Wayne Shorter, 1933 - 2023

Wayne Shorter ist verstorben.
Die Jazzpolizei empfiehlt nicht eine, sondern acht Schweigeminuten.
Sie sind hörend zu verbringen.
Zum Beispiel mit dem Auftritt des Wayne Shorter Quintetts 1996 beim Montreux Festival, in der uptempo funk Version von „Over Shadow Hill Way“
(mit David Gilmore, g, Jim Beard, keyb, Alphonso Johnson, bg, Rodney Holmes, dr).
Man könnte anschließend das Album „High Life“ (1995) auflegen, zum Beispiel „On the Milky Way Express“ und „Midnight in Carlotta´s Hair“, um Kraft & Anmut ähnlich „Over Shadow Hill Way“ zu erfahren - die Vorder- und Rückseiten in den Werken eines großen Jazzkomponisten.
Und damit hätten wir noch gar nicht die ganz große Retrospektive begonnen, wären noch gar nicht bei „Footprints“, „Nefertiti“, „Infant Eyes“, „Paraphernalia“ und vielen anderen gelandet. Und die avancierten Kader bei "Live at The Plugged Nickel" (1965).
Es würden, mit anderen Worten, Schweigestunden, ja Schweigetage.
 Das Werk ist immens, es gehört zu den fruchtbarsten der Jazzgeschichte.
Der Pianist und Essayist Ben Sidran wählte einst dieses Bild: wenn Miles Davis einen Cheeseburger bestellt, dann verwandele sich dieser in einen Jazzburger: „This Man defines“.
Nicht weil er fünf Jahre bei Miles verbracht hat (1964-69), so wie vorher fünf Jahre bei Art Blakey (1959-64), träfe eine modulierte Metapher auf ihn zu.
Sondern weil Wayne Shorter über sechs Jahrzehnte geradezu idealtypisch zentrale Werte dieser Gattung verkörpert hat: finding one´s own voice, als Saxophonist, als Bandleader/Co-Bandleader (Weather Report), noch mehr als Komponist, last not least: mit einer ungeheueren Anschlußfähigkeit.
Dazu gehört, very last not least, ein modellhaftes Spätwerk: wie kaum ein anderer hat er seine Kompositionen, in Begleitung von Vertretern der nachfolgenden Generation (vulgo: John Patitucci, Danilo Perez, Brian Blade) einer fruchtbaren Revision unterzogen. 
Tonnen von YouTube-Videos (z.B. 2014 beim Jazzfest Bonn) zeugen von Entzücken & Überraschung eines älteren Herrn im Garten seiner eigenen Saaten.
Wie "ein Mönch kommender Heiterkeiten" sitzt er da und ergötzt sich gar nicht so klammheimlich daran, wie die jüngeren Kerle seine Pflanzen umtopfen (man möchte sich hier mit fiebriger Erregung die schöne Metapher borgen von Rainald Goetz (die ihm jüngst mit Blick auf ein Foto des jungen Hans Magnus Enzensberger zugeflogen ist.)
Wayne Shorter, geboren am 25. August 1933 in Newark/NJ, ist am 2. März 2023 in Los Angeles gestorben; wie aus Familienkreisen zu erfahren ist, eine „Erlösung“ für den Schwerkranken. Er wurde 89 Jahre alt.

erstellt: 02.03.23
©Michael Rüsenberg, 2023. Alle Rechte vorbehalten