalisieren, ihn gar blindfold herauszuhören.
In manchem erinnert er an Charlie Haden, wobei jener gar nicht an Elektronik interessiert war, was sich bei Phillips spätestens mit „Mountainscapes“ (1976) von einem Faible zu einer „zweiten Natur“ ausweitete. Im Team dieses Albums u.a. John Surman und Stu Martin, mit denen er in jenen Jahren in einem dynamischen Trio ein Feuer entfachte, das auch heute noch anzieht (wie konnte es mit Stu Martin auch anders sein).
Nicht zuletzt beeindruckte er arco, mit dem gestrichenen Bass.
Auf seinem mutmaßlich letzten Album „Face à Face“ (2020) bedient er zwar den Baß, hat aber mit György Kurtág erneut einen Elektroniker zur Seite.
Wenn man insbesondere in die vielen kleinformatigen Produktionen zurückblendet, schält sich in er Tat das Bild eines Solitärs heraus; mit einer Musik, die Erwartungen an Form & Struktur vielfach unterläuft, weil sie, durchaus unter Erkaufen von Spannungsabfall, eigensinnige Formen von Klanglichkeit bevorzugt.
Manches, was man heute in der drone-Ästhetik verortet, hat seine Vorläufer schon bei ihm vor fünfzig Jahren.
Damit ist die Vielseitigkeit seiner Einsätze gerade mal angetippt. Er dürfte zu wenigen zählen, die Jazzgeschichte aktiv in einem historischen Längsschnitt mitgestaltet haben.
Der Romanistikstudent kam 1962 aus Kalifonien nach New York. Unterricht nahm er bei einem klassischen Bassisten. Das muss man sich einmal vorstellen: im Folgejahr tritt er mit Eric Dolphy in einem Thirdstream Projekt von Gunther Schuller auf sowie mit Leonard Bernstein und den New Yorker Philharmonikern.
Wenig später wird er Mitglied des legendären Jimmy Giuffre Trios. 1967 übersiedelt er nach Europa und lebt über mehrere Jahrzehnte in Südfrankreich.
Evan Parker beschreibt eine erste Begegnung mit ihm 1967 in London. Die beiden bilden ein Trio mit Paul Bley. Ja, dieser Amerikaner wird ein Mitgestalter bei der Entfesselung der europäische Jazz-Avantgarde; Joachim Kühn, Albert Mangelsdorff, Michel Portal, Gunter Hampel, Barry Guy…die Liste ist endlos.
In den letzten Jahren wurden insbesondere die beiden Schweizer Urs Leimgruber und Jaques Demierre zu seinen Partnern.
Barre Phillips, geboren am 27. Oktober 1934 in San Francisco, verstarb am 28. Dezember in Las Cruces/NM. Er wurde 90 Jahre alt.

Foto: Michael Hoefner (CC BY 3.0), Barre Phillips beim Moers Festival 2008

erstellt: 30.12.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten

Martial Solal, 1927-2024

1083px SolalUnter den wenigen bedeutenden afrikanischen Stimmen des Jazz sind zwei Pianisten, die eigentümlicherweise von den Polen des Kontinentes stammen: Dollar Brand aka Abdullah Ibrahim aus Kapstadt und Martial Solal aus Algier.
Der Sohn einer jüdischen Opernsängerin dürfte zu den letzten Jazzpiano-Virtuosen gehören, die diesen Status ohne Studium erlangen konnten.

Er war auf Privatunterricht durch seine Mutter angewiesen, nachdem er 1942 die Schule auf Grund der anti-semitischen Politik des Vichy-Regimes verlassen musste. Er lernte durch Imitat, aus dem Radio, darunter auch Fats Waller und Art Tatum.
1950 zog der nach Paris. Er war Hauspianist im Club Saint Germain, er begleitete zahllose US-Jazzstars, die in der Stadt gastierten. 1960 ein erstes Solo-Album, neben Duos (u.a. mit Lee Konitz) und Trios (u.a. mit Niels-Henning Ørsted Pedersen und Daniel Humair) sein favorisiertes Format. Zu diesem Zeitpunkt schrieb er vermehrt auch Filmmusik, u.a. für Godards berühmtes "Außer Atem" (1959).
Am 23. Januar 2019, im Alter von 91 Jahren, trat er im Pariser Salle Gaveau auf, es war sein letztes Konzert. Ein Mitschnitt liegt unter „Coming Yesterday: Live at Salle Gaveau 2019“ vor. Und hier zieht er noch einmal fast alle Register seines unvergleichlichen Personalstiles.
Ein viruoser Vortrag von großer Eleganz, mit untrüglichem timing, geprägt von stilistischen Sprüngen und fantasievollen Ausschmückungen (ein wenig davon lebt heute bei Jacky Terrasson fort). In „Happy Birthday“ treibt er es auf die Spitze und überlädt das Melodie-Eselchen mit Pianisten-Schmuck von Chopin bis Monk.
Martial Solal, geboren am 23. August 1927 in Algier, verstarb am 12. Dezember 2024 in Versailles. Er wurde 97 Jahre alt.

