FRÉDÉRIC DÖHL Jazz 1959

Frédéric Döhl
Jazz 1959
Kleine und große Geschichten aus einem goldenen Jahr
 300 S., Transcript Verlag, 2024  
print 45 €

ISBN: 978-3-8376-5816-3

pdf-download, kostenlos

ISBN: 978-3-8394-5816-7

Wann hat es das je gegeben?
Zwei deutschsprachige Bücher zu einem scheinbar eng umrissenen Thema:
Jazz 1959.
Zwei Bücher binnen weniger Monate.
Zwei Bücher über einen winzigen Teil der Jazzhistorie, dessen Bedeutung demzufolge größer sein muss als sein Eintrag auf dem Zeitstrahl.
Zwei Bücher mit einer großen Schnittmenge (oder vielleicht auch einem gemeinsamen Nenner), die von der Machart kaum unterschiedlicher sein könnten.
Zwei Bücher, die sich - sehr grob betrachtet - als komplementär ausnehmen.
Thomas Bugert legt eine überarbeitete Masterarbeit an der Universität Gießen vor; solides Musikwissenschaftler-Handwerk, viele Noten, gut lesbar.
Frederic DohlFrédéric Döhls Einwurf enthält nicht einen einzigen Notenabdruck. Mit Lust & Absicht ignoriert er Standards der Zunft.
Auch er ist Musikwissenschaftler, sowohl promoviert als auch habilitiert, obendrein noch dr. jur. (über ein Urheberrechtsthema). Ein Überflieger gewissermaßen, im Hauptberuf Strategiereferent der Deutschen Nationalbibliothek und Privatdozent am Institut für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
Letztere unterstützt seine Publikation als open access, mithin als kostenlose Verbreitung als pdf-download (ganz so wie Döhls „Schwester-
publikation“ zu diesem Band, „Musikgeschichte ohne Markennamen. Soziologie und Ästhetik des Klavierquintetts“, Transcript, 2019).
Das dürfte den Sturmlauf dieses Buches erst recht anfachen, denn hinter dem boulevardesken Untertitel „Kleine und große Geschichten aus einem goldenen Jahr“ (ein weiterer Bruch mit der Konvention) öffnet sich eine der besten deutschsprachigen Jazzpublikationen seit langem. Die unter dem geradezu frivolen Untertitel völlig falsche Erwartungen weckt.
Und bevor man auch nur eine Zeile des Haupttextes gelesen hat, folgt man Frédéric Döhl, 46, gern. Listet er doch „statt eines Vorwortes 159 Tracks zum Einhören in Jazz 1959“. Dieses „Einhören“ ist wortwörtlich zu befolgen. Bei spotify hat er die entsprechende playlist hinterlegt. Man kann also gleichzeitig Jazz anno 59 hören und sich darüber klug lesen.
Diese 159 tracks sind mit der Rahmkelle geschöpft aus 800 Alben, die 1959 entstanden, veröffentlich oder sonstwie in Verbindung mit diesem Jahr stehen. Sie sind inklusive Plattennummern aufgeführt auf den Seiten 62 bis 98, von Jelly Roll Morton „The Incomparable Jelly Roll Morton. His Rarest Recordings“ (historische Aufnahme aus Mitte der 20er Jahre, aber veröffentlicht 1959) bis Harry Zimmermann „Big Dixie“.
Döhl hat sie alle gehört. Er konzentriert sich nicht - wie Bugert - auf die top five oder auf „Innovationen“ (Bugert), ihm geht es um den ganzen Jahrgang, um die ganze soundscape 1959 (Döhl verwendet in diesem Sinne durchgängig einen Genrebegriff aus der Klangkunst, ohne darauf hinzuweisen).
Dies sind die Voraussetzungen, um, wiederum im Gegensatz zu Bugert, so wenig wie möglich retrospektiv vorzugehen. Döhl begründet seine Perspektive des „eigenen Hörens als historiographisches Werkzeug“ unter Bezug auf den Historiker und US-Diplomaten George F. Kennan (1904-2005):
History is not what happened. History is what it felt like to be there when it happened“.
Der Zeitgeist selbst liefert ihm dafür eine Steilvorlage. Mit dem Titelbild seiner Ausgabe vom 4. Januar 1959 (!) ruft das US-Männermagazin EsquireThe Golden Age of Jazz“ aus.
Und das Magazin steht mit dieser Einschätzung keineswegs allein. Der bekannte Jazzpublizist Krin Gabbard schreibt 2016: „1959 will always be an ´annus mirabilis´“ (für alle ohne Kleines Latinum: „1959 wird auf ewig als außerordentliches Jahr gelten“.) Gleichfalls retrospektiv äußert ein später Nutznießer jenes Jahres, Darius Brubeck, Sohn des berühmten Dave B.: „1959 war der Beginn des zeitgenössischen Jazz“ (um noch mal aus Bugerts Buch zu zitieren).
„Es ist nicht zu übersehen, wie groß und stabil die Einigkeit auf Ebene der ´official history of jazz´ ausfällt, dass 1959 in Sachen Jazz etwas Besonderes passiert“ (Döhl).
