So geht es Keith Jarrett

Ganz ehrlich, würde der Interviewer nicht umfänglich das Gespräch vorbereiten, indem er Fotos zeigt und Video-Auschnitte, schließlich neben ihm sitzt und ihn mit seinem Namen anspricht - man hätte Keith Jarrett nicht wiedererkannt.
Da ist schon physiognomisch nichts mehr von der dominanten Person, die über Jahrzehnte Konzertsäle wortwörtlich beherrschte. Auch der stimmliche Ausdruck ist deutlich beeinträchtigt.
Was er noch vermag, nach zwei Schlaganfällen 2018, das konnte man im August 2022 bei NPR erfahren (nur noch rudimentär mit der rechten Hand spielen).
Aber nachlesen und jetzt auch optisch erfahren, wie die linke Spielhand schlaff in einer Schlaufe hängt und die rechte erkennbar doch noch einiges weiß (zum Beispiel das Thema von „Desafinado“), das ist eine ganz andere Erfahrung. 
Man wird Zeuge von Restbeständen einer einst als genial gefeierten, individuellen Sensomotorik.
Und doch, Ethan Iverson, Pianist und neuer Volkspädagoge des Jazz, erkennt Mängel darin auch in Hochzeiten.
Er verlinkt zwar zum neuen Video von Rick Beato, aber zum Stichwort von Jarrett, er habe statt Quarten a la McCoy Tyner lieber „Bach-ian“, also kontrapunktisch im europäischen Sinne gespielt, kramt Iverson auf seinem Blog Transitional Technology seine alte Abrechnung wieder heraus, wonach Jarrett in puncto Bebop seine Hausaufgaben nicht gemacht habe (im Gegensatz zu Chick Corea):

„What ever it is, Bach doesn’t help. (Bud Powell would help.)“
Das klingt beckmesserisch, ist aber nicht so gemeint. Daraus kann man lernen.
Und er schließt mit einer tiefen Verbeugung: im Hinblick auf die „esoterische ´atonale und doch pulsierende´ Ästhetik - wie das erste Stück des Bordeaux-Albums - erweist sich Keith vielleicht als der Größte aller Zeiten.“

erstellt: 27.02.23
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