Heimspiel. Das Wort ist begriffsgeschichtlich tief im Fußballrasen verwurzelt. Unverrrückbar, wie es schien.
Bis zum gestrigen Samstag, 12. April. Da öffnete sich in Köln ein Bedeutungsfenster auf dem weitaus kleineren Feld der Jazzclubs.
Am ehesten noch dürfte Nick Bärtsch mit seinen Auftritten montags im Zürcher „Exil“ dem Jahresmaß nahekommen, was hier frenetisch gefeiert wurde. Vielleicht müsste man länger auch die amerikanischen Verhältnisse durchleuchten, ob je ein Ensemble ein Vierteljahrhundert immer wieder und fast immer in identischer Besetzung an einem bestimmten Ort gespielt hat, wie Root 70 im Loft, in Köln-Ehrenfeld.
„Obwohl“, hören wir jetzt eine Intervention aus Mainhattan, „unser Albert!“
Ach ja, Albert Mangelsdorff und der Jazzkeller Frankfurt/M. Das war eine symbiotische Beziehung, die gut & gerne 25 Jahre gedauert haben dürfte. Aber ebenso lang auch mit einer Band?
Einzelne Mitglieder von Root 70 waren im Loft schon zuvor bestens eingeführt, aber die Premiere als Band fand denn doch - wenn auch auf Empfehlung des Loft-Betreibers - beim Moers Festival 2000 statt. Im Herbst 2000 dann das erste Konzert im Loft, die erste Tournee, das erste Album auf dem Loft-eigenen Label 2nd Floor (auf der Jubiläumstournee spielen sie ein Stück daraus).Aber, was zieht man an, wenn die Tour in Köln haltmacht, im Loft, where it all began?
Oder heutig gefragt: welcher dress code ist nicht peinlich?
In den Anfangsjahren sind die vier mitunter in Frauenkleidern aufgetreten, wie in der Hülle des Debütalbums fotografisch dokumentiert (die Fotopanele werden in der after show party zu Schwindel erregenden 30, 40 und 70 Euro versteigert).
Für einen Moment wurde erwogen, darauf zurückzugreifen - es blieb dann bei der Komposition „Dawn“ aus dem fraglichen Produkt.
Das Loft war ausverkauft, die aktuelle Wahl „black tank top“ schien in der Hitze des Abends auch klimatisch treffend (zumal Nils Wogram und Matt Penman, die die Fünzig schon überschritten haben, sich damit durchaus sehen lassen können).
Hayden Chisholm und Jochen Rückert werden ab Mai auch unter der Altersvorwahl „Fünf“ zu erreichen sein.
Chisholm, neben Penman der andere Neuseeländer der Band, (der der androgynen Anmutung seinerzeit am perfektesten entsprach und ihr heute am fernsten steht), gab sich in einer Ansage launig als „sideman“ aus. Was er objektiv auch ist. Fast alle Stücke schreibt Nils Wogram, lässt die Touren organisieren, betreibt das Label.
Aber, hey, wer diese frontline hört, dieses betörende Verweben von flötenartig intoniertem Altsaxophon (Chisholm) sowie Posaune und Melodica (Wogram); wie die beiden Themen exekutieren, indem sie sich geradezu hineinfallen lassen - wer da noch meint, leader & sideman zu vernehmen, hat wohl nicht hingehört.
Chisholms zweite Selbst-Stilisierung als „der 1. Altist der Band“ wollte natürlich jenseits der Tautologie in ihrem sarkastischen Hintersinn erkannt werden: zusammen mit dem tank top als Andeuten & Unterlaufen einer Kleiderordnung, wie sie andernorts (wir ergänzen: in philharmonischen Kreisen) bei solchen Jubliläen Pflicht ist.
25 years pristine sound of Root 70. Zumal wenn angelegt als eine musikalische Geburtstagsfeier mit Buffett und Freibier, ist der Kompass bei einem solchen Motto nicht in die Zukunft gerichtet, auf konzeptionellen Wandel, sondern auf Retrospektive.
