It´s been 53 years ago (not today): Tony Williams Lifetime im Beatclub!

Seit wenigen Tagen online: ein Ausschnitt aus dem bislang unveröffentlichten Auftritt von Tony Williams Lifetime im Beatclub, 24. Oktober 1970.
John McLaughlin, g, Jack Bruce, bg, voc, Larry Young, org, Tony Williams, dr.
Die Titelei ist falsch. TWL spielt einen Medley aus:
Smiles & Grins (J. Bruce) : 00:00 - 02:38
Devotion (J. McLaughlin) : 02:39 - 05:25
Smiles & Grins Reprise (J. Bruce) : 05:26 - 06:30
Dance of Maya (J. McLaughlin) : 06:30 - 09:41
Winfried Trenkler und ich waren dort. Wir kamen zu spät zur Aufzeichnung.
Wir trafen die Band (außer TW) im Hotel. Die Musiker waren verärgert über den Regisseur Mike Leckebusch (1937-2000).
Sie hatten die Aufzeichnung abgebrochen. Die sehr vage Erinnerung sagt: es habe einen Konflikt über die bereitgestellte Anlage gegeben.
Beatclub-üblich war Orange. TWL bestand auf Marshall. Erstaunlicherweise sind Boxen beider Marken im Bild.
Interessant die überbordende Kommentierung des Videos: was die Leute so alles herausfinden!

PS (08.09.23)
Recherchen bei Radio Bremen ergeben, dass die Chancen, weiteres Material als diese nun frenetisch begrüßten 9 Minuten und 45 Sekunden zu finden, denkbar gering sind.
That´s all there is to it!
Insider vermuten die Quelle für die jetzige YouTube-Veröffentlichung (fast 100.000 Aufrufe in 6 Tagen) auch gar nicht in Bremen, sondern in Hamburg ("...ein Maulwurf").

PPS (25.09.23)
Ja, kann man sich denn heutzutage auf niemanden mehr verlassen?
Nun hat "der Maulwurf aus Hamburg" weitere 5:59 aus dem Beat Club-Archiv hochgeladen, eine wegen Feeback unterbrochene, auch gesanglich kaum gelungene Fassung von "Two Worlds". Das Stück hört man sich besser in der Studiofassung vom März 1971 auf "Ego" an, wie überhaupt das gesamte Album. Es enthält einen absoluten TW-Klassiker: "There comes a Time".

erstellt: 05.09.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Tristan Honsinger, 1949-2023

Tristan Honsinger   1

Eine der markanten Persönlichkeiten des europäischen FreeJazz (oder der Frei Improvisierten Musik) kam aus Neu-England, aus dem US-Bundesstaat Vermont.
Im Alter von neun Jahren begann er sein Instrument zu spielen, das Cello; und er studierte es u.a. dort, wo der Vater von Frank Zappa seinen filius auch gern in guten Händen gesehen hätte, am Peabody Konservatorium in Baltimore.
1969 verschlug es ihn, um dem Militärdienst zu entkommen, nach Montreal.
Dort kommt ihm ein beinhartes Produkt einer Musikwelt zu Ohren; mit der Folge, dass er sich 1974 in Amsterdam mitten in diese stürzt: der Auslöser „The Topography of the Lungs“ (1970), mit Derek Bailey, Evan Parker und Han Bennink.
Einen ultimativeren Abschied von der Klassik für einen davon Frustrierten kann man sich nicht vorstellen.
Ende der 70er lebte er in Florenz, dann wieder einige Jahre in Berlin. Dort wurde er u.a. Mitglied der Ensembles, mit denen Cecil Taylor die Hauptstadt aufwühlte.
Er hat in all den Jahren einen Riesenkatalog eingespielt.
Dauerhaft aber blieb über Jahrzehnte Amsterdam, und das heißt, das ICP Orkest.
Niemand verkörperte - durchaus im Wortsinne - dessen schräge Dialektik aus Ernst & Scherz so wie er. Das große Hilfswort, das seine überaschenden Bühneneinlagen einfangen soll, lautet „Dada“.
Es war zum Schreien komisch, aber blitzschnell auch in Mitleid umschlagend, in der Tat ein „great harlequin of improvised music“, wie ihn der Blogger Martin Schray nennt.
Es ging ihm nicht gut in den letzten Jahren. Die ICP-Managerin spricht von einer ernsthaften mentalen Erkrankung, „aber wie ein Phönix hat er sich wieder gefangen“.
Sie hat ihn im Oktober 2022 zum letzten Mal gesehen, und danach: „Tristan war überall und nigends, die letzten Monate war er in New York, Berlin und Triest“.
Noch im Februar wurde dort für ihn zu Spenden aufgerufen, für Medikamente, es drohte Obachlosigkeit. Wenig später dann der warme Regen durch den von einem anonymen Mäzen gestifteten „Instant Award In Improvised Music“, dotiert mit satten 50.000 Dollar.
Er fand ein Appartement, war in Erwartung einer permanenten Aufenthaltsgenehmigung für Italien. Am 7. April spielt er mit dem Pianisten Schuichi Chino in der Buchhandlung Knulp in Triest.
Der Auftritt mit (s)einem Sextett am 23.07.23 bei den Nickelsdorfer Konfrontationen dürfte seine letzte Live-Performance gewesen sein.
Tristan Honsinger, geboren am 23. Oktober 1949 in Burlington/Vt, stab am 5. August 2023 in Triest. Er wurde 73 Jahre alt.

 erstellt: 07.08.23, ergänzt 10.08.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

 

"Wie machen wir Deutschlands Jazzszene fit für die Zukunft?"

Die Deutsche Jazzunion, die Vertretung der Jazzmusiker und -musikerinnen, ist 50 geworden.
Am Anfang, im Januar und Juli 1973, bei den ersten beiden Foren in Marburg, waren sie (fast) alle da:
Albert Mangelsdorff, Manfred Schoof, Alexander von Schlippenbach, Volker Kriegel, Joachim Kühn, Klaus Doldinger … you name ´em.
Claus Schreiner   1

Claus Schreiner, links, Manfred Schoof, rechts

Hätte nicht die Geschäftsführung der ersten Jahre in den Händen von Claus Schreiner, 80, gelegen, dem Agenten von Doldinger, Mangelsdorff u.a., einem administrativ erfahrenen Mann - der zunächst als Union Deutscher Jazzmusiker eingetragene Verein hätte das Ende des Jahrzehntes wohl nicht erreicht.
Nachdem auch Mangelsdorff als Vorsitzender nicht mehr leuchtete, waren sich später selbst Szenekenner mitunter nicht sicher, ob es die Organisation noch gibt.
Aber sie hielt sich. Ein Lebenszeichen sendet sie nach 1994 alle zwei Jahre durch ihre Mitwirkung am Albert Mangelsdorff Preis.
2012 dann eine grundlegende Neuaufstellung: viel mehr Musikerinnen, ein geschlechtsneutraler Name > Deutsche Jazzunion.
Sie hat gewiss ihren Anteil an der inzwischen besseren Förderung des Jazz, insbesondere durch den Bund.
Auch publizistisch sind ihr mehrere Projekte gelungen: sie hat zwei Studien über die - ökonomisch prekäre - Lage ihrer Mitglieder initiiert; sie hat sogar die Bundeszentrale für Politische Bildung für zwei Schriften ins Boot geholt (mit Texten freilich, die teilweise nicht dem Standard deren Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschehen“ entsprechen.)
In der Geschäftsstelle der Union in Berlin sind laut Webseite heute 14 MitarbeiterInnen beschäftigt (und abgebildet samt ihrer korrekten Personalpronomina „er/ihm“ bzw „sie/ihr“).

