Es ist ruhig in Köln, die Dinge nehmen ihren Gang.
Das gilt insbesondere für zwei Gebäude im Herzen der Stadt, Schauspiel & Oper am Offenbachplatz.
Sie verrichten seit 12 Jahren auf sehr lokalspezifische Art ihren Dienst, sie werden saniert.
Die Kosten haben sich, logo, vervielfacht, die Milliardengrenze ist überschritten, der Kulturdezernent hat auch für die Saison 2025/26 noch Ersatzspielstätten gebucht.
Eine ganze Generation von Bürgern, beispielweise GymnasiastInnen, hat die beiden nie ohne Bauzaun gesehen.
Fraglich, sie sind ja noch so jung, ob sie im Musikunterricht erfahren, dass in einem der beiden, in der Oper, ein der Gattung widersprechendes Konzert stattgefunden hat, ein musikhistorisches Ereignis, so bedeutend, dass es seit einem halben Jahrhundert den Namen der Stadt in die Welt trägt.
Und noch dazu in der richtigen Schreibweise, nicht als „Cologne“, sondern als „Köln Concert“.
Vielleicht ist es heute auch deshalb so ruhig, weil den Offiziellen der Stadt - wenn sie denn überhaupt eine Antenne hätten für eine große Geburtstagsfeier - das entsprechende Gefäß fehlt.
Aber wenigstens ein Symposium hätte es doch sein können; zwei Nummern kleiner, im neuen Stadtarchiv, das in der Präsentation Kölner Musikgeschichte unterbelichtet ist und sich jüngst damit zufrieden gab, mit ein paar Zaungästen Kölner Jazzgeschichte zu erörtern.
„Philosophen lesen das Köln Concert“. Das wär´s doch gewesen! Daniel Martin Feige hätte sich bestimmt nicht lumpen lassen oder Peter Elsdon von der Universität Hull, der 2013 das Standardwerk zum Ereignis veröffentlicht hat (das kaum einer der heutigen Jubilare zu kennen scheint).
Andrew Kania hätte seine These „All Play, No Work“ (2013) gegen eine aufgezeichnete Improvisation verteidigen müssen, die inzwischen transkribiert vorliegt und von nicht-ranghohen Jazzpianisten nachgespielt wird (beispielsweise von einem englischen am 50. Jahrestag in Köln, in der Christuskirche, bezeichnenderweise nicht nebenan im Stadtgarten, einem Jazzzentrum der Stadt).
Oder, ein Spur kontroverser, der afro-amerikanische Jazztheoretiker Gerald Early, der sich 2019 den Kopf zerbricht über einen Aspekt, der keinem Europäer aufgefallen ist: „Er (Keith Jarrett) gab sich nicht absichtlich als Schwarzer aus, aber als sein Publikum in den späten 1970er Jahren sein Weißsein erkannte, hatte er in gewisser Weise das Problem der Authentizität in Verbindung mit dem Begriff des Privilegs neu beschrieben.“
Oder, warum nicht?: „Markus Gabriel hört das Köln Concert":„Das Werk ist weder mit der Partitur noch mit einer bestimmten Aufführung identisch, sondern es ist die offene Struktur wirklicher und noch möglicher Interpretationen. Kunstwerke sind sind erst dann am Ende, wenn sie niemand mehr interpretiert“ (aus „Fiktionen“, 2020).
Ja, das müsste noch angepasst und - diesmal ernsthaft - hoch-gejazzt werden auf das, was hier Sache ist:
„Ein Kunstwerk ist letztlich identisch mit seiner Wirkungsgeschichte, wozu die Serie der Interpretationen gehört, die vorgenommen werden, damit das Werk im Modus ästhetischer Erfahrung erscheint und somit als Kunstwerk überhaupt existiert“.
Zielt das nicht mitten auf das, worum es heute geht, auf den wohl größten Mythos der Jazzgeschichte?
Jene immer wieder zitierten „über 4 Millionen Exemplare“ sind ja bestenfalls der skalierbare Zipfel des Unfassbaren, des Unerklärlichen. Miles Davis´ „Kind of Blue“ (1959) hat sich wohl 1 Mio Male mehr verkauft, aber wuchert mythologisch mitnichten in dieser Klasse.
So wie die Rezeption von Printmedien um Mehrfachleserfaktoren wächst, gilt dies auch für Tonträger. Zu den „über 4 Millionen“, die das Album gekauft oder geschenkt bekommen haben, addiert sich ein mehrfaches derer, die es nie in Besitz hatten, sondern mitgehört, ausgeliehen oder, gerade heutzutage, gestreamt haben - eine Gruppe sicher im zweistelligen Millionenbereich.Und auf sie alle trifft die Basisbeobachtung von Peter Elsdon zu:
„a recording is not simply a collection of sounds but a text that is shaped by how listeners engage with it." Sprich, sie alle wirken mit am Mythos des Köln Concert .
Viele, die sich heute an dem Großen Narrativ zu schaffen machen, verkennen völlig dessen internationale Dimension (die bei Elsdon eine große Rolle spielt).
Sie begnügen sich mit dem Aufspüren von Ohrenzeugen oder solchen, die den Zeitgeist am Ort des Entstehungszeitraumes zu symbolisieren vorgeben.
Zu den Exponaten dieser Schlagseite zählt ein Spottgedicht von Wiglaf Droste (1961-2019) aus dem Jahre 1996 („Junge Menschen wurden greise/wenn Keith Jarrett klimperte/auf dem Flokati litt ganz leise/wer vorher fröhlich pimperte.“), dem DLF und WDR breiten Raum gewähren. Drei Stimmen aus der Klassik (Tatort Oper!) äußern in dieser Radiosendung ihr Entzücken, und einzig der Jarrett-Biograph Wolfgang Sandner trägt Sachdienliches bei, u.a. zu der ewig diskutierten Frage Improvisation/Komposition.
Dass der Auslöser sebst und sein Multiplikator (Keith Jarett und Manfred Eicher, der Chef des Labels ECM) seit langem dazu schweigen, hat die Mythenbildung eher befördert. Nicht mal das drastische Kokettieren des Künstlers 1992 in einem Spiegel-Gespräch („…man sollte alle die Aufnahmen einstampfen.“) hat ihr geschadet, es ist heute weitgehend vergessen.
Der 24. Januar 1975 in der Oper Köln markiert den frühen, den absoluten Höhepunkt in einer langen Serie, deren Auftakt der Trompeter Ian Carr (1933-2009) in seiner Jarrett-Biographie (1991) auf den 12. Juli 1973, das Konzert in Bremen, datiert: „People close to Keith Jarrett have said he is at his best when conditions are bad.“
Der Künstler selbst hat später den kausal wenig einleuchtenden, aber zur Mythenbildung bestgeeigneten Gedanken gerne fortgesponnen (z.B. anlässlich seines Albums „Munich 2016“).
In der Kölner Oper aber, im Gegensatz zu den 10 anderen Terminen der Tournee, waren die bad conditions wortwörtlich mit Händen zu greifen.
Das corpus delicti, die Mutter aller Probleme jenes Abends und damit der größte Auslöser des Mythos:
ein Bösendorfer Flügel mit der Tiefe 225 cm, wie er schlussendlich genutzt, statt eines Bösendorfer Imperial 290, wie vertraglich vereinbart - an jenem Abend aber nicht auffindbar war.
Dieser „Halbkonzertflügel“, wie man ihn im Hause Bösendorfer respektvoll tauft, taucht in den meisten Berichten und Kritiken als „Stutzflügel“ auf; ob seiner hinlänglich beschriebenen klanglichen Mängel an Ort & Stelle zum „Wrack“ herabgestuft.
Millionen wissen davon. Denn nicht wenige Kritiker haben damit die positive, rezeptionssteuernde Weichenstellung begründet, wonach Keith Jarrett seinen Aktionsradius auf mittlere Lagen reduziert und vermehrt zu ostinaten Formen geneigt habe.
Auch wollen viele in den Anfangstönen der Performance eine Referenz zum Einlassgong des Hauses gehört haben. Einen solchen Gong habe es nie gegeben, vielmehr habe Jarrett die Töne aufgegriffen, „mit denen das Glockenspiel des 4711-Hauses gegenüber der Oper zu jeder vollen Stunde das Lied vom ´Treuen Husar´ beendet, allerdings in ein melancholisches Moll gewendet.“
Schreibt Andreas Fasel, Redakteur bei der „Welt“ in Düsseldorf. Eine Petitesse, mit der er seinen Artikel beendet.
Vorher hat er noch ganz andere Evidenzen auf Lager. Auf Vermittlung von Vincent Duceau, der im November eine Filmdoku über das Ereignis herausbringt (zum 50. Jahrestag der KC-Lp-Veröffentlichung), spricht er mit Ferdinand Bräu, seit 46 Jahren Konzerttechniker bei Bösendorfer:
„Es wird ja so viel Unsinn über dieses Konzert verzapft.“
Vor allem über den tatsächlichen Zustand des Bösendorfer 225. Anhand ihm von Duceau vorgelegten Fotos ermittelt er die Seriennummer (28.952) und das Auslieferdatum (Februar 1969), er war also keineswegs „alt“, wie durchgängig behauptet. Insbesondere aber hört Bräu heute vom Tontäger „alles in allem einen Flügel in gutem Zustand“, und eben keinen beschädigten, den auch ein guter Klavierstimmer nicht binnen Stunden so aufgehübscht haben könnte. (Klavierstimmer & Sohn kommen gut weg in allen Darstellungen; dass sie unauffindbar sind, passt zum Mythos).
Der Autor Fasel ist nun so berauscht von den neuen Indizien, dass er den Ballon noch weiter aufbläst und vorsichtig eine Täuschung durch den Tausch von zwei 225er Bösendorfer Exemplaren insinuiert - was damals keiner mitbekam.
Die aurale Evidenz des Ferdinand Bräu steht nun gegen…ja gegen was nun?
Was sagen die Zeitzeugen?
Klavierstimmer & Sohn sind unauffindbar, Tonmeister & Tochter äußern sich nicht, ebensowenig Jarrett & Eicher (ersterer hat sich nach zwei Schlaganfällen - bis auf ein Interview - aus der Öffentlichkeit zurückgezogen; bei letzterem ist der „Welt“-Mann nicht mal zu einem Vorgespräch durchgedrungen).
Die Veranstalterin dürfte das wenig tangieren. Kommt doch die Story, die seit Jahren in allen Jubiläumsschritten bis jetzt zum Fünfzigsten immer wieder kolportiert wird, am 13.03. in die Kinos.Es ist ihre Story, die Geschichte der Vera Brandes (im Film gespielt von Mala Emde), zum Konzertzeitpunkt 18 Jahre alt.
Das, was später zum „Köln Concert“ emporschiesst, ist zunächst nichts weiter als eine Station einer 11-Städte-Tournee zwischen Lausanne/CH und Baden/CH, das fünfte Konzert ihrer Reihe „New Jazz in Köln“.
Ihre Leistung, auf den Punkt gebracht, besteht darin, den von den Umständen aufgebrachten Künstler, abfahrbereit im Auto, wieder zum Aussteigen zu bewegen, mit viel-zitierten Worten, die, wie es der Mythos will, Miles Davis abgelauscht sein sollen:
„Keith, if you don’t play tonight, I’m gonna be truly fucked. And I know you’re gonna be truly fucked too.“
Ihre eingesetzten Mittel damals: Geistesgegenwart und Selbstbewußtsein, vulgo: auch eine große Klappe; die Jazzpolizei kann sie aus jener Zeit beglaubigen. Nicht ganz leicht fällt ihr, die Diktion zu glauben, mit der Brandes, heute über sechzig, den Regisseur Ido Fluk empfangen haben soll:
„Wir fanden sie an einem Strand in Griechenland. Ihre ersten Worte waren: Warum habt ihr so lange gebraucht? Seit Jahren hatte sie darauf gewartet, dass jemand ihre Geschichte erzählt“ (lt. Presseheft „Köln 75“).
Es ist die Geschichte einer Emanzipation, eine Familiengeschichte, eines Aufstandes gegen den sie züchtigenden Vater (im Film Ulrich Tukur), die das Konzert lediglich zum Anlaß nimmt. Der erste Titel „The Girl from Köln“ bringt das besser zum Ausdruck als der nun unter „Köln 75“ implizierte Bezug zur Musik - die im Film gar nicht vorkommt. Nicht vorkommen darf, weil ECM frühzeitig abgewunken hat.
Als Ersatz wurde Stefan Rusconi angefragt. Der Schweizer Jazzpianist (laut NZZ hatte er 7 Jahre lang keine Tasten mehr berührt), war zunächst nur als Hand-Double für Nahaufnahmen gedacht. Als er dann doch den Auftrag erhält, Jarrett-like zu spielen und sich ans Klavier setzt, fliesst auch die NZZ dahin: „Alles brach aus ihm heraus: aufgestaute Gefühle, Töne, Ideen, Melodien.“
Und, oh Wunder, „auf einem (intakten) Stutzflügel, der auch Jarrett gefallen hätte“ gebiert der Mythos noch einen Trabanten, denn wenige Monate später beginnt Rusconi mit einem Soloalbum, „Solace“.
Gleichwohl taucht sein Name nicht in der Besetzungsliste auf, sondern der des polnischen Pianisten Hubert Walkowski. Wie überhaupt die Opernszenen von „Köln 75“ im Theater von Lodz gedreht wurden.
Hier nun versinken die Überlegungen in Kontingenzen…
Was, hätte Keith Jarrett am 24.01.1975 in Köln die Autotür zugezogen und wäre abgereist…
Oder. Was wäre das „Köln Concert“ ohne seine Mythen? Hätte es sich so exorbitant gut verkauft?
Oder. Was, wenn wir nichts von seinem Ursprung als improvisierte Musik wüssten?
„Das Hören von Musik, von der man weiß, dass sie improvisiert ist, unterscheidet sich signifikant vom Hören einer Musik, von der man weiß, dass sie komponiert ist“. Zitiert Peter Elsdon den Jazzpianisten und Musikologen Vijay Iyer.
Ein Befund, der von Clement Canonne (Paris) 2018 auch empirisch belegt wurde.
erstellt: 24.01.25 (ergänzt 27.01.25)
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PS: Folgendem Fund (Dank an Andreas Fasel) wird das in diesem Kontext höchst gebräuchliche Adjektiv "mutmaßlich" vorangestellt.
Also, mutmaßlich sehen wir bei dieser Probe des Kölner Volkskunstensembles Divertissementchen dessen Arrangeur Thomas Guthoff "an dem Flügel, der Jazzgeschichte schrieb". Er (der Flügel) versieht auch mit 56 Jahren noch seinen Dienst.
PPS (15.02.25) Eine originelle KC 50-Interpretation liefert der amerikanische Schlagzeuger und Blogger Vinnie Sperrazza auf Substack.
Sie wirkt zunächst befremndlich, weil Sperrazza nicht das Jubliäum, sondern Valentine´s Day zum Anlass seiner Betrachtungen nimmt (wir kommen darauf zurück).
Zunächst wischt er die vielzitierte Mühsal (Ermüdung durch lange Anfahrt, schlechtes Essen, schlechtes Piano) als den Erfolg erklärend beiseite. Keith Jarrett ist für ihn zum damaligen Zeitpunkt ein „29 year-old road dog“, weil seit 10 Jahren unterwegs:
„He’d been giving concerts under these conditions for years“.
Er macht sich nachgerade lustig über die schlechten Voraussetzungen: „Wenn es nur darum ginge, würden wir auf unseren Touren nur minderwertige Ausrüstung und schlechte Restaurants aufsuchen“.
Nein, einem Gerücht zufolge habe Jarrett in der Kölner Oper eine bestimmte Frau beeindrucken wollen - Sperrazza hält das „Köln Concert“ deshalb im Kern für einen improvisierten „Love Song“: „we’ll do anything for love“. Und hier nun bringt er den Valentinstag ins Spiel.
Die Geschichte mit dem „beschissenen Klavier“ klingt für ihn so wenig überzeugend, „als würde Pablo Neruda sagen, dass er seine Liebesgedichte nur geschrieben hat, weil auf seiner Schreibmaschine die Buchstaben „A-M-O-R-E“ die einzigen waren, die gut funktionierten“.
Sperrazza schließt mit einer anthropologischen Note (und reduziert damit seinen eigenen Geltungsanspruch), die im Diskurs über Musik gerne übersehen wird, nämlich dass Musik wie das menschliche Verhalten „letztlich unerklärlich“ sei:
„Wir sind heimtückische, komplexe Geschöpfe, die von tiefen, meist unsichtbaren Sehnsüchten angetrieben werden, die wir nicht ganz verstehen. Aber wir sind auch gutmütige und einfache Wesen, die sich unter halbwegs anständigen Bedingungen einfach nur mit etwas Schönem verbunden fühlen wollen, das größer ist als wir selbst. Denn das ist es, was The Köln Concert ausmacht. Und das ist es, was Musik ist. Wir spielen, um Liebe auszudrücken und um geliebt zu werden, egal was passiert.“
PPPS (27.02.25) So etwas nennt man wohl "sedimentiertes Kulturgut", vulgo herabgesunken zu Kai Pflaume
("Wer weiß denn sowas?", ARD Vorabendprogramm 27.02.2025)
Aber, im Erklärfilmchen Lob für Klavierstimmer & Sohn!