Das Attribut „pristine“ im Titel kann man mehrfach deuten. Im Sinne von „makellos“ kommt es dem, was das Quartett mit seinem Neo Cool Jazz in der ersten Hälfte bietet, am nächsten.
Hayden Chisholm gibt die Anekdote zum Besten, woher der 9/8-Takt von „Lost Keys“ (aus „Fahrvergnügen“, 2006) resultiert. In Kenia habe er auf einer Tour den Hotelschlüssel verloren, in einem Zelt übernachten müssen - wo er sich in der Dunkelheit von neun Löwen umringt sah (!).
Was da mit großer Makellosigkeit (und Beiläufigkeit!) in engst-geführten ostinati losfliegt - in 9/8 ist es nicht getan. Die Jazzpolizei hatte hernach die Chance, auf einem USB-Stick die Partitur einzusehen (das Teil steckt in einer 8-CD/1-LP-Box, einer der Hauptgewinne der Tombola in der Pause).
Außer 9 kann man auch noch 7, 11 und 13 vor die Achtel schreiben, von 6/4, 3/4 und 4/4 ganz zu schweigen. Das klingt so leicht, das fliesst so dahin, dass man gar nicht mitbekommt, welche Hürden die Musiker nehmen.Nach der langen Pause (Tombola!, ein jede(r) gewinnt etwas) kommt als erster mit Gareth Lubbe, va, ein Studienkollege von Wogram auf die Bühne.
„The Myth“, noch so ein Bop-Überflieger aus „Fahrvergnügen“, noch so ein signiture tune von Root 70, für das es strukturell & klanglich kaum ein weiteres Beispiel gibt.
Der Klassiker Lubbe, der auch improvisieren kann, intoniert parallel zur Bratsche Obertongesang, später wird er auf diese Art einen Blues-Chorus ausfüllen. Als er die Bühne verlässt, umhüllt ihn eine Begeisterung, die man nur triumphal nennen kann.
Dann kommt Nellie Hächler, 22, die Tochter von Nils Wogram. Sie ist Schauspielerin (die gleiche, seltene Kombination finden wir in Köln bei Norbert Stein und seiner Tochter Ingrid); sie trägt einen Text von Robert Walser (1878-1956), der in „Homeless Sky“ (auf „Listen to your Woman“, 2010) von Chisholm auf Englisch vorgetragen wird, im Original vor.
Wie dort wirkt das Wort eher wie auf eine Tonspur gesetzt. Man darf davon ausgehen, dass - wenn Vater & Tochter im Juni mit zwei weiteren Musikern ein Album aufnehmen - die Stimmen enger verkettet sein werden.
Besser integriert als auf der Root 70-Tourstation Köln im vergangen Jahr nun die erneute Verdopplung der frontline durch Theresia Philip, as, und Shannon Barnett, tb.
Das große Finale dann: alle acht Beteiligten in „Duality“, einer Paraphrase auf den „Basin Street Blues“, das einzige Stück des Abends nicht aus dem Root 70-Katalog (sondern aus „Openness“ vom Vertigo Trombone Quartet, 2023).
Wie einst Netzer aus der Tiefe des Raumes schwebten währenddessen der frühere Hausherr Hans-Martin Müller mit seiner Ehefrau Liz im Paartanz heran und drehten wieder ab.
Nicht abgesprochen, vollkommen improvisiert. So etwas kann einfach nur stattfinden bei einem Heimspiel.
PS: Zahlreichen Beiträgern zur Bandgeschichte wurde durch Nils Wogram gedankt.
Unter denen, die nicht anwesend sein konnten, befand sich Ahmet Shabo, Autor der luziden liner notes auf mehreren Root 70-Alben. Er sei, hieß es, in New York durch Lesungen verhindert. Bis auf ein Foto mit der Band in Guatemala weiß man wenig von dem Mann.
Die Jazzpolizei würde gerne deutsche New York-Reporter beauftragen herauszufinden, was der beruflich eigentlich so macht. Vermutlich fänden sie eine solche Aufgabe abwegig, sind sie doch derzeit mit der Beschreibung anderer Vorgänge in der amerikanischen Gesellschaft voll ausgelastet.
erstellt: 13.04.25
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