Selbst ohne „Kind of Blue“, die absolute Spitze des Besonderen („im Auge der wenigstens allermeisten Fachleute (die) bedeutendste und wohl auch beste Platte des Jazz überhaupt“), bleibt es für Döhl doch „ein ungewöhnlich dichter und zugleich vielfältiger Jahrgang. Dessen Produktion aus der Jazzgeschichte heraussticht.“
Miles Davis´ „Kind of Blue“ gehört selbstredend sowohl bei Thomas Bugert als auch bei Frédéric Döhl zum Kanon. Er ist nicht ganz deckungsgleich, aber in unmittelbarer „Hörweite“.
Bugerts „top five“ (Wortwahl MR) sind neben „Kind of Blue“ (modales Spiel) aus Gründen der „Innovation“:
Dave Brubeck „Time Out“ (ungerade Taktarten), John Coltrane „Giant Steps“ (harmonische Verdichtung), Ornette Coleman „The Shape of Jazz to Come“ (FreeJazz-Prinzipien) und Bill Evans „Portrait in Jazz“ (Interaktion).
Sie gehen in Döhls „erweitertem Kanon“ von 8 Alben auf, ergänzt um „Mingus Ah Um“, „Moanin´“ (Art Blakey) sowie „Sketches of Spain“ (Miles Davis).
Aber was zeichnet nun diese Großen Acht aus? Wie ist ihr Abstand zu den 800 Alben aus der Ebene des Jahres 1959?
Sehr viel später, im zweiten Teil des Buches (wir kommen schon noch darauf) beschreibt Döhl die Proportion:
„Alles vielfach gehört, sind es die Alben des Kernkanons, die um Längen aus dem Jahrgang herausstechen. Nicht, weil der Rest so schlecht ist. Sondern, weil diese Platten so gut sind.“
cover dohl„Kind of Blue“ (Seiten 19 bis 52) ist das einzige Album, auf das sich Döhl en detail einlässt, aber wiederum weniger musik-analytisch als Bugert; er begeht stattdessen einen facettenreichen Parcours, der aus einer Vielzahl von Perspektiven immer wieder anders zu seinem zentralen Ausgangsort zurückkehrt.
Hier zeigt Döhl gewissermaßen sein Besteck (z.B. in einem frohgemuten Gedankenspiel über „Genres“, das alles Reden vom „Ich gehöre in keine Schublade“ zum Schweigen bringen kann), und damit im zweiten Teil des Buches zu großer Form aufläuft.
Denn ab Seite 167, für die zweite Hälfte des Bandes, steigt er ebenso leichtfüßig, wie es die Überschrift „Liner Notes“ verspricht, in einen mit dem vorderen Teil gut verkoppelten, aber letztlich auch separat lesbaren Essay ein, wie ihn die deutschsprachige Jazzpublizistik selten gesehen hat.
In diesen Überlegungen zu „Musikgeschichts-
schreibung, New Jazz Studies, ChatGPT und das eigene Hören als Perspektive im Zeitalter von Digital Humanities und Künstlicher Intelligenz“ tritt die eigentliche intellektuelle Leistung des Frédéric Döhl hervor.
Nach einem quasi erkenntnistheoretischen Vorspann, in dem er die Grundlagen seines - nicht wertfreien - Vorgehens reflektiert, startet er den Hauptteil mit einer ziemlich hinterfotzigen Frage an ChatGPT:
Is jazz black music or is it multiracial and cosmopolitan in its origins and development?“
Die KI-Antwort fällt „herrlich ausgewogen und konziliant“ aus, ein balanciertes Einerseits/Andererseits. „Das ist nicht falsch. Man findet solche Einschätzungen in der Fachliteratur.“
Aber davon wird niemand satt. Obwohl - „tatsächlich ist es fast schon eine Glaubensfrage, welchen der beiden Aspekte – Jazz als primär Black Experience oder als globale Schmelztiegelkultur – man höher gewichtet.“ (Döhl)
Zwischen diesen beiden Polen entfaltet er nun en detail ein Terain, das in der deutschen Jazzpublizistik bislang unterbelichtet war: die sogenannten New Jazz Studies. Beteiligt daran fast exklusiv anglo-amerikanische Autoren, zuvorderst Scott DeVeaux mit einem Essay, den Döhl als „eine Art Gründungstext“ der Gattung charakterisiert: „Constructing the Jazz Tradition: Jazz Historiography“.
Das Paper erschien 1991, der Begriff entstand ein paar Jahre später.
Er überwölbt nicht nur die Gegenposition von DeVeaux, vertreten in einem Aufsatz von Lewis Porter 1988, darin z.B. ein Satz von geradezu essentialistischer Arroganz, der heute auch unter deutsch-sprachigen Autoren ein Echo wirft („Before researchers can do proper work in jazz, they must acknowledge themselves to be scholars of black music“). Er überwölbt ein so vielgestaltiges Erdreich, dass Döhl zurecht schlussfolgert:
„Die New Jazz Studies sind also keine in sich konsistente Denkschule.“

