FRED FRITH, MARIÁ PORTUGAL Matter *******
01. Things considered (Frith, Portugal), 02. See through Blind, 03. Looking up, 04. O Tempo e sua Secura
Fred Frith - g,voc, Maria Portugal - dr, perc, voc
rec. 08.06.2023
Intakt CD 447/2025
What a difference the modus makes!
Der Modus der Rezeption. Ob man, wie hier, nur hört. Oder an jenem 8. Juni 2023 im Loft Köln anwesend war, mithin als audio-visueller Rezipient.
Die Jazzpolizei war dort, und obwohl sie ziemlich angetan war - sie erkennt so gut wie nichts wieder. Sicher, die Instrumentierungen schon, aber wenig von den Strukturen, nichts en detail, ist hängen gelieben.
Das ist nun nicht Ausweis neuronaler Schwäche, sondern quasi natürliche Folge der Natur der Performance. Denn dargeboten wurden ja nicht Songs, Standards oder sonstwie memorable Strukturen, sondern Frei Improvisierte Musik, mithin Formen, die es in dieser Ausgestaltung weder davor noch danach wieder gab.
Ein Spezifikum des Aufnahmeortes kommt noch hinzu: „an afternoon to record, a concert in the evening“, so beschreibt Fred Frith das typische procedere von Live Recording Sessions im Loft.
Vulgo, nicht nur das, was coram publico zu hören war, stand für das schlussendliche Audioprodukt zur Auswahl, sondern auch das dem Publikum verborgene Klangmaterial („Matter“) vom Nachmittag.
Theoretisch denkbar, dass kein einziger sound-Partikel, der uns vor Ort fasziniert hat, in diesen 40 Minuten materiell vorhanden ist.
Ganz zu schweigen von der Post-Production der beiden Aufnahmesitzungen, die in den Metadaten der Produktion als „mixed, edited and otherwise investigated“ charakterisiert wird. Sie hat in zwei weiteren Erdteilen stattgefunden: in zwei Studios in Kalifornien durch Fred Frith sowie durch Mariá Portugal in einem Studio in Brasilien.
„…directly to the heart of the matter“. Fred Frith findet in den knappen liner notes eine bezaubernde Poetik für die Paradoxien eines Montageprozesses, in dem Erinnerungen an „matter“, an Klangtexturen, auch „fast gegen den Willen (des Bearbeiters) an die Oberfläche sich kämpfen“.
Mit anderen Worten, mit den Worten des Rezipienten: vor dem Resultat dieser Tranformationen sind alle gleich; die, die da waren und die, die nun zum ersten Male damit in Kontakt kommen.
Die Konzertbesucher haben freilich einen Vorteil, sie verfügen über Erfahrung, genannt Vorfreude.
Und sie werden belohnt.
Dass sie konkrete Strukturen nicht wiedererkennen, bedeutet nicht, dass der Charakter der Performance völlig gewandelt worden wäre. Dem einzelnen Ton, dem einzelnen Klang wird weitaus mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Das ist, wenn man so will, auch ein Segen der Post-Production.
Gleich der Auftakt (der Begriff ist nicht völlig aus der Luft gegriffen, „Takte“ kommen später durchaus vor) legt nahe, das Allerweitslabel „Frei Improvisierte Musik“ noch um eine zweite Beschreibungsebene zu erweitern: Electro Acoustic Music.
Die ersten Sounds von der Gitarre ließen sich umstandslos auch im klang-ästhetischen Referenzrahmen jener Gattung verorten: punktuelle Klangereignisse, attaca gespielt, sie könnten auch in eine musique concrète Sitzung exportiert werden.
Was es dort aber gar nicht gibt, oder selten, sind dialogische Formen, wie sie sich dann vor allem in „See through Blind“ entfalten. Ab 4:15 dann sich aufschaukelnde rhythmische Figuren, zunächst durch Gitarrenakkorde, dann durch die toms und eine dunkel gestimmte snare.
Und es hört nicht auf, wird aufgebrochen, und bei 13:46 schlittert eine vokale scat-Passage in eine Blues-artige Textur mit bottleneck guitar. „diaboli in musica“, viele aus der FIM würden sich schütteln. Der Höhepunkt des Albums.
„Looking up“ schließt an mit Rock-ähnlichem, rhythmischen Flackern.
„O Tempo e sua Secura“, das Wetter und seine Trockenheit, entwickelt sich peu a peu zu einem imaginären Song, aus Klangschichtungen der Gitarre, auch mit reverse sounds, fließt schließlich in einen langsamen Rockgroove im 4/4-Takt, mit einzelnen, deutlich auf die Oberfläche tropfenden Gitarrentönen.
Der portugiesische Titel siedelt in Entfernung zur matter, die hier verhandelt wird.
Der Vocal, der sich zwischenzeitlich dazugesellt, ein textfreies Brabbeln, wirkt eher wie ein Fremdkörper.
Wir hatten aus dem Konzert an irgendeiner Stelle einen weiblichen, eher folkloristischen Vocal in Erinnerung. Oder täuschen wir uns?
erstellt: 06.11.25
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