What you have missed: Brad Mehldau, Philharmonie, Essen

Brad Mehldau befindet sich auf ausgedehnter Europatour.
Den meisten Stationen sind die Titel seiner letzten beiden Alben beigesellt, „Fauré“ und „Bach“ - nicht so dem Konzert in der Philharmonie Essen. Vor Ort zeigt sich: eine Auslassung ohne programmatische Bedeutung.
Mehldau beginnt mit eigenen Gedanken zu Gabriel Fauré, es folgt ein Original des französischen Spätromantikers. Später postiert er sein iPad auf dem Flügel für die Partitur von Bachs „Allemande“ aus der Partita Nr. 4, ganz wie auf dem Album „After Bach II“.
Es folgt, wie dort, eine rauschhafte „Variation“, wie er den Zuhörern ankündigt. Er weiß, wie man ein Publikum an solchen Orten adressiert: mit ausgesuchter Höflichkeit, mit Verbeugungen sowie einer Spur von Demut; ins Mikrofon spricht man erst, wenn der Beifall verebbt ist.
Peter Frankenfeld (1913-1979), der Entertainer aus einer ganz anderen Welt, pflegte in solchen Momenten zu sagen: „Es sind Kinder im Raum, wir wollen es allen erklären“.
Es sind Momente des gegenseitigen Vertrauens, der Sicherheit in den jeweiligen Rollen auf der Bühne und im Auditorium; es sind gute Voraussetzungen für den Kunstgenuß.
Als drittes oder viertes spielt Mehldau einen Blues und erläutert im nachhinein, was es war: „Jesus on the Mainline“ von Mississippi Fred McDowel; er trägt den Titel mit leichtem Schmunzeln vor, aber doch so, dass niemand sich verletzt hätte fühlen können.
Falls denn eine solche Regung überhaupt irgendwo in den vollbesetzten Reihen hätte registriert werden können. Versammelt ist ein tolerantes bürgerliches Publikum, das den Wechsel von Bach´scher Polyphonie zu einem Drei-Akkorde-Blues mit gleichgewichtigem Beifall quittiert.
Und vielleicht teilten die meisten ja gerade an dieser Stelle den Eindruck der Jazzpolizei, dass Mehldau gerade zum Kern seiner Kunst gestoßen war, dem Ausschmücken einfacher Strukturen, mit überraschenden Wendungen.
Brad Mehldau FlugelNicht dass man seine Variationen der Bach-Partita hätte geringschätzen müssen, aber das Improvisieren scheint dort nicht nur motivisch, sondern auch motorisch engere Grenzen zu haben. Während es ihm beim Blues auf jeden einzelnen Ton anzukommen scheint.
Sorgsam behandelt er einen jeden in Phrasierung & timing; man ahnt viel weniger, welcher Ton in welcher Temperatur folgt als bei Bach & Fauré. Mitunter wünschte man, er zöge noch eine Runde mehr in seinen Ausschweifungen, bevor er dann immer wieder sehr zielsicher auf dem Schlussakkord landet.
Hinreissend - und einer der Höhepunkte des Abends -, wie er die Zuhörer minutenlang im Zustand des Ahnens hält, ob sie sich auf die patterns denn auch den richtigen Reim machen: nämlich auf „Lucy in the Sky with Diamonds“.
Wie 2016 Julia Hülsmann (beim Deutschen Jazzfestival Frankfurt) stellt er lediglich melodische Teilmengen aus dem Thema vor, stellt sie in ganz anderen Kontext. Er weiß die Zuhörer als komplementäre Partner auf seiner Seite, denen er gar nicht alles erzählen muss, weil ihnen die Rahmenhandlung bestens vertraut ist. Sie können sich daran ergötzen, die ständig changierende Nähe & Ferne von Mehldau zu Lennon/McCartney abzuschätzen.
Später spielt er noch ein weiteres Stück von den Beatles, „Mother´s Nature Son“, beide nicht auf seinem Album „Your Mother should know“ (2020) - und beide luftiger, fantasiereicher, fesselnder interpretiert.
Bei „Hey Joe“ dreht er das Verfahren um: er kündigt es an, es ist sein letztes Stück (vor drei Zugaben), er werde sich nun ein wenig darüber auslassen. Ein Jazzpolizist (aus Düsseldorf) regt sich darüber auf, dass Mehldau von „Hey Joe“ als einem Stück von Jimi Hendrix spricht, wo er doch wissen - und ankündigen! - müsste, dass es von William M. Roberts ist.
Egal. Es folgen 12 aufwühlende Minuten, in denen er wieder alle Register zieht. Seine Liebe für hook lines (hier eine Fünf-Töne-Phrase in tiefer Lage, sie hatte schon bei Bach & Fouré gut geklungen), Akkorde in Achtel-staccati (mehrmals an diesem Abend), die ausschweifende rechte Spielhand, häufig in Unabhängigkeit von der linken.
Zurvor rhetorische Frage ans Publikum, ob jemand den Singer/Songwriter Elliot Smith (1969-2003) kenne. Ein oder zwei rufen „yeah“.
Brad Mehldau zeichnet sie aus mit dem Blick des Kenners.
Er spielt zwei Song von Smith, die man so nicht wiederfindet auf Spotify. Die Jazzpolizei reimt sich eine assoziative Nähe zu Mehldau´s Interpretationen von Nick Drake.
Aber, das Interesse ist gesät: auf seinem nächsten Album wird er sich Songs von Elliot Smith widmen. Und mit Blick auf seine nächste Tour (die ihn durch die USA führt, mit Christian McBride, b, und Marcus Gilmore, dr) möchte die Jazzpolizei den Wunsch nach dem übernächsten Album anschließen.

erstellt: 06.02.25
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