Ganz zum Schluß (pardon noch mal) ist der Jazzpolizei dann doch der Kragen geplatzt:
es mag ja angehen, dass der Jubilar und Gegenstand der Veranstaltung seine (Jazz)Weltsicht kundtut. Demnach taugt die heutige akademische Jazzmusiker-Ausbildung wenig.
Das ist kaum verwunderlich, schließlich lebt er seit Jahrzehnten davon & damit, dass er ohne zu internationalem Status gelangt ist.
Die jungen Leute wüssten einfach nicht, worum es wirklich geht.
Kann man einem alten weißen Mann von gefeierten 80 Jahren durchgehen lassen.
Auch dass niemand sich berufen fühlt zu sagen „Peter, bitte…“, mag noch mit "Respekt" zu erklären sein.
Was aber nicht geht, ist, dass ein gleichfalls älterer weißer Mann (der bei öffentlicher Rede nie vergisst zu erwähnen, er habe Kraftwerk mitgegründet) aufspringt und in dasselbe Horn tutet: er habe es selbst erlebt: die jungen Leute könnten zwar irrsinnig gut spielen, hätten aber keine Ahnung von ihrem Tun.
Da zuvor auch das Fördersystem des Jazz, insbesondere in Norwegen, mit einem Kreativität vertilgenden Unwesen verwechselt zu werden drohte, sah sich die Jazzpolizei bemüßigt zu fragen, ob man sich hier auf einem Kongreß der Jungen Liberalen befinde.
Das „Modell Brötzmann“, gut & schön, es lohnt sich, seine Komponenten zu beschreiben. Aber es reduziert sich auf eine Privatästhetik, wenn man trunken vor Ehrfurcht & Begeisterung meint, mit seiner Hilfe irgendeine allgemeine Aussage über den Jazz gestern, heute und morgen sich erlauben zu können.
Schon die „Wut“, der der Jubilar seine Antriebskraft zu verdanken meint, bleibt im Modell selbst rätselhaft.
Sie hält nun schon über ein halbes Dutzend Jahrzehnte an, und Brötzmann selbst vermochte kaum zu erklären, warum sie auch noch auf seiner Balladenplatte „I surrender, dear“ (2018) wirkt.
Überhaupt blieb der „akustische“ Brötzmann seltsam unterbelichtet bei Free Music/Art Production: Kunst, Musik und Peter Brötzmann im Von-der-Heydt-Museum Wuppertal.
Obschon organisiert von von Kunsthistorikern der Universität Düsseldorf, lag der Grund nicht in einer Schlagseite der Referate.
Zumindest ließ sich offenkundig über den visuellen Künstler Brötzmann viel eindrücklicher sprechen als über den Saxophonisten. Vielleicht weil man ihn so gut zeigen kann.
Zwar kennt die Jazzpolizei durchaus die Covergestaltungen von Peter Brötzmann (von denen eine, „Nipples“, es unter unguten Umständen sogar bis in die Tonight Show brachte) sowie seine typische Typographie.
Aber der große Rest, den Sarah Czirr im „künstlerischen Werk von Peter Brötzmann“ zum Vorschein brachte - Respekt.
Und, ja, Begeisterung.
Zu beschreiben, wie er die beiden Welten in sich austariert, hier war der Jubilar at his best.
Der Fragesteller verlässt seinen Platz. Und notiert die Antwort von Peter Brötzmann.
Nicht ganz schlecht (Marcel Reif) auch die Szene, als Brötzmann vorher bereits im Publikum saß, unbemerkt von einem Fragesteller, gleich vor ihm, der nach ganz vorn, an einen Referenten, die Frage richtete, wie es sich denn mit dem Treffen von Brötzmann mit Hans-Joachim Hespos so verhalten habe.
Hespos hatte für Brötzmann 1968 einen Solopart in einem Stück Kammermusik notiert.
Kaum war die Frage in Wuppertal verhallt, dröhnte zur Verblüffung des Fragestellers gleich hinter ihm die Antwort: das Objekt der Frage verwandelte sich in das Subjekt.
Wie Brötzmann, des Notenlesens (mit Stolz) unkundig, erzählt, dass er an der Partitur sich abmüht, dann erkennt, dass dort „mein eigener Scheiß“ steht, nämlich fein-säuberlich transkribiert, den er natürlich besser ohne solche Umwege inszenieren kann - da bricht in ihm der große Anekdotenerzähler durch.
Dass Hespos seinerzeit für die Plattenaufnahme Karl-Heinz Wiberny bevorzugte, muss man woanders nachlesen.
erstellt: 26.10.21
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