erstellt: 16.12.24
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Herb Robertson, 1951-2024

Herb Robertson

Erste Assoziation: Tim Berne.
Der Altsaxophonist schreibt auf Facebook:
“Der brillante, einzigartige und geniale Mensch und Musiker Herb Robertson ist leider verstorben. Herb war in den 80er und 90er Jahren viele Jahre lang mein Mentor und musikalischer Kumpel.
Jeder Abend war wie ein Spielfilm voller verblüffender Momente wunderbar inspirierten Wahnsinns. Die ´Fractured Fairy Tales´-Tournee im Jahr '89 war mit Sicherheit eine der denkwürdigsten Erfahrungen in meinem Leben“.
Tim Berne und Herb Robertson, das waren zwei Exponenten von downtown New York in den 80ern, verbunden durch die jeweiligen Ensembles, bis in die 2000er Jahre.
Ethan Iverson sieht ihn in seinem Blog „Transitional Technology“ in der „Don Cherry Tradition“: „Robertson war ernsthaft, aber auch unverschämt komisch.“
Eine prosaische Umschreibung dessen, was er technisch draufhatte, an traditionellen, vor allem aber erweiterten Techniken seiner Instrumente Trompete und Flügelhorn.
Zweite Assoziation David Sanborn.
Auf dem Ultra-Funk von „Upfront“ 1992 ist er lediglich in der entsprechend abgedrehten Fassung von Ornette Colemans „Ramblin´“ zu hören, ein Ausreisser aus dem Post FreeJazz, der ganz überwiegend sein Spielfeld war.
Robertson stammt aus Piscataway/NJ, begann mit dem Trompetenspiel in der fünften Klasse; ein Studium an der Berklee School of Music in Boston, brach er (selten genug) ab, um ab 1973 mit Jazzrock-Bands zu touren. Den dafür notwendigen „harten“ Ansatz hat er später zugunsten eines weicheren, flexibleren korrigiert.
Er mag auf dem Monitor europäischer Aufmerksamkeiten nicht mehr so präsent gewesen sein, war aber bis zuletzt aktiv. „Hommage A Galina Ustvolskaya“ von Steve Swell im März 2024 dürfte seine letzten recording session gewesen sein.
Clarence „Herb“ Robertson, geboren am 21. Februar 1951, starb am 10. Dezember 2024. Er wurde 73 Jahre alt. Sein Tod wurde durch seinen Bruder Keith gemeldet, ohne Angabe von Ort und Ursache.

Foto: Andy Newcombe Farnborough (CC BY-SA 2.0)

erstellt: 12.12.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten

Ulrich Olshausen, 1933-2024

Ulrich Olshausen

Der Jazzklarinettist Theo Jörgensmann nannte ihn einmal „Pater Ulrich von der reinen Intonation“.
Das war sehr witzig. Aber auch so treffsicher (und so wenig zynisch), das hätte auch von Volker Kriegel stammen können.
Um sogleich mit einem echten Kriegel-Diktum fortzufahren: unter den deutschen Jazzkritikern war Ulrich Olshausen zweifellos „eine Einzelanfertigung“.
Sein besonderes Ohrenmerk galt halt dem exakten Treffen der Töne. Wer meint, das hätte ihn auf alle Zeiten vom Blues oder sonstigen offpitch-Aktvitäten im Reich der afro-amerikanischen Musik ausgeschlossen, macht sich eine falsche Vorstellung vom Panorama seiner ästhetischen Aufmerksamkeit.
Er hat, selbst lange schon Radio-Jazzredakteur in Frankfurt, unter der Ägide von Joachim Ernst Berendt in der legendären SWR2-19:30-Uhr-Sendestrecke Folktime moderiert. Er konnte en detail über Kate & Anna McGarrigle sprechen, aber auch über Gentle Giant oder Johnny Winter. Und zusammen mit seiner unvergessenen Ehefrau Egizia Rossi (1947-1999) diskursiv einen unglaublichen „insalada musica“ anrichten.
(Tatsächlich aufgetischt wurde sonntags zum Frühstück in Bergen-Enkheim, wir durften in den 80ern gelegentlich mitkosten, Porree-Ei, angerichtet vom Hausherrn).
Er war es, der am 24. März 1968 in Frankfurt, auf der Bühne des Deutschen Jazzfestivals (dessen Programm er jahrelang mitveranwortet hat), die Uraufführung von Peter Brötzmanns „Machine Gun“ anmoderiert, und dies keineswegs mit Abscheu.
Gleichwohl fungierte nicht er als der Praeceptor des FreeJazz, namentlich von Peter Brötzmann, sondern Manfred Miller (1943-2021), in der berühmt-berüchtigten TV-Debatte „Free Jazz - Pop Jazz? Unverständlich oder populär?“, an einem Freitag im Sommer des Jahres 1967, in der ARD, an Werner Höfers Frühschoppentisch.
Freejazz Tv Miller 1Er war der unaufgeregt Abwägende in der Mitte - eine Position, die man auch seiner Tätigkeit als Jazzkritiker zuschreiben möchte. Ein Radiomann, der schreiben kann (meist in der FAZ), einer der wenigen aus dem ARD-Jazzredakteursgremium, dem die Betreuung von Sendungen und Ensembles (hier das hr-Jazzensemble) nicht genügte, der in Konzerte ging und urteilte.
Ein Mann von und mit Stil, hochgewachsen, ein Solitär, der Olshausen eben.
Begonnen hatte er auf der anderen Seite des Mikrofons, als Tontechniker mit ordentlicher Ausbildung in Nürnberg, 1955-57.
Vom Fagott schwenkte er in die Musikwissenschaft um, an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt; dortselbst 1963 Promotion mit dem Thema „Das lautenbegleitete Sololied in England um 1600“.
Dann wieder hr, zunächst als Tontechniker, ab 1967 (bis 1999) Leiter der neu geschaffenen Jazzredaktion.
Parallel dazu, ab 1963 und bis bis knapp ins neue Jahrtausend, Rezensent für die FAZ. Man las ihn ausgesprochen gerne.
Dr. Ulrich Olshausen, geboren am 17. August 1933 in Neuenbürg (Nordschwarzwald), verstarb am 30. November 2024 in Frankfurt/Main. Er wurde 91 Jahre alt.

erstellt: 02.12.24
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Olshausen Grab Ffm 13.1.25   1

 

 "Wer auf meinem Begräbnis weint -
mit dem spreche ich kein Wort mehr."

Hauptfriedhof Ffm, 13.01.25

Roy Haynes, 1925-2024

1082px Roy Haynes at Newport Jazz FestivalWomit startet ein Nachruf auf diesen MASTER-Drummer?
Er startet mit Chick Coreas „Now He Sings, Now He Sobs” (1968), entweder aus dem eigenen Regal oder auf Spotify. Eines der meist-zitierten Alben in diesem aktuellen Kontext oder auch im Rahmen einer Hommage an den 2021 verstorbenen Pianisten.
Der Nachruf könnte aber auch starten mit Eric Dolphy “Outward Bound” (1960), Oliver Nelson “The Blues and the Abstract Truth” (1961), Stan Getz “Focus” (1962). Oder mit „We Three“ (1958) vom Verstorbenen selbst, mit Phineas Newborn jr. und Paul Chambers.
Man könnte aber auch in aller Stille einfach mal über einen Lebenslauf staunen, oder - warum nicht? - sinnieren. Einen Lebenslauf, der sich so nicht noch einmal darstellen wird.
Der im Längsschnitt große Teile eines ganzes Musikgenres beschreibt.
Wer sonst könnte ein solches Jazz-Leben aufweisen, das bei Lester Young beginnt, 1947-1949? Wer könnte noch ein Foto herauskramen, das ihn 1953 im „Open Door“ in Greenwich Village zeigt, mit Charles Mingus, Thelonious Monk und Charlie Parker?
Wer könnte berichten, wie es war im Quartett von John Coltrane, wenn Elvin Jones verhindert war?
Wer, der Minton´s Playhouse in Harlem vom bandstand her kennt, der mit Young, Parker, Dolphy, Coltrane, Sarah Vaughan (1953-58) auf Bühnen gestanden hat, tat dies auch viele Jahre später noch mit Pat Metheny, 1990?
Das alles klingt nach sideman jobs. Unter den landmark albums der Jazzgeschichte rangiert keines seiner eigenen.
Und doch wäre dies eine unzureichende Beschreibung. Denn in gewisser Weise war er der Leuchtturm unter denen aus der zweiten Reihe, ein Vorgänger von Elvin Jones, Tony Williams und insbesondere Jack DeJohnette. Er hat die hi-hat von der Pflicht, die Zwei und die Vier zu betonen, befreit; mit der rechten Hand ein Vorreiter des broken swing; ein melodischer Drummer, ein „sehr musikalischer Drummer“, wie ihn einer seiner deutschen Verehrer nennt, der seinen Rolle(n) mit spezifischen Eigenarten nachkam.
Roy Haynes could play with anybody and sound like himself“, staunt Drummer Kollege Billy Hart.
Der Satz stammt wie die folgenden aus der kommenden Autobiografie von Billy Hart, die Ethan Iverson in seinem newsletter „Transitional Technology“ zitiert.
„Als ich schließlich dachte, ich hätte ´meinen eigenen Stil´, fühlte ich mich ziemlich sicher. Aber dann hörte ich Roy Haynes und merkte, dass er bereits alles Mögliche tat, was ich für ´meinen eigenen Stil´ hielt. Ich sah Haynes sogar ein bisschen ähnlich, und in den Zeitschriften sah sein Schlagzeug auch aus wie meines. Irgendwann habe ich verstanden, dass fast alles von irgendwo anders kommt“.
Und: „On top of all that, he can play the slow blues with total commitment. At Dewey Redman’s memorial in St. Peter’s Church, Roy Haynes sat in with Joshua Redman, Pat Metheny, and Charlie Haden and gave us a clinic in just the right texture for a slow blues“.
Seine zahlreichen Auszeichnungen reichten von „best dressed men in America“ 1960 (zusammen mit Fred Astaire, Cary Grant, Clark Gable, Miles Davis) bis zur NEA Jazz Masters Fellowship 1995.
Seine Geburtstage pflegte er im „Blue Note“ in New York City zu feiern, der 95. fiel wegen Corona aus.
Roy Owen Haynes, geboren am 13. März 1925 in Roxbury (Vorort von Boston), starb am 12. November 2024 an der Südküste von Long Island in Nassau County/NY. Er wurde 99 Jahre alt.
Unter seinen musikalischen Nachkommen sind sein Sohn Graham Haynes, cornet, sowie sein Enkel, der Schlagzeuger Marcus Gilmore, 36.

Foto: Marek Lazarski (CC BY-SA 4.0)
erstellt: 13.11.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten

BBB - Bill Bruford´s back!

Wer ist der Herr in der Mitte, am Schlagwerk?
Könnte das nicht...

Pete Roth Trio

...yes folks, er könnte es nicht nur sein: er ist es!
Bill Bruford, Dr. Bill Bruford, wie er sich seit 2016, seit seiner Promotion an der University of Surrey, nennen darf.
Das Foto ist aktuell, es zeigt ihn mit dem Pete Roth Trio.
Seinen letzten gig hatte er am 31. Juli 2008 mit seiner Band Earthworks.
Zum 1. Januar 2009 verordnete er sich den Rückzug von der Bühne.
Im Gegensatz zu den Rückzugsankündigungen von Joachim Kühn. 82, hat Bruford, 75, die seine auch befolgt; abgesehen von einem kurzen Gastauftritt anlässlich eines John Wetton-Memorials, 2023.
Jetzt ist er zurück. Freilich nicht auf dem Level der von ihm kritisierten music industry, sondern auf Clublevel, er tourt bereits durch englische Jazzclubs mit obigem Trio.
Was die Band des offenbar deutsch-stämmigen Gitarristen Roth auf dessen Webseite ankündigt, es kreiere "jazz for a new generation of music enthusiasts that look beyond the ordinary jazz conventions", ist allerdings music industry-Prosa und wird von dem dort annoncierten YouTube-Video keineswegs eingelöst.
Der Spaß an diesem Post Bop/semi Jazzrock sei dem verehrten Trommler gegönnt, seine Beiträge zur Musikhistorie finden wir woanders.

erstellt:05.10.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten

FMP returns to Berlin

Die Nachricht von der Rückkehr von FMP in die deutsche Hauptstadt mag FreeJazz-Ferne überraschen.
Rückkehr? War das Label denn je woanders?
Ja, doch. 2003, mit der Pensionierung (als Sozialarbeiter) des FMP-Gründers & Mentors Jost Gebers (1940-2023) hatte es sich dort versteckt, wo niemals einer seiner Töne hinlangte, in Borken, in der westfälischen Provinz.
Es gehört zu den besseren Szenen in dem missratenen Film „Tastenarbeiter - Alexander von Schlippenbach“ (2023), als Gebers dort das Rolltor einer Garage hochzieht, die sich als gut-sortiertes Archiv entpuppt, und sodann die politische Heißluft der Doku mit Sätzen wie diesem entkorkt:
„Man kann zu dieser Musik nicht Ho-Chi-Minh brüllend über´n Kudamm rennen.“
FMP Cover 06 01Ein Phänomen wie FMP hatte vielleicht mal einen Ort, das alte West-Berlin, wo manche seiner legendären Katalogeinträge akustisch eingefangen wurden.
Eigentlich ist es ubiquitär; seine Fans, heute: seine community, ist weltweit zu finden. Teile des Kataloges schweben längst über allem & allen; sie sind in der cloud, bei bandcamp.
Was besagt da schon, dass ein 400-Seiten-Nachschlagewerk („FMP -The Living Music“) 2022 bei Wolke in Hofheim, in der hessischen Provinz, verlegt worden ist.
„Return to Berlin“ besagt auch nicht mehr, als dass die Hauptsache, der Tonträger-Katalog, nun von einer Adresse aus in Prenzelberg gesteuert wird.
Dort wohnt der „Living Music“-Autor und Kurator Markus Müller. Ihn hat Gebers in seinem Testament als Treuhänder bestimmt. Und er hat einen Plan.
In den nächsten fünf Jahren will er - zusätzlich zu dem FMP-Bestand auf bandcamp - lange Vergriffenes, neu gemastered, digital herausbringen. Am 25. Oktober zum Beispiel Brötzmann/Mangelsdorff/Sommer „Pica Pica“ (1982) oder, aus demselben Jahr, „Pakistani Pomade“ vom Schlippenbach Trio, zwei Wochen zuvor.
In einem Jahr sollen Tonträger dazukommen, CDs, auch Erstveröffentlichungen aus dem physischen Archiv. Es befindet sich sowohl in Borken als auch in Berlin.
erstellt: 30.09.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten

Jack plays the Piano...in Woodstock

Jack DeJohnette at PianoJack DeJohnette, 82, geht nicht mehr auf Tournee. Seine Herzprobleme hat er zwar im Griff (laut New York Times), aber seit Covid mag er keine Reisen und keine Menschenmengen mehr.
Seit rund fünfzig Jahren lebt er in den Catskill Mountains, upstate New York; heute Abend tritt er sozusagen in der Nachbarschaft auf, im Woodstock Playhouse, Woodstock/NY - als Solopianist.
DeJohnette kehrt damit zu seinem erst-erlernten Instrument zurück, in den 40er Jahren, in seiner Geburtsstadt Chicago.
Die Liebe eines der bedeutendsten unter den stil-bildenden Schlagzeugern der Jazzgeschichte zum Piano kommt nicht überraschend. Gelegentlich hat er es im Studio eingesetzt, auch die verwandte Melodica, 1985 veröffentlicht er „The Jack DeJohnette Piano Album“, im Trio Format, mit Freddie Waits in „seiner“ Position, am Schlagzeug.
Die New York Times, die den Woodstock-Auftritt zum Anlass einer ausführlichen Betrachtung nimmt, macht mit einem Schlüsselerlebnis des 2-Instrumente-Musikers auf, als der Pianist JDJ aus Chicago Anfang der 60er Jahre ein Wochenengagement im Showboat Club in Philadelphia (those were the days) auf seinem damaligen Zweitinstrument bestreitet.
Der Bandleader, Eddie Harris (1934-1996), nimmt den Twen in einer Pause beiseite:
„Du spielst ganz nett Piano, Mann. Aber dein Schlagzeugspiel hat was - du bist ein Naturtalent am Schlagzeug. Und du musst dich entscheiden, welches dein Hauptinstrument sein soll.“
The rest is jazzhistory. Von Charles Lloyd über Miles Davis und Jahrzehnte bei Keith Jarrett und und und…
„Ich glaube nicht, dass ich ein fantastischer Pianist bin“, räumt er ein, „aber ich glaube, ich spiele gut genug, um eine Geschichte zu erzählen“.
Man kann sie, unter dieser Voraussetzung, vielleicht auch als die Geschichte eines Rekonvaleszenten hören. Denn es ging ihm nicht gut in den letzten Jahren.
„Ich war an einem Tiefpunkt in meinem Leben“, gesteht er der NYT. „Ich hatte ein öffentliches Image, aber dann ist das persönliche Image eine große Herausforderung“.
„Was soll ich sagen? Ich bin ein egozentrischer Mensch, der immer mehr an sich selbst denkt als an andere Menschen, und das ist eine ständige Sache, bei der mir meine Frau Lydia und andere Leute zu helfen versuchen.“
Von letzterer erfährt der Reporter der NYT, dass er Zeit in einer Therapie verbracht habe.
Zusammen mit einer Assistentin bringt sie Ordnung in das riesige Band-Archiv ihres Mannes. Ein erster Fund kommt im November bei Blue Note heraus: ein Konzertmitschnitt von 1966 aus dem legendären Slug´s Saloon im East-Village (Manhattan), mit McCoy Tyner, Joe Henderson, Henry Grimes.
Titel: „Forces of Nature“, weil „sich alle gegenseitig bis zum Äußersten anspornen und antreiben, und das merkt man“ (DeJohnette).

erstellt: 28.09.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten

Martin France, 1964-2024

Martin FranceObwohl sie es nicht ist, wurde sie in britischen Jazzkreisen fast wie eine Todesnachricht aufgenommen:
der Schlagzeuger Martin France wird nie mehr wieder spielen können.
Was im engeren Freundeskreise seit Monaten bekannt war, hat der Bassist Chris Laurence nun mit Billigung des an Prostatakrebs Erkrankten an die Öffentlichkeit gegeben.
Mit Martin France, gerade erst 60 geworden, tritt ein überaus gefragter und beliebter Musiker ab, der zentrale Schlagzeuger über ein Dutzend Jahre für Projekte von Django Bates.
Angefangen bei den Loose Tubes, 1990, bis zu dessen Beloved Bird-Triobesetzung, Mitte der 2000er Jahre.
Sein recording catalogue zeigt ihn in einem breiten Panorama, diesseits des Frei-Metrischen, bei John Taylor, Gwilym Simcock, Julian Argüelles, in seinem eigenen, dem drum´n´bass—infizierten Ensemble Spin Marvel.
Zuletzt unterrichtete er der Royal Academy of Music in London.

PS (04.09.24) Inzwischen ist die Rede von einer Abschieds-Email, die Martin France an Freunde & Kollegen geschickt haben soll.
PPS (06.09.24) Martin France ist am Abend des 5. September 2024 verstorben.

erstellt: 03.09.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten

Irene Schweizer, 1941-2024

irene schweizer liveGanz sicher kann man in dieser Praxis auch die Bewahrung ihrer Würde erkennen:
nämlich darin, dass die wenigen, die in den letzten drei Jahren Zugang zu ihr hatten, über das, was sie dort sahen, nichts an die Öffentlichkeit gelangen liessen.
Der körperliche und geistige Verfall der berühmtesten Jazzmusikerin der Schweiz, er vollzog sich zeitversetzt zu den abklingenden Ovationen zu ihrem Achtzigsten sowie ihres letzten Albums („Celebration“, mit Hamid Drake, 2021).
Er schlich dahin an einem nicht ganz zufälligen Ort, im Zürcher Altersheim Bürgerasyl Pfrundhaus, auch bekannt als nachmittäglicher Spielort des Taktlos-Festivals, an dessen Gründung sie 1984 beteiligt war. Geleitet wird das Heim von der Partnerin des Gründers des Labels, das sie im selben Jahr mit angeschoben hat: Intakt Records.
Dass das Label, das den größten Teil ihrer über 75 CDs/LPs verlegt, nun von „the great personality of European Jazz“ spricht, ist keineswegs übertrieben.
Es lassen sich genügend Plädoyers dafür finden. Anthony Braxton zum Beispiel, nur vier Jahre jünger, sagt gleichwohl:
„I remember this great master when we were young“.
Und er betont in eher abstrakten Worten ihren Weg, der in der Tat ein steiniger war. Man kann viel darüber nachlesen, insbesondere in der Biographie von Christian Broecking („Dieses unbändige Gefühl der Freiheit. Irène Schweizer – Jazz, Avantgarde, Politik“, Berlin 2016).
1964 zum Beispiel, als die Blue Notes aus Südafrika (unter ihnen Louis Moholo, mit dem sie später in einem ihrer bevorzugten Formate, dem Piano-Drums-Duo, auftrat) der Zürcher Damenwelt verfielen. Da erlebte sie Szenen, die heute einen shitstorm nach dem anderen hervorriefen:
„They all wanted to get me into bed, everybody was in love with me, all the time“.
Allerdings verfügte sie selbst über sehr effektive Abwehrkräfte als „authentic Lesbian as I am“; eine Orientierung, die ihr als Zwölfjährige erstmals aufgefallen war.
In Schaffhausen, da kommt sie her. In diesem Alter spielt sie, die Tochter eines Gastwirtes, die Handharmonika. In einem Nebenraum des elterlichen „Landhofes“ hört sie regelmäßig eine Jazzband proben. Sie wechselt daraufhin zum Klavier-, aber auch Schlagzeugunterricht.
George Lewis, in vollem Überschwang, spricht sehr viel später von den „political implications of Schweizer´s drumming“, will damit aber lediglich mit ihrer Handhabung des seinerzeit „ultimativen maskulinen Instrumentes“ den herausragenden Status ihrer Emanzipation in der damals nun wirklich patriachalen Jazzwelt markieren.
Sie war, im besten Kriegel´schen Sinne, eine „Einzelanfertigung“: in ihren Rollen als Frau, als überwiegende Autodidaktin, als ausgebildete Sekretärin.
Die lange Zeit noch dieser Tätigkeit nachging, um auch wirtschaftlich nicht vollends den Irrungen & Wirrungen der Jazzszene ausgesetzt zu sein.
1960, mit neunzehn, gewinnt das „Fräulein Schweizer“ einen Preis beim Zürcher Amateur-Jazzfestival.
Ein Konzert von Cecil Taylor 1966 in Zürich ließ sie zunächst eine Zeitlang verstummen, bis sie - von diesem Eindruck erholt - dann ihrerseits zum Free Jazz konvertierte, dem man sie zutreffend zuordnet, ohne dass sie sich gänzlich von Formen der Tradition (Blues, swing) gelöst hätte; eine Referenz zu Monk hielt sie immer aufrecht.
Sie trat solo auf, in etlichen Duo-Formaten, es gab eine afro-amerikanische Seite bei ihr (mit Don Cherry, John Tchicai u.a.), eine nominell-feministische (Les Diaboliques z.B.), sowie einen reichen Austausch mit der europäischen Jazz-Avantgarde.
Reserviert Irene Schweizer   1Sie wurde mit zahlreichen Preisen bedacht.
Die atmosphärisch würdigste Auszeichnung darunter, 2016 zu ihrem Fünfundsiebzigsten beim Jazzfestival in Schaffhausen, wo es schien, als werde sie von einer großen Abordnung aus der  Bürgergesellschaft ihrer Heimatstadt geehrt. Ein Kabarettist (Michael Stauffer) hielt die Laudatio. Selten konnte man, wie dort, den Eindruck gewinnen:  die Jazzszene hat (endlich) eine Form gefunden zu feiern.
Das sollte sie auch in Zukunft tun:
Irene Schweizers Leben liest sich wie ein Rollenmodell, das man freilich nicht kopieren kann. Das aber als offenes Sinnbild stehen mag für einen individuellen, starken  Ausdruckswillen, against all odds - gegen alle Umstände.
Wenn es einen Albert Mangelsdorff Preis gibt - warum nicht demnächst auch einen Irene Schweizer Preis oder ein Irene Schweizer Stipendium?
Irene Schweizer, geboren am 2. Juni 1941 in Schaffhausen, verstarb am 16. Juli 2024 in Zürich. Sie wurde 83 Jahre alt.

Foto: Francesca Pfeffer/Intakt Rec. (Irene Schweizer)
erstellt: 17.07.24

©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten
PS Interview mit dem Schlagzeuger des Irene Schweizer Trios 1963-67, Mani Neumeier, in der September-Ausgabe des Schweizer Jazzmagazins Jazz´n´More.

Irene Schweizer (Dankesrede zum 75., Kammgarnfabrik, Schaffhausen, 26.05.16)

Mika goes to Monheim (2)

Was für ein Schachzug!
Das Fernsehen hat die Dokumentation von Jazzfestivals weitgehend aufgegeben, das Radio reduziert gleichfalls.
Die Produktionen - man hielt sie jahrzehntelang für einen Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen - sind in ihrer visuellen Form stark und in ihrer akustischen bis auf einen doch noch deutlich wahrnehmbaren Sockel geschmolzen.
Kritik an ihrer Produktionsästhetik war ihr ständiger Begleiter: Kameras suchten den gerade erklingenden Solisten; hatten sie ihn denn gefunden, fuhren sie ihm fast in die Nasenlöcher, der Anblick einer vollständigen Künstlerperson bei der Arbeit, vor allem der improvisierten, ward den Zuschauern am Monitor meist vorenthalten.
Das Niveau der begleitenden Information: ein Grauen, Anbetung der Künstler statt Information, von ästhetischer Debatte ganz zu schweigen. Tiefpunkt auch hier: Moers, wo Arte seinen Ruf verspielte und das Kasperletheater distanzlos in alle Welt pustete.
Was für ein genialer Schachzug also, die Dokumentation eines Festivals (auch in ihren seltenen guten Momenten) nicht Handwerkern zu überlassen, die schließlich quasi namenlos durch den Abspann huschen, sondern die Dokumentation ihrerseits zu einem Kunstwerk zu machen!
Mika iphone   1Das Geniale der Entscheidung von Monheim Triennale-Intendant Reiner Michalke liegt nun darin, für die Dokumentation von The Prequel II (04.-06.07.24) einen Künstler zu verpflichten, dessen Ruhm (und hier dürfen wir durchaus einen Weltmaßstab anlegen) den von 15 der insgesamt 16 Monheim-PerformerInnen übersteigt (Ausnahme Heiner Goebbels).
Die Monheim Triennale, von der auch in den angrenzenden Städten Düsseldorf und Köln etliche unter den potenziell Vorbeschallten noch keine Vorstellung haben, wird also in ihrer Version The Prequel II  mit Bestimmtheit ganz andere Kreise ziehen.
Dank Mika Kaurismäki, 68, dem älteren der beiden finnischen Meisterregisseure-Brüder.
Mika war in Monheim, sah sich um in der Stadt, nahm Konzert- und also auch Drehorte in Augenschein. Auch an Rheinkilometer 714, wo alsbald die Hauptlocation, das Rheinschiff mit Hauptbühne, vertäut werden wird.
Improvisation ist ihm nicht ganz fremd. Er hat einen (Spiel)Film ohne Drehbuch gemacht ("Three Wise Men", 2008), etliche Musik-Dokus, aber keine über Improvisierte Musik oder in den Varianten, die ihn in Monheim erwarten.
Michalke hat ihm einen Berater zur Seite gestellt, den neulich pensionierten SWR-Jazzredakteur und Fortschreiber des Berendt´schen Jazzbuches, Günther Huesmann, 67. Dieser führte, gut vorbereitet und dramaturgisch geschickt, durch eine Pressekonferenz, die wie die Vorgänger demnächst unter den Monheim Videos zu sehen sein wird.
Erste Verblüffung: Mika spricht Deutsch, leise zwar, aber gut vernehmbar. Er hat es in den Jahren 1977-1981 in München gelernt, während des Studiums an der Hochschule für Film und Fernsehen (für das RW Fassbinder die Aufnahmeprüfung nicht geschafft hat).
Es war der zweite, der entscheidende Anlauf in die Profession. Ursprünglich war er nach München gekommen, um Architektur zu studieren. 15 bis 20 Filme pro Woche habe er damals im Filmmuseum gesehen, dabei täglich die Filmhochschule passiert, bis er schließlich dort doch anklopfte.
Der erste Anlauf ereignete sich im Herbst 1976 in Finnland. Mika hatte den Sommer über als Anstreicher gut verdient, im Overall betrat er einen Buchladen und erwarb die gerade erschienene „History of Cinema“, las sie mit der Konsequenz, Filmregisseur werden zu wollen, aber die Eltern….
Mika schaut Miriam   1

Günther Huesmann hat drei Filmausschnitte vorbereitet. Der erste führt in Kaurismäkis wohl berühmtesten Film „Mama Africa“ (2011) über die südafrikanische Sängerin Miriam Makeba (1932-2008). Ein Interview mit ihr war verabredet, sie ist kurz vor Beginn der Dreharbeiten verstorben; der Ausschnitt in Monheim zeigt sie u.a. bei ihrer Rede vor der UNO in New York 1963.
Zwei weitere führen in die brasilianische Musik - ein begriffliches Dach für eine Vielzahl an Stilen, deren Namen die meisten wohl noch nicht gehört haben.
Huesmann zählt beiläufig ein Dutzend von ihnen auf, ein Dutzend neben Samba, darunter Choro, dem die Doku „Brasileirinho“ (2005) gewidmet ist.
Überhaupt Brasilien, Mika hat jahrelang in Rio gewohnt, hatte dort einen Musicclub, und neben seiner Tätigkeit als Filmregisseur, so Huesmann, habe er auch ein Händchen als Talentscout gezeigt. Mehrere Künstler, die als no names vor seine Kamera traten, hätten sich später zu Stars entwickelt.
Und dann Billy Cobham, kürzlich 80 geworden. Der (eine) frühe Superstar des Jazzrock-Drummings hat eine längsschnittartige, auch anekdotische Bedeutung für Mika Kaurismäki. Als Spät-Teen hat er sich auf einem selbstgebastelten drumset an „Spectrum“ (1973) abgearbeitet, sehr zum Mißfallen seiner Schwester - „sie hat Billy Cobham später geheiratet“.
Und dann „Sonic Mirror“ (2008), die Doku über Cobham. Der Ausschnitt hier ist besonders klug gewählt, er zeigt ihn inmitten von Streetkids, trommelnd und tanzend, in Bahia.
Und er zeigt - dass der Jazzmaster in diesem Moment erkennbar nicht weiß, wo die Glocken hängen, sprich: die Einsätze der collegas links und rechts bringen sein Rhythmusempfinden aus dem Takt.
Sie schiessen regelrechte Salven ab. Urplötzlich.

Mika schaut Cobham in Bahia   1In eineinhalb Stunden in der Festival-eigenen Villa am Greisbachsee entsteht ein unterhaltsames, informatives Kondensat aus dem umfangreichen Werk eines bedeutenden Künstlers.
Es beschreibt seine Vergangenheit. Seine Pläne für die unmittelbare Zukunft in der unmittelbarer Umgebung bleiben, notabene, wenig konturiert. Es hängt viel von anderen Handelnden ab, die sich mit voller Absicht dem Ungewissen, der Improvisation, überlassen werden.
Man verlässt die Villa in dem Glauben, dass Mika in seiner freundlichen Unerschrockenheit deren Treiben in den Griff kriegen wird.

erstellt: 03.06.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten

 

Palle Danielsson, 1946-2024

Palle DanielssonMan könnte, in einer ersten Annäherung, ihn für den Ron Carter des europäischen Jazz halten.
In diesem Bild wäre sein Miles Davis Keith Jarrett.
Fünf Jahre, von 1974 bis 1979, war er in dessen europäischem Quartett, mit Jan Garbarek u.a.
Das Bild soll die enorme Vielfalt seiner Einsätze zum Ausdruck bringen.
Sie betreffen den europäischen Norden (Bobo Stenson, Lennart Aberg, Jan Gabarek, Karin Krog, Edward Vesala), die Mitte (Christof Lauer, Albert Mangelsdorff, in den 1990er Jahren John Taylor), den Süden (Enrico Rava, Rita Marcotulli, Michel Petrucciani).
Aber schon hinsichtlich seines Tones gerät das Bild ins Wanken: seiner war doch ein eher „poetischer“, ein „singender“, wie die FAZ meint, auf jeden Fall raumgreifender.
Und was die transatlantischen Engagements betrifft, stellt er die US-Referenz vollends in den Schatten.
1965, noch als Student an der Königlichen Musikakademie in Stockholm, ruft ihn Bill Evans in seine Band. Es folgen Charles Lloyd, Lee Konitz, Peter Erskine, Steve Kuhn, Marilyn Crispell und andere.
In einem allerdings ähneln sie sich doch: obwohl beide eigene Bands haben/hatten, ist/war ihre Hauptrolle doch die eines Sideman. Was großen Ruhm nicht ausschließt.
Paul „Palle“ Danielsson, geboren am 16. Oktober 1946 in Stockholm, verstarb am 18. Mai 2024 in Aker Styckebruk, südwestlich von Stockholm. Er wurde 77 Jahre alt.

 

Foto: Richard Kaby, Wikimedia
erstellt: 21.05.24
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