„Doch es gibt auch Positives zu berichten“.
Kurz vor Schluss ihres Jahresrückblicks Jazz 2023 fährt die Autorin eine Kehre, die sich nicht zwingend aus dem bisher Gesagten ergibt.
Denn sie hat keineswegs durchgängig an der Klagemauer gestanden. Sie hat die wichtigen Verstorbenen des Jahres erwähnt (Peter Brötzmann, seinen Verleger Jost Gebers, seltsamerweise nicht Ernst-Ludwig Petrowsky).
Auch die Ausgezeichneten 2023 sind dabei (die Gebrüder Kühn, Deutscher Jazzpreis für ihr Lebenswerk; der Albert Mangelsdorff Preis an Conny Bauer - der „im Gespräch mit der Autorin“ in bemerkenswerter Bescheidenheit verlautbart, die Würdigung käme für ihn sehr spät, denn „ich habe viel für den Jazz getan“), sowie schließlich Heinz Sauer, 91 (Ehrenpreis 2023 der Deutschen Schallplattenkritik).
Irritierend dann der Übergang zum Film „Tastenarbeiter“ mit Alexander von Schlippenbach. AvS wird, korrekt, den „Gründervätern“ des deutschen Free Jazz zugeordnet, wohingegen der immerhin sechs Jahre ältere Sauer „noch nicht“ dazugehörte (?).
Sodann also Klagemauer, unter den Überschriften „Der Jazz in Deutschland ist noch immer patriachal“ und „Me too im Jazz“.
Unter ersterer lesen wir: „Die Älteren als Wegbereiter der jungen Szene würdigen, dies könnte einer der Leitsätze des Jazzjahres in Deutschland 2023 sein, auch wenn die Ehrungen in diesem Jahr ausschließlich männlichen Musikern zugutekamen“.
Ja, könnte so sein - wenn man es nicht anders formulierte und nicht berücksichtigte, dass z.B. 2025 der Albert Mangelsdorff Preis, weil paritätisch organisiert, an eine Musikerin gehen wird.
Zwar mag es „in den großen Rundfunk-Bigbands so gut wie keine Instrumentalistin“ geben, dafür aber - vor allem in der hr Big Band - zunehmend Arrangeurinnen. Und in den ARD-Jazzredaktionsstuben haben -innen inwzwischen gleichgezogen.
Die Defizit-verliebte Perspektive macht immer Eindruck („An den Musikhochschulen in Deutschland gibt es nur drei Professorinnen“, vor wenigen Jahren war es keine), während der Anteil der Jazzmusikerinnen binnen binnen 6 Jahren um 9 Prozent auf 27,3 gestiegen ist (hier unerwähnt).
Beliebte Gesprächspartnerin in diesem Kontext ist Nadin Deventer, die Leiterin des Jazzfest Berlin, von der - im Gegensatz zu manchem ihrer Vorgänger - Einlassungen zu musikalischen Fragen selten durchdringen. Sie geht jetzt „noch einen Schritt weiter“, sie tritt u.a. für das bedingungslose Grundeinkommen ein (was ihr, sollte sie davon hören, die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi ausreden wird).
Im Absatz „Me Too im Jazz“ wird die SWR2-Jazzredakteurin Julia Neupert in ihrem Bedauern zitiert, dass der Blogeintrag von Friede Merz nicht „in einem größeren Rahmen diskutiert“ wurde. Unerwähnt bleibt auch hier, dass sich dieser Fall durch einen eklatanten Mangel an belegbaren Fakten von Fällen in der Klassik oder jüngst an der Humboldt Universität unterscheidet.
Verblüffend, dass dieselbe Redakteurin dann das Aufregerthema dieser Tage so gar nicht tangiert: die drohende Reduzierung des Jazzangebotes im öffentlich-rechtlichen Radio ab Herbst 2024 (die neue Ausgabe des Jazzpodium widmet dem Thema zwei Seiten).
„Im Gespräch mit der Autorin“ glaubt sie „nicht, dass dies ein Thema der näheren Zukunft sei und auch nicht sinnvoll“. Voila.
Das Positive, das die Autorin schließlich zu berichten weiss, ist, neben der Nennung einiger weniger aus einer „Vielzahl spannender Veröffentlichungen“, die erstmalige Verleihung des Christian Broecking Award for Arts Education anlässlich des Enjoy Jazz Festivals 2023. Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert und soll „Forscher- und Künstler*innen für gesellschaftliche Relevanz“ auszeichnen.
Erste Preisträgerin ist Terri Lyne Carrington „für die Arbeit ihres Institutes für Jazz und Gender-Gerechtigkeit in Boston“.
Nun klingt ein solcher Preis zunächst einmal nach einer guten Idee.
Keine gute Idee aber, dass die Autorin Maxi Broecking, die Ehefrau des verstorbenen Namensgebers, mit der Nachricht darüber ihren Jahresreport 2023 abrundet.
Abgesehen davon, dass er gegenüber dem benachbarten Jahresrückblick Klassik krass abfällt - er erscheint eben nicht auf X, auf Insta oder sonstigem Tic Tac Toe, sondern auf der Webseite des Goethe Institutes.
Ein solches Gschmäckle, ja ein solches Dokument der Einfalt verwundert dort sehr.
erstellt: 15.01.24
©Michael Rüsenberg, 2024. Alle Rechte vorbehalten