Anette von Eichel   1Und doch braucht diese Organisation von der Größe eines mittelständischen Betriebes geschlagene fünf Tage für eine Pressemitteilung über ihr Jubiläumsforum in Marburg.
(In dieser Hinsicht sind einige ihrer Mitglieder, auch aus dem Vorstand, daheim schneller).
Die „Sichtbarkeit“, um die der Verband in der Gesellschaft ringt, sie bietet er auch aus eigener Kraft auf seinen eigenen Seiten einstweilen nicht:
keine Videos aus den drei Panels in Marburg.
Wo man sich en detail informieren könnte über die Inhalte des 27. Jazzforums, etwa über die „Bedeutung gesellschaftlicher Transformationsprozesse für die Jazzszene“.
Oder „Wie machen wir Deutschlands Jazzszene fit für die Zukunft? Implikationen für eine nachhaltige Jazzinfrastruktur in Deutschland?“
Oder schlicht: was hatten die Alten den Jungen zu sagen, und umgekehrt?
Die Pressemeldung beschränkt sich im wesentlichen auf den Transport der eines Verbandes üblichen Signalworte.
Etwa durch den Ehrenvorsitzenden Manfred Schoof:
„„Die Sichtbarkeit des Jazz in Politik und Gesellschaft ist wichtig, denn Jazz wirkt auf vielfältige Weise in die Gesellschaft hinein – als Kunst und beste Unterhaltung zugleich.“
Oder durch die derzeitige Vorsitzende Anette von Eichel:
„„Der Jazz hat der Gesellschaft viel zu geben, etwa mit Blick auf gesellschaftliche Interaktion, gemeinschaftliche Improvisation und interkulturelles Verständnis.“

Sie klingen wie Hilferufe.
Unter der tonnenschweren Last gegenwärtiger globaler Probleme, so steht zu befürchten, dürfte das Erkennen solcher sozialen Transformationsleistungen aus einer Kunstform in „die Gesellschaft“ - schon zu „Normalzeiten“ schwierig - ans Unmögliche grenzen.
Wer hätte jüngst von einem Lösungsvorschlag gehört, der sich „dem Jazz“ verdankte?
Zu dem Prekären gesellte sich obendrein Ignoranz. Die aktuellen Printmedien nahmen von dieser Veranstaltung so gut wie gar nicht Notiz.
Die FAZ zum Beispiel, vor 50 Jahren auch auf dem Foto der Unions-Gründung mit einem Berichterstatter präsent, mutete ihren klugen Köpfen diesmal gar nichts zu.

Fotos: © Georg Kronenberg
erstellt: 21.07.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Ernst-Ludwig Petrowsky, 1933-2023

Da beider Tod so rasch aufeinander folgt, liegt es nahe, ja bleibt gar nicht aus, beide Protagonisten miteinander in Beziehung zu setzen - um das hier übliche „miteinander vergleichen“ zu vermeiden: Brötzmann und Petrowsky.
Beide waren Autodidakten, beide wurden zu den Protagonisten des FreeJazz in ihren Ländern, sie hatten Schnittmengen als fratres in musica, haben auch zusammen gespielt, etwa im Brötzmann Clarinet Project (1987) oder im Globe Unity Orchestra (2002). Und sie hatten beide, wenn auch nicht durchgängig, eine gemeinsame Heimstatt beim Label FMP.
Ernst ludwig petrowsky jazzsaxofonist berlin jazzclub aufsturz 170206 01Doch je näher man Brötzmanns „alter ego“ (FAZ) tritt, desto mehr verspurt es sich in zwei sehr disparate Laufbahnen und Lebensstile.
Dass Brötzmann sich an „Desafinado“ oder „Take Five“ versucht hätte, ist nicht bekannt. Genau daher aber kam der von allen nur Luten genannte Altsaxophonist aus Güstrow/Mecklenburg.
Er hat im Rundfunk-Tanzorchester Berlin gespielt, sogar Jazzrock (pfui Teufel), er hat sich nicht mal vor Schlagern geekelt. Wie anders hätte er einen Manfred Krug (1937-2016) begleiten können? Oder, ja ganz andere Abteilung, einen Wolf Biermann?
Petrowskys Pfingsterlebnis fand im Dezember 1965 im Dresdner Hygiene-Museum statt. Da traf er, als Mitglied des Manfred-Ludwig-Sextetts, auf das Trio von Joachim Kühn.
Wolfram Knauer beschreibt in seinem Buch „Play yourself, man!“ die Verunsicherung und Infizierung des Altsaxophonisten durch den Pianisten im Hinblick auf freiere Ausdrucksformen.
Der Infektionsherd konnte für ihn als Altsaxophonisten nur heißen: Ornette Coleman (1930-2015). Das Gefäß dafür wurde 1973 die Gruppe Synopsis, in den 80ern mit preussischem Humor umbenannt in Zentralquartett (Petrowsky; Baby Sommer, dr; Ulrich Gumpert, p; Conny Bauer, tb).
Diese Avantgarde (ein gelebtes Paradox unter DDR-Bedingungen) war aber immer auch „Luten“: altdeutsch für „aus dem Volk“. Es fand sich, als deutsches Liedgut, auch im Repertoire des Quartetts wieder.
Luten Petrowsky, dem auf Fotos häufig der Schalk im Nacken zu sitzen scheint, hat die für diese Musik vorgeschriebene politische Deutung in einer wiederum sehr schalkhaften Dialektik aufgelöst:
„In der DDR war sie (die Musik) völlig unpolitisch und dadurch wurde sie auch politisch. Das ist ein komischer, doppelter Rittberger-Widerspruch in sich. Aber wir wurden dauernd bezichtigt, irgendwie dagegen zu sein und hatten in der DDR auch ein relativ großes Publikum, das aber im Grunde genommen nicht nur aus Musikkennern oder Fans bestand, sondern das waren Leute, die mit der Musik gar nichts anzufangen wussten“. Letztere kamen zuhauf, weil sie „die Atmosphäre genossen“.
Es war aber gewiss nicht diese Eigenschaft, derentwegen George Gruntz ihn 1980 in seine Concert Jazz Band holte, als einzigen Deutschen neben Manfred Schoof.
Jahrzehnte lang trat er mit Uschi Brüning auf, mit der er seit 1983 verheiratet war; es kam sein ganzes Arsenal zum Einsatz: Altsaxophon, Klarinetten, Flöte.
2013, zu seinem Achtzigsten, widmete ihm das Jazzfest Berlin einen Jubilee-Abend, mit drei seiner wichtigsten Ensembles. Den Deutschen Jazzpreis für sein Lebenswerk (2022) musste sie für ihn entgegennehmen; er lebte schon seit Jahren in einem Pflegeheim.
Ernst-Ludwig „Luten“ Petrowsky, geboren am 10. Dezember 1933 in Güstrow, starb am 10. Juli 2023 in Berlin; er wurde 89 Jahre alt.

erstellt: 12.07.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Peter Brötzmann, 1941-2023

Brotzmann KrauskopfBrötz 23!
Es gab Stimmen, Stimmen von Insidern „im Tal“ (wie die Schöpfer von „Sounds like Whoopataal“ den Ort ihres Wirkens gerne verknappen), die diesen Titel für ein Menetekel hielten.
Brötz 23 sollte Ende September an Brötz 80! anknüpfen, an die große Werkschau, damals aus Anlass seines runden Geburtstages.
Wenig später, am 23. März 2023, wurden die Befürchtungen bestätigt:
Brötzman selbst berichtete auf facebook von einem „totalen Zusammenbruch“ nach Konzerten in Warschau und London sowie dezidiert von „Re-Animation“.
Dem Vernehmen nach verdankte er sein Überleben dem beherzten Eingreifen seines Sohnes, des Gitarristen Caspar Brötzmann.
Vor wenigen Tagen dann eine Todesahnung in einem Interview mit der Zeit:
„Wie die Zukunft aussieht, das weiß der Teufel. Um realistisch zu sein: Im Augenblick habe ich wohl keine“.
Am 22. Juni 2023 kam der Schwebezustand, den er in einer rundmail an die Beteiligten von Brötz 23! kürzlich noch aufrecht erhielt, an ein Ende: er starb zu Hause, in der Obergrünewalder Straße 5 in Wuppertal-Elberfeld, an den Folgen der langjährigen Lungenerkrankung COPD.
Daß er überhaupt noch die Luft holen konnte, die für seine Art des Saxophonspielens nötig war (auch nachdem er gesundheits-schädlichen Genüssen entsagt hatte), grenzt für alle, für Insider wie für Fernstehende, an ein Wunder. Den Begriff, den sie alle dafür als Erklärung bemühen, lautet: Kraft.
Aber wo kam die Kraft her, über so viele Jahre? Was hat sie gespeist?
Die Quelle, die er dafür gefunden zu haben meint, sie spricht aus vielen seiner zahlreichen Interviews, er selbst bringt sie im Herbst 2021 anlässlich der Tagung „Kunst, Musik und Peter Brötzmann“ auf den Begriff; sie lautet „Wut“.
Diese wirkte demnach sechs Jahrzehnte lang, auch auf seinem Balladenalbum, wo man den sanfteren Brötzmann vernehmen kann („I surrender, dear“, 2018).
Zum Standard seiner Rezeption, wie jetzt z.B. in einem Nachruf im NDR, gehört, diese Kraft als „politisch“ zu etikettieren:

„Wenn ich an die vielen Tausend denke, die täglich in Afrika an Aids sterben, an Israel und Palästina denke, das kann ich nicht einfach zur Seite schieben und nette Musik machen. Das muss man verarbeiten. Deshalb ist Free Jazz nicht unbedingt eine Musik, bei der man auf dem Sofa sitzt und nur Spaß haben kann“.
Derlei Proklamationen, wie gesagt, sind zahlreich. Kaum je wurde der Versuch unternommen, sie auf ihre Plausibilität, auf ihre politische Wirkung gar, zu überprüfen. Beschreibungen der jeweiligen politischen Großwetterlage reichten aus, das Schiffchen Brötzmann darauf zu Wasser zu lassen.
Selbst eine eingehende Analyse des in dieser Hinsicht paradigmatischen Werkes „Machine Gun“ (1968) ist nicht frei davon (Wolfram Knauer, 2019 in „Jazzforschung heute“).
In der Sache selbst aber stellt der Autor fest, „dass ´Machine Gun´alles andere als eine bloße freie ´blowing session´ war, dass das Stück eine klare und nachvollziehbare Struktur besitzt, die die Musiker in allen drei Aufnahmen abfeiern“.
Kaputtspielen“ (ein Begriff, den Brötzmann gegenüber der „Zeit“ fälschlicherweise dem ewig schuldigen Joachim Ernst Berendt in den Mund legt; die Autorenschaft gebührt seinem Nachbarn in der Luisenstraße 116,  Peter Kowald) erwies sich dafür als ein Begriff von sehr kurzer Halbwertzeit.
Brötzmann war als Holzbläser Autodidakt. Er hat mit vielen Regeln und Routinen gebrochen, um sich Gehör zu verschaffen; "weil ich keinen Lehrer hatte, habe ich alle Fehler gemacht, die man dabei machen kann. Daraus hat sich mein Stil ergeben." Er hat, wie der Jazzpublizist Manfred Miller (1943-2021), der früh dafür eine Sprache gefunden hat, betont, alles „dem Klang“ untergeordnet.
Aus seiner Geringschätzung der heutigen Jazzausbildung, die er auch, als er längst schon ein Klassiker war, nicht verhehlen mochte, spricht vielleicht auch der ungeheuere Aufwand, dessen es bedurfte, so lange gegen den Strom zu schwimmen. Immer das Verdikt im Nacken, auch und erst recht von Kollegen; „der kann ja gar nicht spielen“.
Brötzmann ist ein großer Stilist geworden, ein Klassiker des europäischen, des deutschen FreeJazz (so diffus auch hier sein Bezug zum Begriff war).
Er hat auf seine spezifische Art das ästhetische credo der Gattung eingelöst; er hat unhintergehbar ihren Gipfel erreicht, das Ziel mit der Aufschrift, (wie es bei Wolfram Knauer zum Buchtitel geworden ist): „Play yourself, man!
Er hat sich selbst gespielt.
Ob er so, wie wir ihn gehört & gesehen haben (auf keinen Fall zu vergessen den bemerkenswerten Bildenden Künstler Brötzmann!), auch wirklich war - es spielt für die Rezeption seiner Künste keine Rolle.
Brotzmann TummersAber, was wird nun aus „Sounds like Whoopataal“?
Im Tal selbst trat er nur noch selten auf;  im „ort“,  wo in sehr weitläufiger Erinnerung an Peter Kowald (1944-2002) gespielt wird, jüngst auch ein Abend in memoriam Hans Reichel (1949-2011), war er nie - obwohl er wirklich nur um die Ecke hätte gehen müssen.
Wolfgang Schmidtke, ein Vertrauter und Kollege der letzten Jahre, der etliches kann, was Brötzmann konnte, sieht sich nicht als „keeper of the flame“.
Im Gegensatz zu dem lange vergriffenen Buch gleichen Titels liegen die „Sounds like Whoopataal“ vor allem dank Brötzmann in einem immensen, international vernetzten Audio-Katalog vor. Sie werden so schnell nicht verklingen.
Schade, dass Manfred Miller die aktuelle, die vielleicht größte Volte in seiner Laufbahn nicht mehr miterleben konnte. Miller, seinerzeit Hilfsredakteur der Deutschen Welle, ermöglichte „for Adolphe Sax“ (1967) und ein Jahr später „Machine Gun“ als Co-Produzent und legte sich für Brötzmann in der legendären TV-Sendung „Pop Jazz vs Free Jazz“ ( April 1967) so eloquent ins Zeug wie kaum jemand danach.
Man hätte zu gerne seine Reaktion erfahren auf die Nachricht, dass sein Protagonist im Jahre 2023 eines seiner letzten Alben (Brötzmann, Bekkas, Drake „Catching Ghosts“, Live at Jazzfest Berlin 2002) ausgerechnet auf ACT, dem Label seines Gegners aus jener Sendung, Siggi Loch, herausbringt.
Vermutlich würde er schnell durchschauen, dass Brötzmann dort - ähnlich Miles Davis, der auf „Tutu“ (1986) nur noch Gast bei sich selbst war - bei einer Rhythmusgruppe gastiert, die ihm einen präzisen, aber weit ausdeutbaren Teppich unterlegt. Ihm, dem großen Stilisten. Der sich darauf entfalten kann.
Die Herkunft der Stücke lautet „Gnaoua traditional“. Die Berber-Strukturen Marokkos transportieren „Sounds like Whoopataal“.