Der Leser profitiert von der, wie gesagt, sehr umfassenden Darstellung verschiedenster Ansätze, die der Autor weitgehend unter Auslassung eigener Wertungen skizziert, immer in dem Bewußtsein, „dass man, wenn man etwas über Jazz erzählen möchte, unvermeidlich fortwährend gezwungen ist, Entscheidungen über die eigene Betrachterposition zu treffen.“ 

Und: „Es gibt kein natürliches Metanarrativ. Nicht die Geschichte des Jazz.“
Gnadenlos hingegen verfährt Frédéric Döhl mit Ken Burns TV-Doku „Jazz“ (2001): 11 Aspekte auf vier Buchseiten umfasst seine „Liste an Einwänden“.
Hier rennt er offene Türen ein.
Dass er „Cannonball“ Adderley mit falschem Vornamen anredet (Julius statt Julian) - nebbich, solche Petitessen kommen auch bei Rüdiger Ritter vor; ebenso lässlich, dass er von einem anderen Autor die schwer nachvollziehbare Wertung übernimmt, „dass (der Rapper) J. Dilla (…) die größte Innovation auf der Ebene des Grooves bislang im 21. Jahrhundert geschaffen habe“. Wir hören sie jedenfalls nicht.

Bedeutsamer erscheint hingegen, dass seine Diskursanalyse über die New Jazz Studies zum Beispiel das Werk eines Ethnologen wie Maximilian Hendler nicht erfasst, das dieser in der Stille seiner steirischen Abgeschiedenheit seit Jahren wahrscheinlich unter gar keinem Label betreibt. Hendler gehört, wie der jüngst verstorbene Philip Tagg (1944-2024), zu denen, die profunde Zweifel belegt haben, ob die „schwarze Musik“ wirklich so „schwarz“ ist, wie der Diskurs vor Augen führt.
PS: die dümmste Einlassung zum Jazzjahr 1959 stammt vom Trompeter Nicholas Payton:
„Jazz ist tot. Er starb 1959 und kommt nie wieder!“ (2013).
Sie ist weder bei Döhl noch bei Bugert zu finden.

erstellt: 20.10.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten