What you have missed: Wolf Biermann + Franz Hohler, Theater Rigiblick, Zürich

Wohl war, dies waren nicht zwei Abende in Jazz, nicht mal in homöopathischer Dosierung. Aber, sie waren Abende in Improvisation, und zwar hochgradig. Und da unsere kleine Welt diesen Begriff, ja diesen Wert, wie einen Schellenbaum vor sich herträgt, werden auch sie hierher beordert.
Last not least, das Motto von Hanns Eisler, einer der unsichtbaren Säulenheilige der Abende, vom vielen Abwandeln schon ausgeleiert: „Wer nur was von Jazz versteht…“ - es passt hierher. Biermann hätte, wie er es häufig tat, nur diesen ersten Teil gesprochen und den zweiten durch sein eigenartiges Jodeln ersetzt. So wie er es immer tut, wenn er weiß, dass die Zuhörer es wissen. Und sich darin mit dem Ersatz-Jodler aufs Unterhaltsamste bestätigt fühlen.
Wolf Biermann, 87, und Franz Hohler, 80, kennen sich seit 1969. Seit der Zürcher Kabarettist, Liedermacher, Autor und was-weiß-nicht-alles den mit Auftrittsverbot zu Hause Verbannten („Meine Texte wurden im Osten verstanden und im Westen gehört“) in Ost-Berlin, in der berühmten Wohnung Chausseestraße 131, aufsuchte.
Zwecks Interview mit einer Revox. Die Ausschnitte, die er an beiden Tagen einstreuen ließ, klingen auch nach 54 Jahren noch besser als so mancher O-Ton im heutigen Radio.
Seitdem sind sie befreundet, haben sich ausgetauscht und zusammen gearbeitet. Bei seinem ersten Schweiz-Besuch nach Biermanns Ausbürgerung 1976 führte der Jüngere den Älteren ans Grab von Georg Büchner (Foto), am Zürichberg, unterhalb des Theater Rigiblick, wo die beiden jetzt erneut, initiiert von unserem guten Freund Christian Rentsch, zusammentrafen.
Der hat in seinem Journalistenleben so manche Künsterwohnung gesehen, die von George Gruntz, von Miles Davis, von Max Frisch und auch die in Berlin von Biermann.
Biermann & Hohler, wer moderiert? Typische Radiojournalistenfrage. „Niemand“, sagt Rentsch.
Biermann Zurich 1   1Und es bauchte auch wirklich niemand. Die Wasserverdrängung eines Biermann ist bekannt, noch ein solcher Dampfer hätte den Abend zum Kentern gebracht.
Franz Hohler reichte aus. Er wählte, und so entspricht es wohl auch seinem Naturell - die Jüngeren würden sagen - die Rolle eines „sidekick“. Das Wort wäre zu profan, „Gastgeber“, zumal auf eidgenössischem Grund (der Gast rieb sich vor alllem am ersten Abend vieldeutig und mit Lust daran) würde der distinguierten Erscheinung Hohlers wie auch seiner sanften Regie gerechter.
Denn Biermann ging in die Vollen. Das wollte Hohler so, und das Publikum auch.
Wer (s)ein Denken in Paradoxien mag, in Ambiguität, in Begriffen, die durch Mimik & Gestik doch noch einen anderen Dreh kriegen, der kam voll auf seine Kosten. Es war derb, subtil, lustig, es war zum Nachdenken.
En passant und zugleich mit großem Drama erklärt er die Form des Sonetts (14 Zeilen), dessen Besonderheiten bei Shakespeare, und er wühlt geradezu im Sechsundsechzigstem.
Die beiden Schlußzeilen (in seiner eigenen Übersetzung) brüllt er heraus:
„Von all dem müde, wär ich lieber tot, ließ ich/
In dieser Welt dabei mein Liebchen nicht im Stich.“
Diese Zuspitzung auf den Wert eines einzelnen Menschen, es symbolisiert für ihn seine Abkehr vom Kommunismus, „wo der Einzelne nichts zählt“. Mit sechzehn war er von Hamburg gezogen nach Ost-Berlin, dem Kommunismus mit anzuschieben, „der kleine Wolf wollte den Kommunismus retten!“
Zurück ließ er in Hamburg nicht nur die Mutter, sondern auch einen Mann, der am zweiten Abend in der zweiten Reihe sitzt. Biermann begrüßt ihn als „Klassenkameraden“, der zugleich auch „der Klassenfeind“ war: Klaus-Michael Kühne (86), einer der reichsten Männer Deutschlands, der eben aus diesem Grund in der Schweiz lebt und auch dort zu den Reichsten zählt.
Die Paradoxien im Leben Biermanns, sie sind personell hier aufs Engste und für seine Anhänger aufs Entfernteste verschweisst.
Biermann Zurich 2   1Dieser Biermann ist eine Rampensau, ein im Bühnenboden Verwurzelter, dem eine Vorstellung von Perfektion völlig abgeht.
Fehler? Her damit! Sie bringen ihn auf Touren.
Zwei seiner größten „Schlager“ (ja, wenn er sie so klassifiziert, fällt dem Begriff jeglicher Schrecken ab) -  „Ermutigung“ (1968) sowie „Nur wer sich ändert bleibt sich treu“ (1999) - sie wollen ihm nur bruchstückhaft einfallen, „dabei haben ich sie doch gestern noch im Berliner Ensemble gesungen!“
Dieser Biermann ist eine Egomane. In Zürich mag zu diesem Zeitpunkt unbekannt gewesen sein, was Biermann nicht erwähnt, nämlich dass er in Berlin beim „Solidaritätskonzert gegen Antisemitismus“, organisiert von Michel Friedmann und Igor Levit, nur einer von vielen war, neben den Toten Hosen, Sven Regner, Christian Thielemann u.a.
Wie später die SZ berichtet, war er dort der einzige, der sich dezidiert politisch äußert. Und das tut er so auch in Zürich. Er kriegt die Kurve zwischen der Solidarität mit Israel, die man von ihm, dem Halbjuden, erwartet - und der Solidarität mit den Palästinensern, die sich gegen ihre Unterdrücker, die Hamas, befreien müssten.
Die poetische Klammer ist das Leiden der Mütter, die Substanz ihrer Tränen: „Salz! Salz! Salz!“
Der zweite Abend in Rigi ist nicht unähnlich dem ersten. Das Dialogische zwischen beiden Partnern kommt mehr zum Tragen, der Austausch über das Jiddische, die Verwandtschaft zwischen dieser Sprache und dem Schweizer Deutsch.
Franz Hohler trägt mehr von sich vor, auch mit achtzig stimmlich und gesanglich noch in Form.
Und man schämt sich, dass man von diesem so wenig weiß (auch unter denen, denen man zu Hause davon erzählt). Den Besuchern im Rigi rundum ist er so vertraut wie der Biermann unsereins - und zwar schon seit frühester Jugend. Denn dieses Multitalent hat offenbar nachhaltig wirkendes Kinderfernsehen gemacht.
Wie gesagt, zwei denkwürdige Abende, derb, subtil, lustig, zum Nachdenken.

 erstellt: 03.12.23
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