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Peter Brötzmann,
geboren am 6. März 1942 in Remscheid,
starb am 22. Juni 2023 in Wuppertal.
Er wurde 82 Jahre alt.
Er hinterlässt zwei Kinder in Berlin,
Caspar und Wendela.

 

 

 

Fotos: Karl-Heinz Krauskopf, Peter Tümmers
erstellt: 23.06.23, ergänzt: 01.07.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

 

Pete Brown, 1940 - 2023

Drei Erinnerungen aus den frühen siebzigern: der living room seiner Wohnung, hochoben in einem Mehrparteienhaus am Montagu Square, London W1H, in der Nähe des Marble Arch.
Die Adresse verdankten wir Winfried Trenkler. Der Raum war so opulent psychedelisch ausgemalt wie von ihm beschrieben.
Der Mann, der auf Bühnenfotos grimmig mit der Klobürste droht - alles Maskerade, ein humorvoller Mann, ein Unterhalter erster Güte. Er kramt ein Tonband heraus, spult ein und lässt raten, wen wir da - mit ihm!, der doch in etablierten Jazzkreisen über kein Renommee verfügt - hören.
„John McLaughlin?“ - „You´re right!“
Wir hatten den Elchtest bestanden.
John McLaughlin, damals talk of the day, der britische Eingeweihte als Re-Import unter der Marke Mahavishnu erstaunte - er kannte ihn als nächtlichen Sessionplayer. Hatte selbst erlebt, wie der Schüler von Sri Chinmoy wenige Jahre zuvor in Soho besoffen von der Bühne gefallen war. Es war ein Mitschnitt von Browns First Real Poetry Band, den er abgespielt hatte.
Der Gitarrist, immerhin, hat ihm mit „Pete the Poet“ auf seinem Album „Extrapolation“ (1969) ein akustisches Denkmal gesetzt.
Und dann Ian Carr (1933-2009). Sein sarkastischer Satz über ihn:
„He doesn´t play the trumpet - he just holds it“.
Als Trompeter durfte er das sagen. Schlimmstenfalls eine klitzekleine Abwertung steckte darin, denn Pete Brown schrieb damals schon ein halbes Dutzend Jahre (von insgesamt fünf Jahrzehnten) für Jack Bruce. Und Jack Bruce (1943-2014), das war für Ian Carr einer der gebildetsten Musiker schlechthin. Wer mit ihm arbeitet, kann per definitionem nicht schlecht sein.
Pete Brown1972 wohl, in Köln. Pete Brown & Piblokto! spielen in einem Kino am Ring, schon damals eine seltene location. Stunden zuvor wird das Equipment der Bluesrock-Band, inklusive Hammond B3, in einen Aufzug im WDR-Funkhaus gehievt. Live-Auftritt im WDR2 Mittagsmagazin.
Der wenig (dieser) Musik-kundige Moderator spricht routiniert-freundlich mit dem Mann, der ihm äußerlich wohl wie eine britische Kopie von Fritz Teufel (ohne Brille!) vorgekommen sein mag. Vermutlich hat er auch nach Cream gefragt.
Damit begann der erfolglose Lyriker Geld zu verdienen, 1966 mit Cream.
„In the white room with black curtains near the station“, den er 1968 in dem Song „White Room“ (für das Doppelalbum „Wheels of Fire“) beschreibt, begann seine Rettung, seine Loslösung von Drogen & Alkohol.
Das kleinere Schlüsselerlebnis vor Cream fand am 11. Juni 1965 in der Royal Albert Hall statt, eine International Poetry Incarnation mit Michael Horowitz, Allen Ginsberg, Lawrence Ferlinghetti, auf der auch er seine Poems vortragen durfte.
Der Cream-Ruf kam von Ginger Baker, aber viel besser hat er sich nach kurzem Kuddelmuddel mit Jack Bruce verstanden. Das Trio hatte Musik - aber keine lyrics.
Und er lieferte sie, one by one, „I feel Free“, „Sunshine of your Love“, „Politician“, „As you said“ und mehr. Und dann für Jack Bruce, ab „Songs for a Taylor“ (1969) mit der Ausnahme von „Things we like“ - alles bis „Silver Rails“ (2014).
Lange Jahre arbeitete er zusammen mit dem Keyboadspieler Phil Ryan. Nach dessen Tod zog er 2016 nach Hastings, an die britische Kanalküste.
Ein Reporter des Guardian traf ihn im April in der Nähe, in einem Studio in Eastbourne bei den Aufnahmen für ein neues Album „Shadow Club“, das im Oktober veröffentlicht werden soll. An seiner Seite: Malcolm Bruce, der gleichfalls Baßgitarre spielende Sohn von Jack Bruce.
„Shadow Club“ soll sich nostalgisch den Clubs und dem Rhythm & Blues-Boom der 60er Jahre zuwenden, der Zeit seines Aufbruchs.
Brown hatte Bruce bei dessen letztem Album „Silver Rails“ (2014) letztmalig assistiert, nun war es an Malcolm, Brown diesen letzten Dienst zu erweisen.
Um eigene Songs nicht nur zu texten, sondern auch zu komponieren, hat er für „Shadow Club“ mit 75 noch mit dem Klavierspielen begonnen, unterrichtet und unterstützt vom Produzenten John Donaldson.
Peter Ronald „Pete“ Brown, geboren am 25. Dezember 1940 in Ashtead/Surrey, starb an einer Krebserkrankung am 19. Mai 2023 zu Hause in Hastings. Er wurde 82 Jahre alt.

erstellt: 28.05.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Günther Kieser, 1930-2023

Geht es um Jazzplakate, so stechen im deutschsprachigen Raum zwei Namen hervor: Nikolaus Troxler, 75, aus Willisau/CH, und Günther Kieser.
Kieser Plakat ColtraneDer Schweizer ist als langjähriger Chef des Willisau Festivals der Musik näher und länger verbunden, Kieser ist, aufgrund seines Lebensalters, der frühere. Schon Ende der 40er Jahre begann er mit Plakaten und LP-Covers.
Beide eint ein geradezu exorbitantes Talent, für musikalische Phänome visuelle Ausdrücke zu finden.
Beide haben es damit bis in das Museum of Modern Art in New York City geschafft.
Beide haben auch nicht-musikalischen Sujets gedient; aus dem Atelier Michel & Kieser stammen beispielsweise Entwürfe für Briefmarken Ende der 50er Jahre.
Kiesers Stil war nicht nur, aber auch von dreidimensionalen Objekten geprägt, die er für seine Jazzplakate herstellte.
Von 1981 bis 1992 lehrte er Visuelle Kommunikation an der Bergischen Universität Wuppertal (als Nachfolger von Willi Fleckhaus).
Kieser Jazzfestival 26Karl Georg Günther Kieser, geboren am 24. März 1930 in Kronberg/Taunus, starb, wie erst jetzt bekannt wurde, am 22. März in Offenbach, zwei Tage vor seinem 93. Geburtstag.
Es wäre der Wunsch vieler, wenn das Klingspor-Museum in der Stadt, in der er viele Jahre wohnte, nach 2010 eine weitere Ausstellung ihm widmete, am besten eine umfassende Schau seiner Jazz-Arbeiten.

erstellt: 24.05.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Detlef Schönenberg, 1944-2022

Detlef SchonenbergEs ist der 6. Mai 1982, sein 38. Geburtstag.
Musikhochschule Wuppertal. Vater und Mutter sitzen auf Ehrenplätzen.
Drei Jahre zuvor hat er den Von-der-Heydt-Förderpreis bekommen, er will der Stadt etwas zurückgeben.
Bei der Gelegenheit will er der einschlägigen Gemeinde eine Errungenschaft vorstellen, das von Hans-Peter Wagner für ihn neu entworfene drum set (mit satt-tönenden toms; wenn wir uns recht erinnern, Farbe gelb).
Es stellt das Klangliche deutlicher heraus. Klang interessierte ihn mehr als das Rhythmische; ihn, der jeder Tradition fernstand und nur umständehalber dem FreeJazz zugeordnet wurde. Er besetzte eine eigene Insel im Meer der Wuppertaler Möglichkeiten.
Das Konzert blieb wegen eines ganz bestimmten Obertones in Erinnerung: der Künstler lud anschließend in die benachbarte Bärenschenke ein, Erbsensuppe für alle. Seitdem firmiert es unter „Erbsensuppenkonzert“.
Was auf der Bühne künstlerseitig wirklich ablief, sickerte erst nach und nach durch. Schönenberg wird dazu ausführlich in „sounds like whoopataal“ (2006) zitiert:
„Bei diesem Konzert passierte das Entscheidende für mich. Ich habe die Stöcke in die Hand genommen, die Arme fallen lassen, und es spielte. Es war wie ein Film, der vor mir ablief. (…) In dem Moment geschah etwas. Ich kann es nur so beschreiben, dass da ein Lichtblitz war. Ich stand unter Strom, und alles war hell und klar."
Gibt es eine treffendere Umschreibung des viel beschworenen flow?
Schönenberg wäre damit der idealtypische Repräsentant jener Haltung, die die britischen Forscher Raymond MacDonald und Graeme Wilson als „mystery repertoire“ beschreiben; diese Haltung „betont die unaussprechlichen, seelenvollen oder esoterischen Merkmale der Improvisation, ihre instinktiven, unkontrollierten Qualitäten“ (in „The Art of Becoming“, Oxford, 2020).
Die finale Konsequenz dieses Glückszustandes blieb den Verköstigten seinerzeit in Wuppertal zunächst verborgen, sie lautete:
„Zu dem Zeitpunkt habe ich aufgehört zu spielen.“
Das war, mit leichtem Zeitverzug, wortwörtlich zu nehmen:
„Es hatte den Charakter eines religiösen Erlebnisses, einer Erleuchtung. In meinem Fall war es die Musik, die das ausgelöst hat. Mir wurde klar, dass ich den Weg der Musik gewählt hatte, um zum Kern der Dinge vordringen zu können.
Von da an war es für mich nicht mehr notwendig, diesen Weg zu gehen, von da an war es notwendig herauszufinden, wie ich damit leben sollte. Dies wurde die nächste Etappe in meinem Leben. Ich musste nicht mehr die Stöcke in die Hand nehmen, um zu überleben. Ich war woanders angekommen, und das war es eigentlich, worauf ich die ganze Zeit hingesteuert hatte, ohne es zu wissen.“
Schonenberg HonnefSchönenberg wandte sich diversen esoterischen Unternehmungen zu, zuletzt lange Jahre in Bad Honnef, wo er einschlägige Seminare gab („Über das Höhere Selbst“). Was er auf seiner Webseite transformationjetzt
 unter „Meine Musik“ anbietet, verschwimmt im Einheitssound jener Gattung und verrät nicht mal mehr in Spurenelementen das, was ihn in seinen Wuppertaler Jahren ausgezeichnet hat.
Über Bochum (kurz auch Paris, wo er auf Don Cherry und Karl Berger traf) war er 1970 in die Stadt gekommen, angezogen von dem Kreis um Peter Brötzmann und Peter Kowald - ohne damit eng zu verwachsen. Sein Hauptpartner wurde der Oldenburger Posaunist und Bassist Günter Christmann. 1973 und 1975 spielten beide mit Pina Bausch (1940-2009), die damals noch selber tanzte.
1975 das wohl beste Album des Duos zusammen mit dem Synthesizerspieler aus der Neuen Musik, Harald Bojé (1934-1999), „Remarks“.
Zeitweilig unterrichtete er an der Musikhochschule Wuppertal. Er war ein Stilist, ein Klangmaler, kein timekeeper, ein perkussiver Erzähler.
So war er auch im Gespräch: eigensinnig, aber zugänglich, gewinnend, dialogfest.
Detlef Schönenberg, geboren am 06.05.1944 in Berlin, aufgewachsen in Bochum, ist - wie erst jetzt bekannt wurde - am 17. Dezember 2022 an den Folgen eines Schlaganfalls in einem Krankenhaus in Bonn gestorben. An seinem 79. Geburtstag wurde er flussbestattet im Rhein, in den Niederlanden.

erstellt: 07.05.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Deutscher Jazzpreis 2023

Wer die Kundgabe des Deutschen Jazzpreises verfolgt, tut gut daran, sich anzuschnallen und eine Sitzhaltung einzunehmen, als befände er sich auf einer Achterbahn.
Elias StemesederDie Fahrt (Achtung Metapher) schießt auf Höhen (wie zum Beispiel bei der Auszeichnung von Elias Stemeseder in der Kategorie „Piano/Keyboards“) - und stürzt so jäh in die Tiefe, dass man wieder aussteigen möchte.
Nämlich, als die deutsche „Band des Jahres“, die Insomnia Brass Band aus Berlin, aufgerufen wird.
Wer die Begründung der Jury dazu hört, vorgetragen auf großer Bühne bei der jazzahead in Bremen, der hätte bis vor kurzem gedacht: macht jetzt auch „Titanic“ irgendwas mit Jazz?
Im Jahr 2023 kann man nicht anders, als Chat GPT dahinter zu vermuten. Und diese Text KI-ist bekanntlich „nicht wahrheitsfähig“.
Nun ist bekannt, dass Jury-Prosa nicht von jedem Jurymitglied mitformuliert wird (in der 16-köpfigen Hauptjury saßen immerhin u.a. Jean-Paul Bourelly, Nate Chinen, Aaron Parks, Angelika Niescier).
Es ist aber ein Rätsel, warum sie das an Groove & Intonation scheiternde Insomnia Trio z.B. dem Julia Hülsmann Quartett vorgezogen haben. Und hoffentlich sind sie ordentlich zusammengezuckt, als dann auf der Bühne ein Sprecher ihnen ihr eigenes Votum vorliest:
„Die Jury konnte kaum glauben, dass sie es lediglich mit einem Trio zu tun hat, denn Schlichting, Lucks und Marien klingen wie eine komplette Brass Band - wenn sie deren Energielevel nicht sogar übertreffen“.
Das ist ungelenk, hier mag man noch lächeln. Aber nahezu schamlos tönte die Begründung der Jury für den Sonderpreis an die Queer Cheer – Community for “Jazz” and Improvised Music.
Die Berechtigung dieses Projektes steht nicht in Frage (obwohl man darüber selbst wenig erfuhr, und Max Mutzke als Moderator gerade hier überfordert war).
Im Metropoltheater Bremen aber schien in der gegenwärtigen geo-politischen Lage für einen Moment der Sinn für Proportionen abhanden gekommen zu sein:
„Die Preisträger:innen für den Sonderpreis der Jury lösen genau dieses Versprechen ein: Jazz als Freiheitsversprechen. Als revolutionäre Kraft, die bestehende Ordnung in Frage stellt und im Zweifelsfall hinwegfegt.“
Im Zweifelsfall müsste eine solche Aussage, wäre sie denn ernst zu nehmen, zu einer Einladung nächsten Donnerstag bei „Maybritt Illner“ führen und Queer Cheer dort den Platz der Letzten Generation einnehmen.
Nicht selten hatte man den Eindruck, als handele es sich bei diesem komischen Ding „Jazz“ nicht um eine Kunstform, die hierzulande z.B. an 18 Hochschulen gelehrt wird, sondern um ein sozial-pädagogisches Projekt.
Den Ton setzte die Staatsministerin für Kultur, Claudia Roth, in einem Gruß-Video:
„Jazz ist bis heute eine Musik, die den Unterdrückten und Marginalisierten der Gesellschaft eine Stimme, einen unverwechselbaren Sound verleiht. Louis Armstrong, Billie Holiday, Nina Simone, Archie Shepp. Das sind nur einige der wirklich ganz großen Namen, die einem dabei einfallen, dabei einfallen müssen.“
(jazzahead-Rückkehrer berichten von einer weiteren KI-Leistung, die den Betrachtern im Internet verborgen blieb. Demnach hat im Saal eine Translation-app in der Rede von Roth nicht Louis, sondern Neil Armstrong gehört - und geschrieben. Die größte Gaudi hatten die Anwesenden mit dem Schriftzug, der "all die..." ins Englische übertragen sollte - und statt "all the" ... "ALDI" an die Wand warf.)
Der Deutsche Jazzpreis (nicht Roth hat ihn gegründet, wie Mutzke sagt, sondern deren Vorgängerin Monika Grütters) hat den Jazz Echo abgelöst, das ist nicht ganz schlecht. Jede Auszeichnung in den 31 Kategorien ist mit 10.000 Euro dotiert.
Für manche Kategorien kann man sich bewerben, für andere nicht. Man hört von renommierten Kandidaten, die dies nicht tun. Ihre Anzahl wird nach diesem Jahrgang zunehmen.
Manche Konkurrenzen waren diesmal hoch-karätig, insbesondere in der Kategorie 4 „Piano/Keyboards“: Elias Stemeseder, Marlies Debacker, Simon Nabatov), andere mäßig; z.B. Kategorie 5 „Gitarre“. Dass sich hier ein „Klassiker“ wie Kurt Rosenwinkel gegen Keisuke Matsuno und Peter Meyer durchsetzte, ist keine Überraschung.
In „Saiteninstrumente“, wie die Kategorie in ihrer internationalen Form heisst: Jeff Parker gegen Sam Gendel und Tomeika Reid, naja.
Kurios „Schlagzeug/Perkussion International“: ist hier das Feld mit Makaya McCraven, Sun-Mi Hong und Terri Lyne Carrington auch nur ansatzweise repräsentativ dargestellt?
Den größten Reibach machten die Kölner:
Loft (Spielstätte des Jahres - zum zweiten Mal. Und es wird die erste sein, die dichtmacht, sollten die Vorschläge des Deutschen Musikrates zu Honoraruntergrenzen „Gesetz“ werden), Matthias Schriefl (Blechblasinstrumente National), Heidi Bayer (Komposition des Jahres), Luah (Vocal Album des Jahres) sowie Cologne Jazzweek (Festival des Jahres).
Letzeres kann man als einen Wink für die Spielstätte der Verleihungen der Deutschen Jazzpreise 2024/25 lesen. Sie werden in Köln stattfinden.
Ob das die helle Freude wird, muss sich zeigen.
Kolner in Bremen   1                                                                                                                                Kölner (darunter 1 Düsseldorfer) in Bremen: Alle mal "Dooom" sagen!

