ANTISTATIC Relics *******

01. Angels Vs. Peasants /suite, 02. Flag , 03. Rivulet, 04. Loading…, 05. H/G , 06. Hive I , 07. Relics , 08. Dronte , 09. Hive II

Laust Moltesen - g, Andreassen Mads Ulrich - g, Janus Bagh - bg, Søren Hø - dr

rec. 11.-13.08.23
Cuneiform Rune 523

Achtung, Achtung. Dieses Album ist rein gar Nichts für alle, die sich von Musik die Übermittlung oder das Auslösen von Emotionen erwarten, geschweige denn die heute oft nachgefragten „großen Gefühle“.
Es kann kann großes Unwohlsein, ja schroffe Ablehnung hervorrufen. Für Risiken und Lebenwirkungen fragen sie bitte nach den klinischen Berichten über die Bewußtseinsveränderungen, ausgelöst durch Steve Reich oder Dawn Of Midi.
(Auf Youtube tauchen auch Assoziationen an Can oder Nik Bärtsch auf. Ersteres sehr, sehr entfernt, allenfalls in Partikeln. Letzteres insofern verwandt, als auch dort die permanente Wiederholung gefeiert wird. Man könnte in diesem Sinne auch an King Crimson der "Beat"-Zeit denken.)
„Für mich ist es eine Art Meditation, all diese Teile und Rhythmen physisch zu wiederholen, anstatt Looper oder andere Maschinen zu benutzen“, wird Mads Ulrich zitiert, einer der beiden Gitarristen aus diesem dänischen Quartett.
Mit anderen Worten, keine Maschinen, alles Handgemacht, wenig improvisiert, das Meiste festgelegt, komponiert, aber in Abwesenheit von Notenblättern realisiert, wie sich auf Youtube-Videos nachverfolgen lässt.
„Es ist, als ob Antistatic eine Rockband sei, die in ein Perkussionsensemble umfunktioniert wurde, eine Beobachtung, die die Musiker gerne akzeptieren“, schreibt das Label.
Und die Musiker ergänzen dies mit den Worten:
„Wir sehen von uns als eine Art umgedrehtes Rockquartett, bei dem die Saiteninstrumente plötzlich perkussiv sind und das Schlagzeug mit Feedback singt usw."
cover Antistatic relics   1Ja, der Werbetext des Labels ist ausnahmsweise recht sachorientiert, unter Ausblendung fast aller Daten, die gern einer jeden Rezeption vorgeschaltet werden, nämlich Angaben zur Person.
Wir wissen so gut wie nichts über diese offenkundig jungen Männer aus Dänemark. Wir können uns aber kaum vorstellen, dass die Strenge der Konzeption von „Relics“ - dem Titel zum Trotz - aus Relikten informeller Sessions erwachsen ist.
Diese Strenge hat durchaus etwas Strategisches, und zwar in dem Sinne, dass viele Varianten der Grundform duchdekliniert werden - auch wenn ihr sinnlich-appelativer Charakter darunter leidet.
Und das eine oder andere Stück noch in einem vorläufigen Charakter an die Öffentlichkeit dringt.
Die Stücke gehorchen meist einer Suitenform, viel lieber möchte man aber jeweils von einer Abfolge von Blöcken sprechen. Blöcke versprechen Kontraste, sie sollen überraschen - mitunter geht das aber auf Kosten der Form.
Nicht selten fragt man sich: warum folgt denn nun dieses auf jenes?
Bis zur Hälfte hin geht das hier gut, oft auch sehr gut.
Man staunt über die polyrhythmischen, „kalten“ Grooves, die offbeat verschalteten Linien, das unglaublich präzise Interplay, den vielfältigen Einsatz von glockenhaften Flageolett-Klängen („Loading…“).
„H/G!“ bringt vieles davon in nur eineinhalb Minuten auf den Punkt.
Dann folgt mit „Hive I“ und dem Titelstück eine Art Mittelachse.
Beide Stücke beginnen mit gedämpften Gitarrensounds in einem verwandten Minimal-Motiv, „Hive I“ lässt noch einen abstrahierten offbeat erkennen, der bei „Relics“ weitgehend ausbleibt. Das Stück erschöpft sich in Reihungen, deren Abfolge rätselhaft bleibt.
„Dronte“ dann eröffnet über einem gebrochenen Groove erstmals (Hall)Räume. Hier wird ein großer Bogen gezeichnet, „Dronte“ endet, gewissermaßen Form-vollendet, mit einem „richtigen“ Schluss.
„Hive II“ schließlich rekurriert vom Groove her deutlich auf „Hive I“, transportiert aber keinerlei piccicato-Klänge mehr, sondern „kalte“ Rhythmusgitarren, die entfernt an amerikanischen Gitarrenlärm a la Glen Branca erinnern.
Und last not least die Genrefrage. Dies ist kein Jazz, auch kein Jazzrock, möglicherweise bietet sich auch der Begriff Postrock an.
Seiner eminent künstlerischen Ambition wegen aber sollte immer noch Art Rock  diese Produktion am trefflichsten charakterisieren.


erstellt: 01.02.24
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