Zwei Telefonate im Vorfeld des Konzertes. Ein Freund sagt ab, er kann nicht mit in den Stadtgarten kommen. Wir debattieren die Stilistik des Quartetts, auf Grund des letzten ECM-Albums „Return from the Stars“. Sein Vorschlag „aufgeklärter Cool Jazz“ wird - auch wegen der sprachlichen Nähe zum Begriffskaugummi „Aufgeklärter FreeJazz“ - revidiert zugunsten Neo Cool.
Das andere Gespräch, mit dem humvorvollsten unter den kenntnisreichen deutschen Saxophonisten, kommt nach dem eigentlichen Anlaß zum Schluß auch auf das bevorstehende Konzert.
„Halte durch!“ lautet sein Rat. Kein Mensch würde diese kuriose Aufforderung verstehen, es sei denn er/sie kennt das Luxusproblem dieses Spaßvogels: Mark Turner, so klagte er einst, mache einfach keine Fehler.
Die Arbeitshypothese „Neo Cool“ verfällt eigentlich schon mit dem Konzertauftakt: „Super Sister“, aus dem Trio-Album „Sky & Country“ (2008). Damals, im Studio sitzt Jeff Ballard am Schlagzeug und spielt das begleitende drum´n´bass-pattern unter dem mit seinen langgezogenen Noten hymnisch anmutenden Thema.
Es gewinnt jetzt, weil es nun zwei Bläser vortragen und dabei einander umspielen. Es gewinnt aber vor allem, weil Jonathan Pinson diese spezielle Disziplin in diesem speziellen Stück mit ganz anderer Autorität ausübt.
Der twenty-something (sein genaues Alter gibt das Netz nicht her) stammt aus dem new gospel drumming, er hat mit Kamasi Washington, aber eben auch Herbie Hancock und Wayne Shorter gearbeitet.
Einem frühen drum-solo folgt (wie damals) ein 14-Töne-ostinato vom Baß, das hier nun wie eine eigenständige Bridge wirkt. Sie führt über einem slow swing über 7 Takte schließlich wieder in den A-Teil, drum´n´bass-basiert.
Pinson wird im letzten Stück vor der Pause zwischen swing und Samba wechseln, er zeigt eine Affinität für rimshots (linke Spielhand ruht auf der snare und schlägt mit kurzer Bewegung den Rand des Kessels). Er ist interaktiv, geht mit; sobald Tonketten erklingen, ist auch er mit einer wiederholenden Bewegung dabei.
Andererseits hat er die Ruhe weg, justiert mittendrin ungerührt die hihat neu - da ist ja noch der Ankermann, das ist ja noch Joe Martin.
Man staunt erneut über die Qualität amerikanischer sidemen, denen man zum ersten Mal begegnet - Herbie Hancock und Wayne Shorter werden schon gewußt haben, warum…
Jason Palmer, 45, tp, hat demgegenüber einen ganz anderen track record, aber auch von ihm darf man, weil er hierzulande nicht häufig auftaucht, überrascht sein. Er pflegt einen klaren, schlanken Ton, in gewisser Verwandtschaft zu Kenny Wheeler, er intoniert ungemein sauber, liebt überraschende Wendungen - und kommt doch ohne jede FreeJazz-Beimischung aus.
Als Komponist ist der Assistenzprofessor aus Berklee ein Filou, zweimal kündigt er ein eigenes Stück als „contrafact“ an. Aber, man lasse sich bei diesem Begriff nicht an die Historiographie hinreissen, an die kontrafaktische Geschichtsschreibung. Hier ist die den rhythm changes verwandte Praxis gemeint, auf Harmonieschemata vorhandener Stücke neue Melodien zu setzen, nur eben nicht auf „I got rhythm“.
Palmer treibt das Mysterium ins Extreme, indem er dazu auffordert, nach dem Konzert, beim Signieren von CDs, die korrekte Lösung ihm ins Ohr zu flüstern.
Die Jazzpolizei muss bei solchen Rätseln passen, sie traf aber auch auf zwei Instrumentalisten, die vermutlich das corpus delicti im Original schon gespielt haben - auch sie mussten passen.
Es ist auch vollkommen wurscht, das Was zu identifizieren - das Wie überwältigt allemal. Der Rapport zwischen Jason Palmer und Mark Turner (nicht zu vergessen den Bassisten Joe Martin) ist einmalig. Ihre Perfektion macht sie mitunter selbst lächeln. Und man kommt nicht umhin, wenn man die bei Wikipedia angerissene Doktorarbeit über den Einfluss von Warne Marsh (1927-1987) und der Tristano-Schule auf Mark Turner zur Kenntnis genommen hat, diese auch hörleitend zu verwenden. Zumal der Protagonist die Hypothese von Jimmy Emerzian offenkundig bestätigt hat.
Es bleibt eine ferne Referenz; die Formen sind anders, die Rhythmen, die Tonalität. Die größte Nähe besteht in dem, was im altherkömmlichen Sinne als „cool“ bezeichnet wird, eine kontrollierte, letztlich lyrische, nie überschießende Expressivität. Eine Art cooler Postbop.
Selten bei einem Konzert so viele zufriedene Gesichter gesehen, quasi unisono.
Fotos: Gerhard Richter
erstellt: 02.04.24
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