Die vollständige Liste der Preisträger

erstellt: 28.04.23 (ergänzt 29.04.23)
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Rolf & Joachim und Queer Cheer

Nachdem die dpa vorgeprescht und der geplanten Promotion-Kutsche auf der jazzahead das Zugpferd ausgespannt hat, zieht die eigentliche Institution nun nach:
Rolf und Joachim Kuhnder Preis für das Lebenswerk innerhalb des Deutschen Jazzpreises 2023, so wurde inzwischen auch offiziell mitgeteilt, geht - kurzer snaredrum-Wirbel - an Rolf & Joachim Kühn.
Die Auszeichnung ist so einsichtig & nachvollziehbar wie selten was in unserer kleinen Welt.
Dass Rolf (1929-2022) geehrt wird, mag zudem wie ein kleiner Ausgleich dafür erscheinen, dass er die Anwartschaft auf den renommierteren Albert Mangelsdorff Preis nicht überlebt hat (ein Philip Roth des Deutschen Jazz, so to speak).
Die Begründung für die Wahl freilich, ergangen „nach regen und emotionalem Austausch“, ist einer gesonderten Betrachtung wert; sie belegt das Elend deutscher Jazz-Jury-Prosa in herausgehobener Weise.
Selbst ChatGPT hätte vermutlich starke Vektoren für den Gedanken ermittelt, was die jeweilige Qualität der Brüder Kühn vor allen anderen Eigenschaften ausmacht:
ihre instrumentale Meisterschaft.
Von „Handwerk“ ist in dem Jurytext nirgends die Rede, schon gar nicht von dessen Voraussetzungen, sondern von Tugenden, wie sie auf hunderte andere auch zutreffen, Tugenden zum Beispiel wie „musikalische Neugier und Lust, neue Wege zu gehen“.
Der Sonderpreis des Deutschen Jazzpreises 2023 gilt keiner bekannten, im Falle Kühn & Kühn sogar kanonischen Leistung, sondern vergibt Vorschußlorbeeren für Queer Cheer – Community for “Jazz” and Improvised Music.
„Auch wenn das Kollektiv noch am Anfang steht“, will die Hauptjury nach einem knappen Jahr schon „seine bisherige, bedeutende Arbeit mit dieser Auszeichnung feiern“.
Der Initiative gehört u.a. die Pianist Julia Kadel an. Sie hat sich viel vorgenommen, sie will sich mit „Themen wie Diversität, Intersektionalität, Multiperspektivität und Interdisziplinarität auseinandersetzen“.
Die aktivistische Agenda, die sie dabei leitet, findet sich am deutlichsten ausformuliert auf der Webseite der Pianistin.
Zu den Gegnern gehören die großen -ismen: Rassimus (düften die, die ihn nicht erfahren haben, am ehesten nachvollziehen; wo „auf nationalen (Jazz) Bühnen und generell im Musikbusiness“ wäre interessant zu wissen), dann Ableismus, Klassismus und Ageism.
Näheres dürfte ein Round Table am 27.04. um 15.15 Uhr auf der jazzahead vermitteln, zu der eine online-Anmeldung nötig ist.

erstellt: 18.04.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Ahmad Jamal, 1930-2023

Ahmad Jamal KKSein Name ging selten einher ohne lobende Erwähnung derer, die sich auf ihn beriefen.
Und das waren nicht die Geringsten: Herbie Hancock (der ihn allerdings in seiner Autobiografie unerwähnt lässt) oder Keith Jarrett:
„Ahmad Jamal war der avancierteste unter den frühen Leuten (Pianisten), die ich gehört habe“.
Allen voran Miles Davis: „Alle meine Inspiration kommt von Ahmad Jamal“.
Der Pianist Hal Galper konnte als noch toppen:
„Ahmad Jamal hat den Jazz ebenso stark beeinflusst wie Louis, Duke, Bird, Coltrane und Miles. Sicher, Miles hat ihn von Zeit zu Zeit gelobt, aber Ahmads wichtigste Beiträge müssen erst noch anerkannt werden.“
In einem Interview auf seiner Homepage (2000) liefert er, zumindest für Miles Davis und John Coltrane, eine Begründung.
In Jamals „Pavanne“ (1955) findet Galper einen ähnlich vamp über D und Es wie bei Miles Davis´ „So What“ dreineinhalb Jahr später. Mehrere Töne im Gitarrensolo von Ray Crawford im selben Stück sind die gleichen wie sechs Jahre später bei John Coltranes „Impressions“.
Jamal begann früh auf dem Piano - und nicht nur in einem Stil:
„Wir haben nicht zwischen den beiden Schulen getrennt. Wir haben Bach und Ellington, Mozart und Art Tatum studiert. Wenn du im Alter von 3 Jahren anfängst, spielst du das, was du hörst“.
Er hat kein Konservatorium besucht, er hatte eine Privatlehrerin.
Mit 20 zieht er von Pittsburgh nach Chicago, konvertiert dort zum Islam, ändert demzufolge seinen Namen. Und gründet mit The Three Strings ein Schlagzeug-loses Trio.
Sein berühmtestes Album jener Jahre wird „Live at the Pershing: But not for me“ (1958), nun aber in klassischer Triobesetzung.
Und man muss sich nur sein timing, sein Faible für Wiederholungen im Titelstück anhören, um deren Faszination sogleich zu erliegen.
In späteren Jahren spielte er auch Elektro-Piano, unterlegte seine Piano-Figuren mit funk Beats („Rossiter Road“, 1986), in Partikeln tauchten sie auf in Dutzenden Rap-Songs.
Clint Eastwood nahm zwei tracks aus dem „Pershing“-Album für den Soundtrack für „Die Brücken am Fluß“ (1995).
Er war dreimal verheiratet (das erste Mal mit 17).
1994 wurde er mit dem NEA Jazz Masters (25.000 Dollar) ausgezeichnet.
Ahmad Jamal, geboren als Frederick Russell Jones am 2. Juli 1930 in Pittsburgh, starb an Prostatakrebs am 16. April 2023 zu Hause in Ashley Falls/Mass. Er wurde 92 Jahre alt.

PS (26.04.23) Für alle, die Näheres wissen wollen, bietet Ethan Iverson in seinem blog Transitional Technology zwei bemerkenswerte Handreichungen:
- eine eigene Analyse. Demnach wird in den ersten Sekunden von "But not for me" die Geschichte des Jazzpiano-Trios neu geschrieben.
- einen link zu einer Dissertation von Michael Paul Mackey, University of Pittsburgh, 2017


Foto: Brian McMillen (1980), Wikipedia
erstellt: 17.04.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten

Karl Berger, 1935-2023

Als die Nachricht kam, als erstes mal „Where Fortune smiles“ aufgelegt.
Wo John Surman, John McLaughlin, Dave Holland, Stu Martin die Tür zum FreeJazz aus den Angeln hebeln.
Mitten in diesem Sturm: ein Vibraphonist namens Karl Berger, ein deutscher Musiker zumal, uns Jazzrock-Fans damals kaum vertraut. Wie er da mithält, mit lediglich zwei Klöppeln, wo doch Gary Burton die Viererkette schon etabliert hatte - es lag nicht nur am durchdringenden Charakter des Obertonreichtums des Instrumentes, das Berger später gerne betont hat.
Das war im Mai 1970, in den Apostologic Studios zu NYC. Noch unveröffentlicht war parallel sein Mitwirken an „Escalator over the Hill“, 1968-71.
Immerhin lebte er schon ein fast ein halbes Dutzend Jahre in den USA, bestens vernetzt von Don Cherry bis Lee Konitz.
Karl Berger   1Er kommt aber - und hier werden amerikanische Augen & Ohren hellwach - aus Heidelberg, zumindest in den 50er/60ern nur vermeintlich deutsche Jazz-Provinz.
Berger begann als Hauspianist im „Cave 54“ (ein gewisser Fritz Rau debütierte dort als Kassenwart), auf diesem Posten gefolgt von Jutta Hipp.
Der „Verein zur Förderung und Pflege studentischer Geselligkeit“ war Katalysator verschiedener US-Kulturen: etliche GIs waren im Umland stationiert, sie trafen hier auf durchreisende Landsleute wie Louis Armstrong, Dizzy Gillespie, Oscar Peterson etc., örtliche Jazzkräfte begleiteten sie; es sollen aber auch Autoren wie James Baldwin und Thorton Wilder dort gelesen haben.
Berger hat nicht in seiner Heimatstadt studiert, sondern Musikwissenschaft und Soziologie an der FU Berlin. Dort wurde er 1963 promoviert mit der Arbeit „Die Funktionsbestimmung der Musik in der Sowjetideologie“.
Ein berühmter Jazz-Gegner namens Theodor W. Adorno soll Gefallen daran gefunden und ihn als PostDoc nach Frankfurt geholt haben; er erhoffte sich eine Fortsetzung der Arbeit in Richtung „Unterhaltungsmusik“. Vergeblich. In ihrem Nachruf trauert die FAZ der entgangenen Auseinandersetzung der beiden auseinanderstrebenden Kräfte nach.
Denn Berger war - trotz gegenteiliger Eindrücke - kein Freund der Theorie(n), sondern ein Mann der Tat. Ihn zog es geradezu magisch zu Don Cherry,  zunächst 1964 in Paris. 1966 folgte er ihm nach New York.
Noch früher als Gunter Hampel avancierte er zum größten Transatlantiker des deutschen Jazz.
Zwar hielt er von 1994 bis 2003 eine Professur an der nicht eben erfolgreichen Jazzabteilung der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst.
Weitaus bedeutender, ja durchaus legendär in der Reichweite gestaltete sich sein jazz- und musik-pädagogisches Wirken in den USA, nach der Creative Music Foundation 1971 mit Ornette Coleman, allem voran im Creative Music Studio in Woodstock, 1973 zusammen mit seiner (deutschen) Ehefrau, der Sängerin Ingrid Sertso.
Berger SertsoWer dort gelernt, wer dort gelehrt hat (und dies bis heute), von John Cage bis George Russell - man kommt aus dem Staunen nicht heraus. „Wenn ich noch mal Studentin wäre, dann am liebsten mit Karl“, sagt zum Beispiel Carla Bley.
Sie sagt das in der Doku „Music Mind“ (2018) von Julian Benedikt und Axel Kroell, die die ARD Mediathek dankenswerterweise vorhält.
Wenn man darin Jack DeJohnette auf seiner Veranda sieht, das Staunen von Marilyn Crispell über ihre Wahlheimat hört oder eine junge Saxophonistin am Fluss; wenn die Kamera über die bewaldeten Hügel in Upstate New York streift; wenn die unterschiedlichsten Charaktere zu ihren Instrumenten greifen (oder auch nicht. Berger propagiert geradezu das instrumentale Schweigen, Haiku-Improvisation ist seine Wortschöpfung) - man könnte neidisch werden auf dieses Gelobte Land der Kreativität. Und der Menschenfreude.
Musik war für Berger eine Heilkraft. „Sie leistet einen Beitrag dafür, dass es die Welt überhaupt noch gibt“ (1992 in einem Interview mit dem „Mannheimer Morgen“). „In Afrika gab es Stämme, in denen der Musiker und der Medizinmann ein und dieselbe Person waren. Ich fühle mich in dieser Tradition.“
Nicht alles, was er sagt, ist unbedingt zum Nennwert zu nehmen „Music Mind ist eigentlich unser Naturzustand, so sind wir natürlich“.
Es ist eine, es ist seine poetische Umschreibung dessen, was die Evolutionstheorie als die social bonding function von Musik beschreibt. Er hasste den Terminus „Weltmusik“ - und war doch einer ihrer überzeugendsten Praktiker. Als genre-übergreifender Musikpädagoge.
Unter seinen zahllosen Aufnahmen (auf die hier nicht näher eingegangen wird) entstand seine letzte im April 2022: „Heart is a Melody“, eine Zusammenarbeit mit dem Kornettisten Kirk Knuffke.
Karlhanns „Karl“ Berger, geboren am 30. März 1935 in Heidelberg, starb am 9. April 2023 in einem Krankenhaus in Albany/NY, wie der New Yorker Verlag Hudson Valley am 10. April mitteilt. Er wurde 88 Jahre alt.

erstellt: 11.04.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten